er unwissenschaftliche Scharlatane, Opfer eines tragischen Selbstbetruges. Aber Sonnenberg war ein Kollege, einer von ihnen.

»Sollen wir einpacken, das Denken einstellen, unsere Museen dichtmachen?« fragte Axt. »Glauben Sie, da? es gar keine Evolution gegeben hat und die Erde im Grunde von Neopilinas und Quastenflossern nur so wimmelt, wenn wir uns einmal die Muhe machen und richtig nachschauen wurden? Ich verstehe Sie nicht. An der Luckenhaftigkeit der Fossiluberlieferungen wird sich wohl auch in Zukunft wenig andern, und wenn wir unsere Wissenschaft weiter betreiben wollen, werden wir uns damit abfinden mussen. Das konnen Sie doch nicht ernsthaft der Palaontologie anlasten.«

»Das nicht, nein, aber wenn sie aus einem mangelhaften Datenmaterial zu weitreichende Schlusse zieht, das kann ich ihr vorwerfen. Aber Sie haben recht. Ich mu? mich entschuldigen. Manchmal schlage ich uber die Strange. Ich neige zu Extrempositionen innerhalb unserer Wissenschaft, ich wei?. Verstehen Sie, mich argert diese hochnasige Sicherheit, die von vielen Kollegen immer wieder verbreitet wird. Meiner Meinung nach ist nichts sicher, oder jedenfalls sehr wenig. Da? eine Evolution stattgefunden hat, gehort, um Ihre Frage gleich zu beantworten, sicherlich dazu. Ich bin kein Kreationist. Viel weiter daruber hinaus reicht unser Wissen allerdings nicht. Ich kann’s nicht andern.« Er sah seinen Gast lachelnd an.

»Warten Sie!« Sonnenberg stemmte sich aus seinem Sessel, offnete im Stehen die Tur eines einfachen Holzschrankes, der neben dem Schreibtisch in der Ecke des Raumes stand, und entnahm ihm eine Flasche und zwei Glaser. »Ein wunderbarer Grappa. Vielleicht wirkt der etwas beruhigend auf unsere Gemuter«, sagte er, lachte und prostete seinem Gast zu.

»Auf da? es immer weiter vorangehe mit unserer faszinierenden Wissenschaft«, sagte er.

Axt akzeptierte das Versohnungsangebot. »Ah, Sie sehen doch noch eine Chance, da? die Palaontologie Ihren Anspruchen gerecht werden konnte? Das freut mich. Prost!«

»Wissen Sie«, nahm Sonnenberg das Gesprach wieder auf, »ich halte die Frage nach dem Evolutionstempo fur sehr entscheidend. Ich mu? Ihnen ja nicht erlautern, welche weitreichenden Spekulationen unsere amerikanischen Kollegen auf der Tatsache aufgebaut haben, da? sich in vielen Entwicklungslinien uber lange Zeitraume hinweg offensichtlich kaum etwas verandert hat, wahrend andererseits die wirklichen Neuheiten stets sehr plotzlich auf der Bildflache erschienen sind. Hatten Sie schon einmal Gelegenheit, sich die einzelne Solnhofer Archaeopteryx-Feder aus der Nahe anzuschauen?«

Axt schuttelte den Kopf. »Leider nein. Ich kenne nur die Fotografien. Sie ist sicher sehr eindrucksvoll.«

»Absolut faszinierend, die erste Feder, die wir uberhaupt kennen, und bereits perfekt bis in alle Einzelheiten, als stamme sie von einer modernen Taube. Und davor gab es nichts Vergleichbares, nur Reptilienschuppen. Es ist doch seltsam, da? ausgerechnet wir Palaontologen zu den scharfsten Kritikern des Darwinismus geworden sind, nicht wahr? Dabei sollte es doch eigentlich umgekehrt sein.«

Er richtete sich auf und schenkte nach. Axt wollte erst ablehnen, willigte dann aber ein. Der Grappa war wirklich nicht schlecht.

