Unangekundigt und in den seltsamsten Momenten waren sie da und begannen ein Eigenleben zu fuhren.

Er kramte aus irgendwelchen Schuhkartons uralte Klassenfotos heraus, die er sich schon eine Ewigkeit nicht mehr angesehen hatte. Hinten in der letzten Reihe erkannte er Ulrike mit ihren Zopfen, sein gro?er Schwarm.

Viele der Erinnerungen, die ihn beschaftigten, hatten naturlich mit Tobias zu tun. Sein Freund war innerhalb der Klasse anfangs einigem Gespott und Gehansel ausgesetzt gewesen, zumal er mit Nachnahmen auch noch Haubold hie?, was von einigen der Jungs offenbar als Aufforderung mi?verstanden wurde. Es dauerte aber nicht lange, bis er sich auch bei viel gro?eren und kraftigeren Klassenkameraden Respekt verschafft hatte. Tobias war ein ausgesprochen unangenehmer Gegner, den man auf Grund seiner Konstitution zwangslaufig unterschatzte und gegen den eben auch die starksten Jungen der Klasse nur schlecht aussehen konnten. Tobias war ungeheuer schnell und mutig und ging, wenn es denn sein mu?te, keiner Auseinandersetzung aus dem Weg.

Es war kurz vor Weihnachten gewesen, als er auf ihn aufmerksam wurde. Bei ihren Lehrern schien ein besanftigender, die Menschen milde und versohnlich stimmender Weihnachtseffekt noch irgendwie zu funktionieren, denn in einem wahren Ausbruch von Menschenfreundlichkeit hatten sich zu dieser Zeit die Schulstunden gehauft, in denen Filme gezeigt, irgendwelche Jugendanekdoten erzahlt oder sonstige, normalerweise undenkbare Aktivitaten entfaltet wurden. Merkwurdigerweise spielten gerade die Lehrer, welche die hochste Autoritat genossen, in der Weihnachtszeit verruckt.

Ihr Biologielehrer Kusch prasentierte ihnen damals ein Buch, das in einem renommierten Wissenschaftsverlag erschienen war und uber die sehr eigentumliche Fauna einer erst jungst entdeckten Sudseeinsel berichtete. Als neues Paradebeispiel fur das Wirken der Evolution, so wie die beruhmten Darwinfinken der Galapagosinseln, wurden dort Tiere gezeigt, die sich allesamt durch ausgesprochen ungewohnliche Ausbildungen ihrer Nasen auszeichneten. Einige dieser sogenannten Rhino-gradentia hangelten sich mit Hilfe ihrer Riechorgane durch die Baumkronen, andere fingen ihre Beute, indem sie diese mit Nasen anlockten, die wie Bluten aussahen. Das Buch wirkte absolut serios. Die neuentdeckten Tierarten wurden ausfuhrlich beschrieben und sogar in Zeichnungen dargestellt.

Die Klasse war zwischen Zweifel und Begeisterung hin und her gerissen, und noch lange bis in die nachste Pause zogen sich erregte Diskussionen, was denn nun davon zu halten war. Ein Teil nahm alles fur bare Munze, wobei der absolut seriose Verlag das Hauptargument darstellte (»Die wurden nie so ‘n Buch herausbringen, wenn da was nicht stimmen wurde.«), wahrend eine andere Gruppe vehement dafur pladierte, da? das Ganze ein Scherz sei (»so ‘n Quatsch, die wolln uns verschei-?ern«).

Zu letzterer Gruppe gehorte auch Tobias. Es war selten, da? er sich so lautstark in eine Diskussion einschaltete, aber diesmal kampfte er fur seine Position und fuhrte als das alles entscheidende Argument die Tatsache an, da? die Sudseeinsel und damit die Heimat dieser Witzfiguren laut Buchtext kurz nach Abreise der Expedition als Folge eines Vulkanausbruchs untergegangen sein sollte. Das Ganze sei also gar nicht mehr nachprufbar.

Auf dem Heimweg schlenderte Micha durch die Alleen im Charlottenburger Westend. Ihm fiel ein Junge mit einer blauen Pudelmutze auf, der etwa zwanzig Meter vor ihm dahinbummelte und gelegentlich mit Schneeballen in imponierender Treffsicherheit nach Baumstammen warf. Als Micha ihn einholte, erkannte er Tobias. Zuerst zuckte er vor Schreck zuruck, er erinnere sich noch genau daran. Tobias war ihm noch nie auf dem Heimweg begegnet, und au?erdem mochte er ihn nicht besonders, weil er auch zu den Schlappschwanzen gehorte.

»Gehst du immer hier lang?« fragte Micha feindselig. »Hab dich hier noch nie gesehen.«

»Manchmal!« Tobias grinste von einem Ohr zum anderen und zeigte seine groteske Zahnreihe.

Er steuerte eines der Autos an, knetete sich einen neuen Schneeball, und schon waren sie in eine heftige Schlacht verwickelt. Sie litt allerdings unter starkem Nachschubmangel, da der Dreck, der noch auf der Stra?e lag, kaum schneeballtauglich war.

Sie tobten eine Weile herum, bis die Schneebeschaffung zu muhselig wurde.

»War lustig heute die Biostunde, ne?« meinte Tobias plotzlich und warf die letzten Schneereste, die er noch in der Hand hielt, auf den Boden.

»Ja, ganz nett«, sagte Micha gelangweilt, aber in Wirklichkeit war er naturlich begeistert gewesen und noch immer ganz aufgeregt, wenn er an die Stunde zuruckdachte.

»Zum Piepen, wie viele auf Kusch reingefallen sind. So ein Blodsinn, Rhinogradentia, Nasobeme, wo gibt’s denn so was.« Als er »Nasobeme« sagte, hielt er sich die Nase zu, so da? das Wort noch merkwurdiger klang. Micha mu?te lachen. Aber, da? Tobias so sicher schien, argerte ihn irgendwie.

Sie schlenderten langsam weiter. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus, blieb stehen und stemmte die Fauste in die Huften. »Erzahl mir blo? nicht, da? du nicht auch irgendwann mal an die Geschichte geglaubt hast.«

»Nur ganz am Anfang! Ehrlich! Aber als ich dann die erste Zeichnung gesehen habe, war ich mir sicher.«

»Ich mir auch«, fugte Micha schnell hinzu, damit ja nicht der Eindruck entstand, er sei auf diesen Kinderkram hereingefallen.

»Aber toll ist so was schon«, sagte Tobias schwarmerisch.

»Was meinst du?«

»Na, so eine Expedition auf eine unbekannte Insel.«

»Ja, das ist toll«, antwortete Micha wie aus der Pistole geschossen und grinste. So eine Expedition war wirklich das Gro?te.

»Kennst du die Geschichte von King Kong? Der hat auch auf so einer unbekannten Insel gelebt.«

»Klar kenn ich King Kong.« Er hatte den alten Schwarzwei?streifen vor kurzem in der Kindervorstellung ihres Eckkinos gesehen.

Als Micha jetzt daran zuruckdachte, fiel ihm auf, da? der Film ihn als Kind wegen seiner phantastischen Geschichte gepackt hatte. Die Abenteuer und Entdeckungen auf der unbekannten Insel hatten ihn ungemein fasziniert. Trotz aller tricktechnischen Perfektion interessierten ihn an dem modernen Remake des Films in erster Linie die seidig schimmernden Schenkel von Jessica Lange und ihr hinrei?end dummliches Lachen.

Plotzlich bekam Micha eine Gansehaut. Dieses kurze Gesprach war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen, und doch hatte es schon so vieles von dem, was ihre Beziehung spater ausmachen sollte. Er sah Tobias vor sich, wie er mit weit ausholenden Bewegungen seiner dunnen Armchen die gigantischen Dimensionen eines Kampfes von Wal und Krake andeutete, uber den er gerade gelesen hatte, die Lichtblitze der Tintenfische, das weit aufgerissene Maul des Pottwals. Dieser unscheinbare, schmachtige Junge verfugte uber eine Begeisterungsfahigkeit, die ihn mitrei?en konnte. Er war der unerschutterlichen Uberzeugung, da? er die Abenteuer und Entdeckungen, die sie sich gemeinsam ausmalten, wirklich erleben wurde. Aus ihm mu?te einfach ein Entdecker und Wissenschaftler werden, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, da durchstreiften sie zusammen die Eiswusten der Pole und die Holle des tropischen Regenwaldes, erforschten den Verlauf von Meereshohlen, landeten auf fremden Planeten und entdeckten neue Lebensformen.

Bei alledem behielt Micha jedoch immer einen Rest zuruckhaltender Skepsis bei, die Tobias vollig fremd war. Als hatte er Angst gehabt, sich zu sehr auf die Phantasien seines neuen Freundes einzulassen, wappnete er sich zeitweilig mit einer murrischen Abwehrhaltung, indem er Tobias’ Vorschlage mit einem »So ‘n Quatsch«, »Du spinnst« oder »Das glaubste doch selbst nicht« kommentierte, um ihm im nachsten Moment wieder begeistert nachzurennen und eine hinter einer Nebelwand auftauchende Vulkaninsel zu erforschen.

Mit dem Anbrechen der warmeren Jahreszeit begannen sie immer haufiger, Ausfluge in den Grunewald zu unternehmen oder die damals noch sehr viel abenteuertrachtigere Umgebung ihres Stadtbezirks zu erkunden. Das Entsetzen und die Freude hatten kaum gro?er sein konnen, als sie zum ersten Mal ein vollig verwildertes Trummergrundstuck durchstreiften, im Hintergrund als dramatische Kulisse eine gro?e, zerfallene Ruine, und plotzlich auf einen Haufen wei?gebleichter Knochen stie?en. Die Schadel waren mit Sicherheit tierischen Ursprungs, wahrscheinlich von Pferden oder Rindern, aber die Knochen ... Immer wieder spekulierten sie, ob nicht auch Menschenknochen darunter waren, ob sie die Uberreste eines abscheulichen Verbrechens, Opfer eines Bombenangriffs oder doch nur Pferdeknochen vor sich hatten.

Als ihnen eine Schulstunde die Archaologie naherbrachte, beschlossen sie sofort, bei ihren Expeditionen auch solche Aspekte mit zu berucksichtigen. Sie waren ja schlie?lich keine Fachidioten. Als sie kurze Zeit spater einmal von der Lietzen-seebrucke in das flache Wasser schauten, entdeckten sie am Grund des Sees einige Steinbrocken, die eindeutig Teile einer Statue oder etwas Ahnlichem darstellten. Zweifellos handelte es sich um

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