Geschmack auf seiner Zunge, Wut und Enttauschung. Nach dem langen, fast einwochigen Vorspiel, den vielen Stunden, die er heute daran gearbeitet hatte, der kaum zu bandigenden Vorfreude, war dieser Anblick fast unertraglich.
Der Schadel war zerborsten und plattgedruckt, aber der Unterkiefer schien vollig intakt zu sein. Einige Rippen waren ebenfalls gebrochen.
Jetzt fielen ihm weitere Details auf. Die Elle des linken Armes war ein paar Zentimeter unterhalb des Ellenbogengelenks gebrochen und nur schlecht wieder zusammengewachsen. Mu?te ziemlich schmerzhaft gewesen sein, das sah nach einem komplizierten Bruch aus.
Dann, was war das? Dieser runde dunkle Schatten am Handgelenk? Und da, diese Stellen an einigen Backenzahnen.
Als habe er gerade ein Gespenst gesehen, schaltete er erschrocken das Gerat ab. Vollig verwirrt fuhr er sich durch die Haare.
Wer hatte ihm nur dieses faule Ei ins Nest gelegt? Da hatte er gedacht, er stande kurz vor der gro?ten Entdeckung seines Lebens und dann so etwas. Das konnte doch nur ein Witz sein.
Er schaltete den Schirm wieder an und rieb sich die Augen, um sich anschlie?end zu vergewissern, da? er nicht halluziniert hatte. Nein, er hatte ganz richtig gesehen. Das war absurd! Absolut unbegreiflich! Jetzt hammerte er mit der Faust auf den Schalter des Rontgengerates ein, schob seinen Stuhl so energisch nach hinten, da? der laut polternd umfiel, sturzte aus dem Raum.
In seinem Arbeitszimmer go? Axt sich erst einmal einen doppelten Whisky ein und sturzte ihn in einem Zug hinunter. Womit hatte er das verdient? Plotzlich zweifelte er wieder und wollte schon hinausrennen, um nochmals auf den Rontgenschirm zu schauen. Dann hielt er inne. Er hatte doch nicht gesponnen. War er gerade dabei, den Verstand zu verlieren?
Er war zwar kein Experte auf diesem Gebiet, aber diese charakteristische Anordnung von Knochen hatte jedes Kind erkannt. Es konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. In dem funfzig Millionen Jahre alten Messeler Olschieferblock steckte ein vollstandiges menschliches Skelett, das Skelett eines
Plotzlich war er todmude, stutzte seinen Kopf auf und rieb sich die Schlafen. Er mu?te sofort nach Hause, schlafen, nur noch schlafen. Morgen wurde er zuruckkommen und aufraumen. Jetzt konnte er einfach alles so lassen, wie es war.
Muhsam erhob er sich, schaltete uberall das Licht aus und wollte das Haus verlassen. Dann drehte er sich noch einmal um, holte die Plastikplane aus dem Praparationsraum und bedeckte damit den unter dem Rontgengerat liegenden Schieferblock. Plotzlich empfand er so etwas wie Ekel, als er das kalte Gestein beruhrte.
Wie in Trance fuhr er die vertraute Strecke zu ihrem Reihenhaus zuruck. Sein Kopf war hohl, die Gedanken wie gelahmt. In seiner Abwesenheit hatte seine Frau angerufen und ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, wie ublich im Telegrammstil. »Komme morgen gegen acht. Ku?, Marlis.« Sie ha?te diese Maschinen. Au?erdem hatte sie es wahrscheinlich seltsam gefunden, da? er am Samstag abend nicht zu Hause sa? und das Sportstudio schaute. Hatte ihre Stimme nicht irgendwie seltsam geklungen? Er horte sich die Nachricht noch dreimal an, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Was sollte er ihr sagen? Er konnte doch unmoglich ...
Aber daruber mu?te er jetzt nicht nachdenken. Eins nach dem anderen. Zunachst einmal wurde er sich ausruhen. Bis morgen um acht. Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Aber er durfte auf keinen Fall vergessen, sie zuruckzurufen, am besten gleich nach dem Fruhstuck. Jetzt wollte er nur noch die Augen schlie?en und schlafen.
Leider hatte sich am nachsten Morgen nichts geandert. Er hatte eine scheu?liche Nacht hinter sich, in der Station sah es aus wie nach einer wusten Silvesterparty, und das Skelett im Schiefer grinste ihn vom Rontgenschirm mit seinem blassen Totenschadel an, als sei es einem schlechten Horrorstreifen entsprungen.