»Und trotzdem glauben die Gradualisten, zu denen ich mich im ubrigen nicht zahle«, bekannte Sonnenberg, »durch immer wieder neue Berechnungen und Argumente zeigen zu mussen, da? der langsame, kontinuierliche Wandel der Organismenarten, wie Darwin ihn gesehen hat, die ganze Vielfalt des Lebens auch ohne gro?ere Sprunge hervorbringen konnte. Finden Sie nicht, da? das krampfhafte Festhalten an diesen alten Anschauungen auch etwas Verzweifeltes an sich hat? Sie ertragen einfach die Unsicherheit nicht.« Er sah Axt an und fuhr fort, als dieser keine Anstalten machte, seine Frage zu beantworten. »Entscheidend sind immer die Anfangs- und Endpunkte einer Tierart, Geburt und Tod gewisserma?en, und Sie werden mir sicherlich nicht widersprechen, wenn ich sage, da? unser Wissen in dieser Hinsicht noch sehr unbefriedigend ist.«

»Naturlich. Das herauszufinden, dachte ich, sei unter anderem Aufgabe unserer Wissenschaft.«

»Ah, Sie haben mich falsch verstanden, ich meine nicht die Art und Weise, wie neue Arten entstehen und wieder untergehen, sondern ich meine das Problem, woran wir das Erscheinen einer neuen Art oder Verschwinden einer alten uberhaupt festmachen konnen. Wo wollen Sie innerhalb eines Kontinuums Grenzen ziehen?«

»Sie meinen, wie wir unsere Arten definieren?« fragte Axt und mu?te innerlich stohnen. Das war ja ein uralter Hut. Allerdings ein durchaus umstrittener, das mu?te er zugestehen. Sonnenberg hatte sich fur ihr Treffen offensichtlich ein Art Generalabrechnung vorgenommen. Leider war er dazu ganz und gar nicht in der richtigen Stimmung. Seine Grunde, an der Palaontologie zu zweifeln, waren momentan anderer Art. Sie waren etwa einen Meter achtzig lang und ruhten im Keller der Messeler Senckenberg-Station. Er schaute kurz auf Uhr.

»Ganz genau.« Sonnenberg nippte an seinem Glas und schmunzelte wieder in sich hinein. Axt fuhlte sich irgendwie provoziert. »Sie sagten vorhin, eine Muschelart hatte bisher in der Erdgeschichte etwa die zehnfache Lebenserwartung einer Saugetierart gehabt. Diese Angaben stehen und fallen doch mit der Definition der Anfangs- und Endpunkte der betrachteten Spezies.«

»Sicher. Da wir keine Kreuzungsexperimente durchfuhren konnen, sind wir dabei allein auf die Morphologie angewiesen. Das ist unbefriedigend, aber nicht zu andern. Abgesehen davon, da? sie uns die theoretischen Schwierigkeiten erleichtern wurden, hatten solche Kreuzungsexperimente allerdings auch kaum Sinn. Ein Tier hat in der Realitat nur wenig Aussichten, sich mit seinen stammesgeschichtlichen Vorlaufern zu paaren. Wir betrachten ein Lebewesen daher erst dann als neue Art, wenn es sich morphologisch in ausreichendem Ma?e von seinen Vorgangern unterscheidet, so da? ein neuer Name gerechtfertigt erscheint.«

