Kneipenbesucher. Eine bunte Kreuzberger Szenemischung, viele in Schwarz, mit Lederhosen und schweren Lederjacken, Flickenjeans, glanzenden Ohrringen, ein Madchen mit kunstvoll geflochtenen und perlenverzierten Afrolocken, ein anderes mit Ringen in der Oberlippe und gelben Inseln im blauen Haar, das aussah, als stande es kurz vor einem Heulkrampf, zwei Rastas mit Augenlidern auf Halbmast, die sich gerade Zigaretten drehten und ihre Oberkorper im Rhythmus der Salsamusik wiegten, die aus kleinen Lautsprechern oben an der Decke kam.

»Was ist das eigentlich fur ein Ding in deinem Zahn da?« fragte Micha und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schneidezahne.

»Ach das«, Tobias grinste, damit der ganze Laden zu sehen bekam, was er zu bieten hatte. »Is ‘n Diamant.«

»Ein Diamant?«

»Nich, was du denkst. Nur so ‘n billiges Industrieteil. Hat mich im ubrigen keinen Pfennig gekostet.«

»Ach so, na ja dann.« Micha lachte und zundete sich eine Zigarette an. Er hatte es gewu?t, der Kerl hatte nicht alle Tassen im Schrank. »Und wer hat dich auf diese selten damliche Idee gebracht?«

»Das war so ne Wette.«

»Ne Wette?«

Tobias fletschte die Zahne und prasentierte das Ding in seinem Mund. Es sah aus wie ein Parasit, nur ein, zwei Millimeter gro?, eine Art Zahnzecke, die sich dort eingenistet hatte.

»Ja, das war auf ner Party. Ich wei? eigentlich selber nicht mehr, wie ich mich dahin verirrt habe. Mu? ungefahr ein halbes Jahr her sein.«

»Also schon in Berlin?«

»Ja, naturlich. In Stuttgart kommt keiner auf so ne Idee. Jedenfalls war da so ein Yuppie, Arztsohn aus Zehlendorf oder so was, mit Golfcabriolet und Kaschmirschal, du verstehst, mit allem Drum und Dran, rauchte Zigarillos. Jedenfalls glaubte der, sich mit mir anlegen zu mussen, und meinte, meine Zahne seien ja so wunderschon, da wurde eigentlich nur noch ein Diamant fehlen, gewisserma?en als Kronung, vorne, mitten im Schneidezahn, da, wo ihn jeder sehen konnte.«

Micha brach in schallendes Gelachter aus.

»An jedem Arm hatte der ne alberne Tussi«, Tobias mu?te ebenfalls lachen, »und er meinte wohl, er sei was ganz Tolles. Jedenfalls blieb ich ganz cool und sagte, das sei eine ganz hervorragende Idee, und fragte, wo man denn so ein Ding her bekame. Er konnte mir eins einsetzen, meinte er, und seine beiden Ganse machten sich fast in die Hose vor Lachen. Zufallig sei er Zahnarzt und habe eine eigene Praxis unten in Steglitz. Na ja, und dann habe ich ihn festgenagelt, verstehst du, von wegen leere Versprechungen, alles Angeberei und so. Hab ihn richtig in die Enge getrieben, bis ihm nichts mehr weiter ubrigblieb, als sich mit mir und den beiden gackernden Schnallen in sein Cabrio zu zwangen, mich auf seinen schnieken, funkelnagelneuen Behandlungsstuhl zu setzen und mir das Ding einzusetzen. Er hatte eine ganze Kollektion davon da, und ich hab mir den gro?ten ausgesucht. Wie gesagt, hat mich keinen Pfennig gekostet.«

»Na gro?artig!« lachte Micha. Das mit dem Geld schien ihm ja besonders wichtig zu sein.

»Dann sind wir wieder zuruck auf die Party gefahren. Der Typ war schon kleinlaut danach, das kann ich dir sagen. Ich hab mich vollaufen lassen, um den Schmerz zu betauben. Hat tierisch weh getan.«

»Kann ich mir denken. Ich find’s ubrigens pottha?lich.«

»Geschmackssache.« Er grinste, machte mit den Lippen ein schmatzendes Gerausch und spielte mit seiner Zunge an dem Fremdkorper herum.

Etwa ein Bier und eine halbe Stunde spater - sie waren beide mittlerweile recht betrunken - stand Tobias plotzlich auf und sagte, er musse mal auf die Toilette und danach jemanden anrufen.

»Hier«, sagte er und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch, die er irgendwie aus seiner Jackentasche hervorgezaubert hatte. »Kannst dir ja damit die Zeit vertreiben.«

»Von deiner Reise?«

»Hmm.« Er nickte. »Bin gleich wieder da.«

Micha zundete sich eine Zigarette an, nahm die Fotografien und blatterte sie langsam durch. Es waren ganz normale langweilige Urlaubsfotos, die Gebirgslandschaften, Walder und armliche Dorfer zeigten. In Gedanken war er allerdings ganz woanders, denn er mu?te permanent daruber nachdenken, ob er sich wirklich so getauscht haben konnte. Vielleicht hatte er ja etwas ubersehen. Entweder dieser Kafer war ein normales Reisemitbringsel, wie Tobias es behauptete, dann war sein Verhalten normal und verstandlich, und er hatte einen Fehler gemacht.

Oder sein Verdacht stimmte, und es handelte sich um einen Scherz, ein Spiel. In diesen Fall war das Verhalten seines Freundes allerdings einigerma?en ratselhaft. Wenn es ein Scherz war, wann wollte Tobias daruber lachen, wann ihn aufklaren, wenn nicht jetzt? Vielleicht hielt er ihn auch fur einen kompletten Idioten, weil er darauf reingefallen war.

Mehr oder weniger interessiert betrachtete er weiter die Fotografien und legte ein Bild nach dem anderen auf die Tischplatte. Plotzlich hielt er ein Foto in der Hand, das eine gro?e Hohle direkt an einem Seeufer zeigte, im Hintergrund von Bergriesen uberragt, auf deren Gipfeln noch Schnee lag. Auch die nachsten beiden Bilder zeigten eine Hochgebirgslandschaft, die er nicht in der Slowakei vermutet hatte.

Erstaunlich, dachte er nur, bis er ein paar Fotos weiter eine noch gro?ere Uberraschung vorfand. Statt der alpinen Landschaften oder dem eisigen Hochgebirge zeigten die beiden letzten Bilder einen uppigen, ganz offensichtlich tropischen Wald. Die Aufnahmen waren nicht besonders gut, aber man konnte deutlich einige Palmen und andere exotische Gewachse erkennen, die das Ufer eines Sees saumten.

Er spurte ein merkwurdiges Kribbeln im Rucken. Was sollte dieses Theater? Was versprach Tobias sich davon? Diese letzten Bilder stammten nun mit hundertprozentiger Sicherheit nicht aus der Slowakei, ja, nicht einmal aus Mitteleuropa. Er konnte sich dieses alberne Verhalten nicht erklaren, und er wurde von Minute zu Minute argerlicher. Er beschlo?, diesen Quatsch mit keiner Silbe zu wurdigen und statt dessen moglichst bald nach Hause zu gehen.

Trotz des Argers auf Tobias warf er noch einen Blick auf die mysteriosen Aufnahmen und schuttelte unglaubig den Kopf. Einen kurzen Moment lang dachte er, da? Tobias vielleicht nur ein paar Fotos einer fruheren Reise dazwischengerutscht waren, ohne da? er es gemerkt hatte. So etwas passierte ja manchmal, wenn man in Eile war. Die Farben der letzten beiden Fotos wirkten irgendwie anders, blasser als die der anderen.

»Na, wie findest du die Bilder? Ganz schon, ne?« Tobias war zuruckgekehrt und hockte sich wieder auf seinen Stuhl.

»Ja, ja«, murmelte Micha, ohne ihn anzusehen. »Sehr abwechslungsreiche Landschaft.«

»Erstaunlich, nicht?« Er schaute ihn ernst an, und eine Weile erwiderte Micha den Blick, bis ihn seine Verwirrung zwang wegzuschauen. Was war hier los? War er schon so betrunken?

»Ich mu? nach Hause«, sagte er. »Bin ganz schon abgefullt.«

»Okay«, kicherte Tobias. »Mir geht’s ahnlich. La? uns telefonieren!«

Schmaler

Axt ging es hundsmiserabel. Da? er gerade zwei Wochen Urlaub hinter sich hatte, schien vollig spurlos an ihm vorubergegangen zu sein. Im Gegenteil! Diese ganze groteske Situation und die permanente Angst, jemand aus der Station wurde auf die Idee kommen, sich das Skelett anzusehen, hatten ihn derart zermurbt, da? ihn auch ein halbjahriger Kuraufenthalt kaum wieder aufgerichtet hatte. Er stritt sich wegen nichts und wieder nichts mit Sabine und den anderen Mitarbeitern herum, und auch zu Hause lief es nicht viel besser. Marlis hatte mitbekommen, da? er deutlich mehr trank. Als sie ihn darauf ansprach, war er hochgegangen wie eine Rakete, so da? sie ihn nur entsetzt angeschaut hatte und ohne ein Wort in ihrem Zimmer verschwunden war.

So ging es nicht weiter. Er mu?te mit jemandem reden, mu?te dieses Wissen mit einer Person seines Vertrauens teilen. Alleine schaffte er das nicht, da hatte er sich etwas vorgemacht. Vielleicht sollte er Schmaler anrufen?

Prof. Dr. Gernot Schmaler war der Leiter der Saugetierabteilung im Frankfurter Senckenberg-Museum und in dieser Eigenschaft auch fur die Au?enstation an der Grube Messel zustandig. Zudem war er nicht nur wegen seiner Haarfarbe so etwas wie die graue Eminenz ihres Fachgebiets und Axts unermudlicher Forderer und Mentor gewesen. Ja, Schmaler konnte der Richtige sein. Ihr Kontakt war in letzter Zeit zwar ein bi?chen eingeschlafen, weil sie beide so beschaftigt waren, aber sie kannten sich schlie?lich schon seit uber zehn Jahren. Au?erdem war er ja sein direkter Vorgesetzter, war sozusagen verantwortlich fur das, was in und mit der Grube passierte. Er

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату