Verdammt, jetzt war sie bestimmt sauer. Er hatte es sich doch fest vorgenommen. Dieses ganze Theater brachte ihn um den letzten Nerv.
Fieberhaft versuchte er, sich eine Erklarung fur seine gestrige Abwesenheit zurechtzulegen, und warum er nicht gleich heute fruh zuruckgerufen hatte. Die Geschichte von dem alten Schulfreund, der uberraschend angerufen und ihn nach Frankfurt eingeladen hatte, erschien ihm am vielversprechendsten. Mit gemischten Gefuhlen griff er zum Telefonhorer.
Schon nach wenigen Satzen seiner Frau wurde ihm klar, da? er sich ganz umsonst Sorgen gemacht hatte. Sie war bestens gelaunt, schwarmte von einem wunderbaren langen Sonntagsspaziergang, den sie zusammen mit Stefan und ihren Eltern unternommen hatte, die Havel entlang, da, wo sie auch schon mal mit ihm gewesen war. Er wisse schon, was sie meine. Axt kam kaum zu Wort, war allerdings auch ganz froh, wenn er nicht selber reden mu?te. Was hatte er schon sagen sollen? Da? er in der Grube einen
Es interessierte sie gar nicht, wo er gestern gewesen war, jedenfalls fragte sie nicht danach, sondern erzahlte voller Begeisterung, was sie in den nachsten Tagen zu Hause alles vorhatte und wen sie treffen wollte.
Nach dem Gesprach war er deprimiert. Marlis fuhlte sich pudelwohl in Berlin und vermi?te ihn nicht im geringsten. Manchmal war er wohl ein ziemlich oder Typ, dachte er, langweilig, nur auf seine Arbeit fixiert, stur, tot wie seine Fossilien, ode eben. Und Marlis war eine lebenslustige Frau.
Bestimmt langweilte sie sich an seiner Seite. Und Stefan vernachlassigte er auch. Er nahm sich vor, sich im Urlaub von seiner besten Seite zu zeigen, obwohl ihm bei dem Gedanken, ausgerechnet jetzt der Station den Rucken zu kehren, ganz und gar nicht wohl war. Was, wenn doch jemand auf die Idee kam, sich dieses angeblich so schlecht erhaltene Krokodil naher anzuschauen? Au?erdem, wie sollte er liebevoller Vater und Ehemann sein, wenn da gleichzeitig dieses unmogliche Skelett durch seinen Kopf geisterte?
Dann fiel ihm ein, da? er morgen in der Station wieder an der Kellertur vorbeikommen wurde. Jedesmal, wenn er in den Rontgenraum oder auf die Toilette ging, mu?te er an der Tur vorbei, hinter der dieses schreckliche Skelett lag.
Ach, es war einfach nicht zum Aushalten. Nie und nimmer ware ihm in den Sinn gekommen, da? er ein Fossil so hassen konnte. Schlie?lich war er Palaontologe.
2
Anfang September klingelte bei Micha das Telefon, und Tobias verbluffte ihn damit, da? er nach so vielen Jahren noch seinen Geburtstag im Kopf hatte.
»Herzlichen Gluckwunsch, Langer!« So hatte Tobias ihn fruher auch manchmal genannt. »Wie war’s denn in Hellas?«
»Gut«, antwortete Micha einsilbig. Der vertrauliche Ton, den Tobias anschlug, pa?te ihm nicht. In Wirklichkeit waren seine Ferien phantastisch gewesen, genauso wie Thomas und er es sich vorgestellt hatten. Er hatte sogar Dostojewskijs
»Wem sagst du das. Hor mal, ich fahre heute noch nach Stuttgart, ein paar Sachen regeln. Sonst hatte ich dich ja gerne auf ein Bier besucht. Aber so mu? ich dir eben telefonisch alles Gute wunschen, mit meinem neuen, eigenen Telefon ubrigens.«
»Nett von dir«, sagte Micha. Der Gedanke, da? Tobias um ein Haar mitten in sein kleines Fest hineingeplatzt ware, behagte ihm gar nicht. Ein paar Freunde sa?en in seinem Zimmer herum und mixten aus einer ziemlich willkurlichen Ansammlung von Alkoholika alle moglichen gefahrlichen Cocktails zusammen.
»Hast du das Packchen schon bekommen?« fragte Tobias.
»Welches Packchen?«
»Also nicht. Schade! Ich hab dir als kleines Geburtstagsgeschenk ein paar Mitbringsel geschickt. Kommt dann wahrscheinlich morgen.«
»Mitbringsel? Aus der Hohen Tatra?« Ihm fiel ein, was Tobias bei ihrem Gesprach damals uber seine Reiseplane gesagt hatte.
»Ja, genau.«
»Und, wie war’s da so?«
»Ach, sehr interessant, sehr aufschlu?reich.«
Micha stutzte zwar uber diese merkwurdige Charakterisierung einer Urlaubsreise, aber diese Irritation war nur von kurzer Dauer. Vielleicht war Tobias ja auch einer dieser Bildungsreisenden, die ein Natur- und Kulturdenkmal nach dem anderen abklappern mu?ten, um sich erholt zu fuhlen. Was wu?te er denn schon von ihm?
Er bedankte sich im voraus und notierte Tobias’ neue Telefonnummer, versprach, sich bald bei ihm zu melden, und versuchte ansonsten, das Gesprach zu beenden, um so schnell wie moglich zu seinen Freunden zuruckkehren zu konnen. Funf Minuten, nachdem er den Horer aufgelegt hatte, hatte er Tobias schon wieder vergessen, und das lag nicht nur an der durchschlagenden Wirkung des neuen Spezialcocktails, den Thomas ihm grinsend entgegenhielt, kaum da? er sein Zimmer betreten hatte.
Am nachsten Morgen kam das Packchen. Es hatte die Gro?e eines Schuhkartons, wog aber so gut wie nichts. Zuerst wu?te er gar nicht wohin damit. Sein Zimmer sah nach dem gestrigen Gelage reichlich chaotisch aus, uberall Glaser, Tassen mit angetrockneten Kaffeeresten, volle Aschenbecher, leere Flaschen, Sektkorken, herumliegendes Geschenkpapier. Die Cocktails hatten es wirklich in sich gehabt. Sie waren alle betrunken gewesen, und er war uberrascht, da? sich die Nachwirkungen bei ihm in Grenzen hielten. Mit einem Seufzer machte er sich daran, den Schreibtisch freizuraumen.
Als er das Packpapier und den Deckel des Schuhkartons - es war tatsachlich einer - entfernt hatte, fand er neben Unmengen Holzwolle eine Zigarettenschachtel, ein Herbarblatt mit einer vorschriftsma?ig gepre?ten und getrockneten Pflanze und einen kurzen Brief:
Kopfschuttelnd betrachtete er die getrocknete Pflanze. Seltsam, wie schnell man zum gefragten Fachmann befordert wurde. Kaum erzahlte man von seinem Biologiestudium, glaubten die Leute offensichtlich, ein wandelndes Lexikon vor sich zu haben. Mit der immer gleichen Frage (»Was is’n das?«) hielten sie einem Grunzeug, irgendwelches Ungeziefer oder vergilbte Blatter von Zimmerpflanzen vor die Nase und spatestens nach dem dritten bedauernden Kopfschutteln erntete man dann diesen skeptischen Blick, mit denen die eigene Qualifikation ernsthaft in Frage gestellt wurde. Es war derselbe skeptische Blick, den man einem Kfz-Mechaniker zugeworfen hatte, fur den Begriffe wie Kupplung und Bremsbelage bohmische Dorfer waren. Selbst seine Mutter, die seit drei?ig Jahren inmitten eines uppigen Gewachshauses wohnte, fragte ihn neuerdings immer wieder, wie sie denn nun ihre Alpenveilchen gie?en solle.
Niemand schien zu begreifen, da? die Natur etwas so Riesenhaftes, so unendlich Vielfaltiges war, da? man unmoglich alles kennen konnte und auf ewig dazu verurteilt war, bei neunzig Prozent aller Fragen ratlos mit den