»Sehen Sie, und genau da liegt der Hase im Pfeffer. In der Regel stehen uns fur unsere Untersuchungen ja nur die Hartteile, die Skelette, zur Verfugung. Ehe Sie protestieren: Ich wei?, da? Ihre Messel er Fossilien da eine faszinierende Ausnahme darstellen. Aber, was glauben Sie wohl, auf wie viele Spezies unsere heute lebenden knapp neuntausend Vogelarten zusammenschrumpfen wurden, wenn man ihren Kadavern alle Federn ausrisse, sauberlich das Muskelgewebe entfernte und das ubriggebliebene, vielleicht noch von einer Presse plattgedruckte Skelett den Experten zur Bestimmung vorlegen wurde? Was glauben Sie: Wie viele blieben ubrig? Die Halfte, ein Zehntel? Wie viele Arten von Darwinfinken gabe es wohl fur die Wissenschaft, wenn wir nur ihre Skelette kennen wurden und aus irgendeinem Grunde samtliche Schnabel fehlten? Wie wollten Sie Fitislaubsanger und Zilpzalp auseinanderhalten, die sich praktisch nur im Gesang unterscheiden und doch streng getrennte Arten sind?« Sonnenberg lehnte sich zuruck und machte einen zufriedenen Eindruck. »Und wenn Sie schon damit ihre liebe Muhe hatten, wie wollen Sie dann anhand der fossilen Uberreste Arten unterscheiden, die auseinander hervorgegangen sind, sich also zwangslaufig noch sehr, sehr ahnlich sind. Wie wollen Sie da eine Grenze ziehen? Woher wollen Sie andererseits wissen, ob anatomisch identische Fossilien nicht doch streng getrennten Arten entstammen, die eine vielleicht nachtaktiv, die andere tagaktiv, die eine eine Fruhjahrsart, die andere eine Herbstart, Tiere, die sich in der Natur kaum jemals begegnen? Dafur gibt es heute doch Hunderte von Beispielen. Was ist mit der betrachtlichen Variation innerhalb der Arten, mit den Geschlechtsdimorphismen? Was ...«

»Prof. Sonnenberg, es tut mit leid, aber Sie argumentieren wie ein Outsider, nicht wie einer von uns. Es bleibt uns nichts anderes ubrig, als verantwortungsvoll unsere Arbeit .«

»Was ist mit Ihren Fischen, Sie sind doch Ichthyologe, nicht wahr? Wie viele Arten von Buntbarschen gibt es heute im Viktoriasee? Sagen wir funfhundert, und viele davon sind sich verdammt ahnlich. Wie viele wurden Sie davon als echte, von anderen isolierte Arten ansprechen, wenn Sie nur die Fossilien hatten?«

»Es tut mir leid .«

Sonnenberg ignorierte ihn erneut. »Au?erdem ... was wurden Sie sagen, wenn ich behauptete, die Muschelarten hatten nur scheinbar eine so lange Lebenserwartung gehabt oder die Sauger eine so kurze. In Wirklichkeit sind die Muschelschalen nur ungleich armer an Merkmalen, mit denen sich eine Artunterscheidung begrunden la?t, als ein aus mehreren hundert Knochen bestehendes Saugetierskelett. Die Zahl ihrer Arten .«

Axt sah fluchtig auf die Uhr. Er mu?te bald aufbrechen. In einer guten Stunde ging sein Zug vom Bahnhof Zoo. Viel Konstruktives war hier wohl auch nicht mehr zu erwarten. Er atmete tief ein und streckte seinem Gastgeber beide Handflachen entgegen. »Also, lieber Professor, ich gebe mich geschlagen. Ich kapituliere auf ganzer Linie. Es tut mir leid, aber ich kann nur wiederholen, was ich vorhin schon gesagt habe: Sie reden wie einer, dem unsere Tatigkeit ein Dorn im Auge ist. Sie wissen doch genausogut wie ich, da? nicht wir, die Palaontologen, die Grenzen unserer Wissenschaft so eng gesteckt haben.« Er sagte das in der vagen Hoffnung, das Gesprach zu einem versohnlichen Ende zu bringen und Sonnenberg keinen Anla? zu weiterer Fundamentalkritik zu liefern. »Die Uberreste, mit denen wir notgedrungen auskommen mussen, geben einfach nicht mehr her. Sie konnen eben an Knochen nicht die falschen Fragen stellen. Fossilien verhalten sich nun einmal nicht, zwitschern keine Lieder, tragen in der Regel keine

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату