Lesesaal, ohne sich noch einmal umzuschauen.
O Gott, was soll die jetzt von mir halten, dachte er und mu?te unten auf der Stra?e mit Gewalt den Impuls bekampfen, wieder umzudrehen. Aber was sollte er ihr sagen? Er hatte sich so ungewohnlich verhalten, da? jede Erklarung alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Die Wahrheit konnte er ihr kaum erzahlen, sonst hatte sie ihn fur vollig ubergeschnappt gehalten.
Aber was war eigentlich die Wahrheit? Das Ganze nahm so absurde Zuge an, da? das Wort Wahrheit in diesem Zusammenhang unangebracht schien. Im Kino hatte er das alles sicher sehr komisch gefunden, genau die Art realitatssprengender Phantastik, die ihm gefiel, zack, ein klaffender Spalt, ein Ri? in der Welt und dahinter etwas vollig Neues, Unbekanntes, aber, verdammt noch mal, das hier war kein Film, eher schon eine besonders hinterhaltige Form von Alptraum, ein boser Flashback halluzinogener Drogen, nur da? er keine Drogen genommen hatte. Immerhin ware das eine halbwegs vernunftige Erklarung gewesen.
In ihm war eine absurde Idee aufgestiegen, so aberwitzig, da? ihm schwindlig davon wurde. Tobias, seine fixe Idee von der Reise in die Urzeit, damals, als sie noch Kinder waren, dieses ganze Theater um den Kafer und die mitgebrachte Pflanze und die widerspruchlichen Ergebnisse, die seine und Claudias Nachforschungen ergeben hatten. All diese verwirrenden Ereignisse der letzten Wochen schienen plotzlich einen vollig verruckten, absolut unmoglichen Sinn zu geben.
Er beschlo?, zu Fu? zum Institut zuruckzulaufen, um in der kalten Herbstluft etwas Ordnung in sein gedankliches Chaos zu bringen. Wie eingesponnen in einen Kokon dusterster Traumwelten, lief er los, ungefahr in die Richtung, wo er sein Institut vermutete, das zwei U-Bahnstationen entfernt lag. Mechanisch setzte er einen Fu? vor den anderen, achtete kaum darauf, was um ihn herum vorging, wahlte an Kreuzungen, ohne gro? nachzudenken, die eine oder andere Richtung und stellte irgendwann fest, da? er sich verirrt hatte.
Die Freie Universitat mit ihren zahllosen Instituten und sonstigen Einrichtungen lag uber ein gro?es Areal verstreut, ein Wirrwarr von kleinen Stra?en mit ratselhaften Namen wie
Die Stra?en, durch die er jetzt lief, waren ihm vollig unbekannt und menschenleer, so da? er auch niemanden fragen konnte. Wirklich beunruhigend war seine Lage freilich nicht, denn irgendwo wurde er sicher auf eine Buslinie treffen, die ihn wieder in vertrautere Gefilde zuruckbefordern konnte, aber in seinem Zustand hochgradiger Erregung mu?te er bald gegen Panikgefuhle ankampfen. Sein Gang wurde schneller, ausgreifender und immer wieder blickte er gehetzt um sich, weil er meinte, Schritte gehort zu haben. Au?erdem hoffte er, in irgendeinem der Vorgarten jemanden zu finden, den er nach dem Weg fragen konnte.
Plotzlich sah er eine zierliche Gestalt, die auf einen Stock gestutzt aus der Tur eines weit zuruckgesetzt stehenden Hauses trat und sich umblickte, irgendein pensionierter Arzt oder Anwalt, der sich hier zur Ruhe gesetzt hatte, und mal ein bi?chen frische Luft schnappen wollte, dachte Micha. Er offnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen, da trat eine zweite, wesentlich gro?ere Gestalt aus dem Haus, ein durrer Mensch, ein Strich in der Landschaft, der ihm seltsam bekannt vorkam.
Micha kauerte sich instinktiv hinter einen der Steinpfeiler, die an beiden Seiten die Grundstucksauffahrt flankierten, als er in einem schmerzhaften Moment des Erkennens begriff, da? er diese Person tatsachlich kannte. Er spurte, wie das Blut in seinen Adern pochte, so laut, da? er meinte, jeder im Umkreis von zwei Kilometern mu?te es horen, insbesondere die beiden, die jetzt vor dem Haus in der herbstlichen Sonne standen und sich unterhielten. Es war Tobias, Tobias Haubold, der Grund fur seinen desolaten Seelenzustand, und nun erkannte er auch, mit wem er sprach. Es war Sonnenberg, der spitzbartige Palaontologe.
Als ware er gerade einem blutlusternen Monster begegnet, verbarg er sich, mit dem Rucken gegen den Pfeiler gepre?t, und atmete mit weit aufgerissenen Augen tief durch. An einen Zufall konnte er nicht mehr glauben. Da irrte er hier verloren durch diese gottverlassene Gegend und lief ausgerechnet den beiden in die Arme. Nichts lag ihm ferner, als aus seinem Versteck zu treten und auf sie zuzugehen.
Das Ganze kam ihm plotzlich wie ein teuflisches Komplott vor, eine von langer Hand geplante Intrige, die er nicht verstand. Wie in diesen alten Hollywoodstreifen, wo reiche Frauen durch Schritte auf Treppen und Dachboden, durch flackernde Lampen oder mysteriose Anrufe von ihren Ehemannern in den Wahnsinn getrieben werden. Seine Hande pre?ten sich gegen das kalte, rauhe Gestein des Pfeilers, rieben darauf auf und ab. Der Schmerz, den er dabei verspurte, brachte ihn wieder etwas zur Besinnung.
Was taten die beiden da? Tobias kannte also nicht nur diese Schwarzhaarige, sondern auch den Professor, und offensichtlich ganz gut, denn als er jetzt vorsichtig an dem Pfeiler vorbei zum Haus schaute, sah er, wie Sonnenberg vaterlich auf den Rucken seines Schulfreundes klopfte, als wolle er ihn zu irgend etwas ermuntern.
Schnell verbarg Micha sich wieder hinter dem Pfeiler. Plotzlich fuhlte er mit der rechten Hand statt des rauhen Gesteins eine glatte, kalte metallische Flache. Er fuhr herum und schaute zu seiner grenzenlosen Verbluffung auf ein in Brusthohe angebrachtes Blechschild, das dieses Haus als Teil der Universitat auswies.
Kurz darauf horte er knirschende Schritte die Auffahrt entlang naherkommen. Er uberlegte nicht lange, sondern rannte, hinter die niedrige Hecke geduckt, so schnell er konnte, davon. Er kam sich vor wie ein Einbrecher auf der Flucht, aber er horte nicht auf zu rennen, immer weiter die menschenleeren, mit Herbstlaub bedeckten Alleen entlang, so lange, bis sich seine Kehle durch die angesogene kalte Luft anfuhlte, als hatte er mit Salzsaure gegurgelt. Schwer atmend stutzte er sich mit beiden Armen auf seinen Knien ab und sah, wie die Schwei?tropfen von seiner Stirn auf den Boden tropften.
Als sein Puls sich beruhigt hatte, schien sich zogernd auch sein Verstand zuruckzumelden. Er benahm sich wie ein Wahnsinniger, wie ein paranoider Irrer, dem langsam der Bezug zur Realitat entglitt.
Er lief in normaler Geschwindigkeit weiter und stand wenige Minuten spater vor der vertrauten U- Bahnstation Dahlem Dorf, die sich aus der Wuste um ihn herum wie eine uppig bluhende Oase zu materialisieren schien.
Anstatt ins Institut zu gehen, wie er es ursprunglich vorhatte, fuhr er nach Hause, warf sich dort auf seine Matratze und blieb minutenlang liegen, die Hande vor das Gesicht gepre?t.
In was war er da hineingeraten? Alles wegen dieses damlichen Typen, dieser plotzlich wie ein Zombie aus grauer Vergangenheit, aus tiefstem Vergessen aufgetauchten Spukgestalt. Drehte er jetzt durch oder was? Das konnte doch alles unmoglich wahr sein. Glucklicherweise waren seine beiden Mitbewohner nicht zu Hause. So, wie er aussah, hatten die noch den Notarzt gerufen.
Er raffte sich auf, ging in die Kuche und kochte sich einen Tee. Eine halbe Stunde spater lag er in der dampfenden Badewanne, auf einem Holzbrett, das quer uber seiner Brust auf dem Wannenrand lag, stand eine gro?e Tasse dampfenden Tees, und von seiner auf dem wei?en Emaillerand liegenden Hand kringelte sich der Rauch einer Zigarette hoch zur Badezimmerdecke. Langsam verlie? ihn das Gefuhl, nur mit knapper Not einem Alptraum entkommen zu sein.
Da? Tobias Sonnenberg kannte, erschien ihm nun gar nicht mehr ungewohnlich. Er studierte Geologie und interessierte sich fur Fossilien. Das hatte er schon damals getan, als sie so auf diesen Film abgefahren waren. Was lag da naher, als sich dem hiesigen Palaontologen anzuschlie?en. Vielleicht beabsichtigte er sogar, sich darauf zu spezialisieren, ein vollig normales, ja, geradezu vorbildliches und weitsichtiges Verhalten, das bei jedem Studienberater helle Begeisterung ausgelost hatte.
Nein, er hatte sich verhalten wie ein kompletter Idiot, und es war an der Zeit, die Sache aus der Welt zu schaffen.
»Entschuldigen Sie bitte die kurze Unterbrechung«, sagte Sonnenberg, als er zuruck in sein Zimmer gehumpelt kam.
»Ein Mitarbeiter von Ihnen?« Axt fragte nur halbherzig. Er wu?te gar nicht, wie lange Sonnenberg drau?en mit dem jungen Besucher gesprochen hatte, einer auffallend durren Gestalt, mit der er sich schon nach seinem Vortrag im Zoologischen Institut kurz unterhalten hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde ganz von einem in Kunstharz eingeschlossenen Kafer in Anspruch genommen, den er auf einem Papierstapel entdeckt hatte. Er stand uber das Praparat gebeugt neben Sonnenbergs Schreibtisch, als dieser wieder den Raum betrat.