Bruchstucke des steinernen Bruckengelanders, aber sie waren uberzeugt, eine bedeutende Entdeckung gemacht zu haben, welche die Altertumswissenschaft revolutionieren wurde. Tobias grubelte noch tagelang daruber nach, wie sie nur die gro?en Brocken aus dem See bergen konnten.

Es war wieder eine dieser Weihnachtsschulstunden, in der Kusch einen Film mit dem vielversprechenden Titel Reise in die Urwelt zeigte. Sie waren vollig aus dem Hauschen.

Eine Reise in die Urwelt!

Da? sie darauf noch nicht gekommen waren! Dagegen waren ja die Pferdeknochen auf ihrem Trummergelande geradezu Pipifax.

Und diese Tiere! Naturlich ganz besonders die Saurier! Nie wurde er den Kampf zwischen dem riesigen Tyrannosaurus mit seinem fruchtbaren Gebi? und dem armen Stegosaurus vergessen. Den in Knochenaxten endenden Schwanz hatte er dem ubermachtig scheinenden Angreifer in die Eingeweide gerammt, ihn sogar in die Flucht geschlagen und war doch qualvoll an seinen furchtbaren Wunden zugrunde gegangen. Der Kampf der Giganten. Die Drachen in der Luft. Die riesigen Fleischberge in den Sumpfen. Aber auch die Sabelzahntiger, die Mammuts, die Riesenlibellen. All das sollte es auf diesem Planeten wirklich gegeben haben? Es war unglaublich, unfa?bar.

Wahrend Micha nur hingerissen, fasziniert und begeistert war, reagierte Tobias zunachst wie geschockt, redete in der Schule kein Wort mit ihm und mied regelrecht seine Gegenwart. Spater auf dem Heimweg verfiel er aber in eine Begeisterung, die alles, was Micha bisher bei ihm erlebt hatte, in den Schatten stellte.

»Wir mussen unbedingt diese Hohle finden«, sagte Tobias ein paar Tage spater.

»So’n Quatsch! Das is irgend ne Hohle.«

»Nein, das ist ne besondere Hohle. Durch diese Hohle gelangt man in die Urwelt. Die vier Jungs im Film haben es doch gezeigt.«

»Du spinnst ja!«

So verliefen danach noch viele Diskussionen. Tobias behauptete irgend etwas, das der Film gezeigt hatte, Micha widersprach vehement, und Tobias schuttelte verstandnislos den Kopf, wie er so etwas nur abstreiten konne, wo es doch im Film zu sehen war, von den Filmkameras eingefangen. Immer wieder dasselbe, es war zum Haare raufen.

Auseinandersetzungen dieser Art lie?en ihre Freundschaft etwas ab kuhlen. Er argerte sich uber Tobias, uber seine verbohrte Naivitat, und ging ihm fur einige Zeit aus dem Weg. In diesem Fall war er nicht bereit, Tobias’ Hirngespinsten zu folgen. Es war ein Spielfilm, nichts weiter. Er konnte einfach nicht nachvollziehen, warum Tobias ausgerechnet diesen Streifen so ernst nahm. Gorgo, Das Ungeheuer von Loch Ness, Die Reise zum Mittelpunkt der Erde oder Godzilla hatten doch auch nicht diese Wirkung gehabt.

Nach zwei, drei Wochen begann Micha, seinen Freund zu vermissen. Ihm fehlten die Anregungen, die scheinbar unerschopflichen Phantasie, die ihn aus seinem Phlegma rei?en konnte. Er langweilte sich, wu?te nichts mit seiner Zeit anzufangen. Als er dann wieder auf Tobias zuging, tat dieser so, als ware nichts geschehen. Ohne zu zogern hie? er ihn in seiner Welt willkommen, und Micha atmete erleichtert auf.

Dieser rasche Wechsel oder vielmehr dieses Durcheinander von Faszination und Mitleid, Begeisterung und Enttauschung war fur seine Beziehung zu Tobias charakteristisch gewesen. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr so sicher, ob dieses Mitleid nicht zu einem betrachtlichen Ausma? auch ihm selber gegolten hatte, wenn er sich ein Leben ohne den Freund vorstellte. Er brauchte ihn damals, und wenn auch nur, um sich wenigstens hin und wieder jemandem uberlegen zu fuhlen.

Eines Tages erzahlte ihm Tobias, sein Vater dachte daruber nach, Berlin zu verlassen, um irgendwo in Westdeutschland eine neue Arbeit anzunehmen. Er erzahlte das so, als ob alles noch ganz unklar sei und erst in ein paar Jahren akut werden konne, jedenfalls hatte diese Au?erung kaum Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht hatte er sich auch einfach nicht vorstellen konnen, da? man Tobias und ihn so einfach mir nichts, dir nichts auseinanderrei?en konnte.

Um so uberraschter war er dann, als er keine zwei Wochen spater einen Anruf bekam. Seine Mutter war an den Apparat gegangen und hielt ihm nach einer Weile mit gekrauselter Stirn den Horer hin. Am anderen Ende der Leitung war ein vollig aufgeloster Tobias, der ununterbrochen weinte und schluchzte, so da? er ihn kaum verstehen konnte. Aber eines wurde ihm klar: Tobias war mit seinen Eltern nach Stuttgart umgezogen und wollte ihm Lebewohl sagen. Dann wurde das Gesprach abrupt unterbrochen.