Fieberhaft uberlegte er, was er nun tun sollte. Zunachst rannte er nur planlos umher, faltete hier ein Blatt Zeitungspapier, kehrte dort etwas von den Schieferbruchstucken zusammen, die er gestern abgesagt hatte, aber dann zwang er sich, an seinem Schreibtisch eine Tasse Kaffee zu trinken und dabei in Ruhe nachzudenken.
Trotz des Chaos in seinem Kopf wurde ihm ziemlich schnell klar, da? niemand von seiner Entdeckung erfahren durfte. Nicht auszudenken, was geschehen wurde, wenn die Offentlichkeit davon Wind bekam. Er sah die Schlagzeilen schon vor sich:
Was fur ein Gluck, da? er sich allein an die Arbeit gemacht hatte. Wenn er bis Montag gewartet hatte, hatten es alle gesehen, Sabine, Kaiser, Lehmke, alle. Keiner hatte den gro?en Moment versaumen wollen.
Plotzlich wu?te er, was er zu tun hatte. Er wurde ganz einfach die Wahrheit erzahlen, bis auf ein winziges kleines Detail die Wahrheit: da? er allein in die Station gefahren sei, da? er den Quader zurechtgestutzt und unter das Rontgengerat geschoben hatte und - welch eine Enttauschung - da? es nur ein ziemlich schlecht erhaltenes Krokodil sei, wie sie sie schon stapelweise im Keller hatten. Naturlich wurden sie murren, aber schlie?lich war er der Chef, und sie konnten froh sein, da? er ihnen diese Enttauschung erspart hatte. Alles war ganz einfach, und niemand wurde auf die Idee kommen, seine Worte anzuzweifeln. Er mu?te den Quader nur wieder sauberlich verpacken und in den Keller schaffen. Von dort wurde ihn so bald niemand wieder hochholen. Sie hatten alle zuviel zu tun, um sich mit halb verrotteten Fossilien abzugeben. Zumindest hatte er auf diese Weise Zeit gewonnen, um in Ruhe sein weiteres Vorgehen zu uberlegen.
Er arbeitete fast den ganzen Sonntag, bis alles aufgeraumt und der Schieferblock unten im Lagerraum verstaut war. Leider konnte er sich nicht beherrschen und mu?te noch einen kurzen Blick auf das Skelett werfen, bevor er es in den Lastenaufzug schob. Dieser eine kurze Blick auf den
Das Ganze kam Axt wie ein personlicher Affront vor, wie der hintergrundige Scherz eines pathologischen Fossilienhassers, der sich auf diese Weise an der ganzen Zunft rachen wollte. Ein
Selbst ein Dinosaurierfund ware in Messel weniger absurd gewesen, obwohl deren Uhr doch schon funfzehn Millionen Jahre vor der Messeler Zeit abgelaufen war, ganz abgesehen davon, wie begeistert sein Sohn daruber ware. Aber Menschen oder auch nur etwas entfernt Menschenahnliches waren zu Messeler Zeiten noch weit entfernt. Die fruhesten Hominiden, die man bisher gefunden hatte, der von Donald Johanson in Athiopien entdeckte
Und erst vor wenigen Wochen hatte er noch nichts ahnend vor dem Schaufenster eines Buchladens gestanden und sich uber eine der ausliegenden Neuerscheinungen amusiert, die eindeutige Beweise fur eine andere, schon vor 65 Millionen Jahren existierende Menschheit zu prasentieren versprach. Diese Menschen waren somit Zeugen des Unterganges der Dinosaurier gewesen. Irgendeiner dieser Danikens oder Buttlars, oder wie sie alle hie?en, hatte wieder zugeschlagen. Und jetzt das!
Womoglich war es nur das Rontgengerat, das verruckt spielte und seltsame Bilder auf seinen Schirm projizierte. Ware ja nicht das erste Mal, da? technische Gerate ein Eigenleben entwickelten, so wie der Computer Hal in Kubricks
Vielleicht war es auch eine Art Au?erirdischer, fiel ihm ein. Aber so menschenahnlich? Kaum vorstellbar. Jetzt fing er schon an herumzuphantasieren wie ein pubertierender Schuljunge. Nein, dieses Ding in dem Schieferblock war einfach lacherlich. Nur schade, da? er nicht daruber lachen konnte.
Mitten in der Arbeit fiel ihm plotzlich siedendhei? ein, da? er seine Frau noch nicht angerufen hatte.