Dieser Anruf war das letzte, was er von Tobias gehort hatte. Bis jetzt.

Axt war das Wochenende uber allein zu Hause. Marlis war mit Stefan zu ihren Eltern nach Berlin gefahren. Der Junge war ganz vernarrt in seine Gro?eltern und hatte schon tagelang von nichts anderem mehr geredet. Sie gingen mit ihm in den Zoo, in den Zirkus oder ins Kino, alles Aktivitaten, zu denen sein chronisch uberarbeiteter Vater nur mit Muhe zu bewegen war. Na ja, in ein paar Tagen fuhren sie fur zwei Wochen nach Danemark, in ein Ferienhaus. Vielleicht konnte er im Urlaub wieder etwas gutmachen.

Er sa? im Wohnzimmer und blatterte in der Tageszeitung, aber mit seinen Gedanken war er im Praparationsraum der Senckenberg-Station und bei dem Schieferblock, den sie gestern geborgen hatten. Er war so unruhig, da? er sich kaum auf die Zeitung konzentrieren konnte. Irgendwann sprang er auf, warf die Zeitung auf den Glastisch, holte seine Jacke und verlie? das Haus. Teufel noch mal, er hatte sich zwar vorgenommen, am Wochenende nicht zu arbeiten, aber dieses ungewohnlich gro?e Fundstuck lie? ihm einfach keine Ruhe. Er mu?te wissen, was sie da gefunden hatten. Er konnte nicht langer warten, nicht eine Minute.

Der Rolltisch mit dem Schieferquader stand mitten im Praparationsraum der Station, noch immer dick verpackt. Hier wirkte er noch gro?er als unten in der Grube. Axt kochte sich einen Kaffee und entfernte dann vorsichtig die Plastikfolie, das feuchte Zeitungspapier und den Holzrahmen. Bedeckt von einer dicken Schicht Polyurethanschaum sah der Gesteinsblock aus wie ein rekordverdachtiges Tortenstuck.

Er machte sich daran, den Schieferquader mit Hilfe einer Sage vorsichtig zu stutzen. Von allen Seiten trennte er Scheibchen fur Scheibchen in muhevoller, zeitraubender Feinarbeit, zuerst so lange, bis der Tisch durch die Tur des Rontgenraumes pa?te und dann nur noch am Fu?- und Kopfende, damit das Objekt sich unter das Gerat schieben lie?. Glucklicherweise stie? er bei dieser heiklen Arbeit auf keine Spuren des im Quader eingeschlossenen Fossils. Sie hatten beim Heraustrennen des Schieferblocks genugend Spielraum gelassen.

Als er das erste Mal auf die Uhr schaute, war es halb elf abends. Sollte er den Fund jetzt noch anschauen? Bis er alles aufgeraumt und zusammengepackt hatte, wurde es halb zwolf sein, und er ware nicht vor Mitternacht zu Hause. Er hatte den ganzen Tag uber nichts gegessen und fuhlte sich mude und abgespannt, nicht ganz in der Verfassung fur einen so grandiosen Moment. Durch die stundenlange ruhige Arbeit hatte sich seine Aufregung etwas gelegt, und er konnte nun auch noch bis morgen warten. Es war ein gutes, befriedigendes Gefuhl, sich diesen spannendsten aller Vorgange aufzuheben, wie die Lieblingspraline, die man als letzte in der Packung zuruckbehielt, um sie in einem besonders genu?vollen Moment zu verspeisen.

Er befeuchtete den Schieferblock noch einmal grundlich von allen Seiten und wollte gerade wieder die Plastikfolie herumwickeln, als ihn plotzlich eine derart brennende Neugier uberkam, da? er sich nicht mehr beherrschen konnte. Er kicherte in der nachtlichen Stille der verlassenen Station vor sich hin und schob den Tisch mit dem Schieferblock unter das Rontgengerat. Anschlie?end lief er hinuber in den kleinen Nebenraum, in dem sich der Schirm befand.

»So, jetzt der gro?e Moment«, sagte er zu sich selbst, geno? es aber, den Augenblick noch etwas langer herauszuzogern.

Es waren noch ein paar Handgriffe notig, bis ein einigerma?en scharfes Bild auf dem Schirm erschien, im ersten Moment nur ein undurchschaubares Gewirr von Knochen.

Das Bild traf ihn wie ein Blitzschlag. Axt wu?te sofort, was er da sah, obwohl alles in ihm sich gegen diese Erkenntnis straubte. Er hielt die Luft an. Sein Mund stand offen.

Himmelherrgott, das, was er da sah, war absolut unmoglich.

Oder die gro?te wissenschaftliche Sensation des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihm wurde hei?. Er spurte, wie sich jedes einzelne Haar an seinem Korper selbstandig machte.

Durch die Tur horte er plotzlich leise Gerausche aus dem Praparationsraum, ein Rascheln, Wispern. War da jemand? Er fuhr herum, sprang auf, aber da war nichts, nur die herumliegende Folie und Stapel feuchten Papiers.

Er lief zuruck zum Rontgenschirm, drehte in sinnlosem Aktionismus an ein paar Knopfen herum und starrte entgeistert auf das, was in dem Schieferquader zu stecken schien. Aufkeimende Wut bildete einen bitteren

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