Der Zufall fuhrt eine gnadenlose Regie, von zielgerichteter Hoherentwicklung keine Spur. Diese kurzen Zeiten weltumfassender, dramatischer Veranderungen erfordern doch ganzlich andere Eigenschaften und Anpassungen als die relativ storungsfreien Zeiten vor und nach einer solchen globalen Katastrophe. Kein Organismus kann auf so etwas vorbereitet sein. Und da? am Ende die Sauger und damit auch wir Menschen ubrigblieben, war nichts weiter als ein glucklicher Zufall.

Wenn unvermittelt ein ganzes Hochhaus brennt, wer wird wohl uberleben? Die Besten, die Intelligentesten, die Schonsten oder die Grundlichsten? oder die, die zufallig in den unteren Stockwerken wohnen und von dort schnell ins Freie fliehen, die, die zufallig gerade Brotchen oder Zigaretten holen, oder die, die just in diesem Moment im Keller nach alten Erinnerungsstucken suchen?

Irgendwie schockiert mich diese Einsicht, aber je mehr ich sehe und daruber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, da? es nicht »survival of the fittest«, sondern auf lange Sicht wirklich »survival of the luckiest« hei?en mu?.

Die Vorstellung, alles, was vor der Neuzeit existierte, hatte in unserer Zeit seine endgultige Gestalt angenommen, suggeriert, dieser seit Anbeginn des Lebens wahrende Proze? des Kommens und Gehens und der stetigen Veranderung sei nun mit unserer Zeit zum Abschlu? gekommen, das Ziel erreicht, der Gipfel erklommen.

Was fur ein himmelschreiender arroganter Blodsinn! Nichts, aber auch gar nichts spricht dafur. Solange es Leben gibt, wird es auch Evolution und damit Veranderung geben. Das Signal fur das nachste, in seiner Geschwindigkeit wahrscheinlich beispiellose Artensterben hat allerdings der Mensch gegeben. Diese wirkliche Spitzenstellung kann uns keiner mehr streitig machen. Danach wird wieder etwas Neues beginnen. Ob mit oder ohne uns.

Ich stelle mir die Geschichte unseres Planeten im Zeitraffer vor, vielleicht ein Jahr pro Sekunde, ein paar Jahrtausende in der Stunde. Oh, ich habe das gerade uberschlagen, ein solcher Film ware immer noch ziemlich lang. Er wurde ungefahr hundert Jahre dauern. Ich lasse also besser gleich hundert Jahre in einer einzigen Sekunde ablaufen.

Ich sehe, wie der Atomofen im Inneren der Erde ihre dunne, gerade erst erkaltete Kruste wieder zerrei?en la?t, wie die einzelnen Platten, angetrieben durch die aufsteigende Hitze, scheinbar ziellos umhertrudeln, mal hier, mal dort gegeneinandersto?en, dabei als Knautschzonen riesige Gebirge aufturmen und dann wieder auseinandertreiben. Je nach Lage der Kontinente andern die riesigen Stromungen der Ozeane ihren Verlauf, schaffen neue klimatische Bedingungen. Das Land hebt und senkt sich wie die langsam atmende Brust eines Riesen, und das Wasser folgt den Bewegungen, uberflutet gro?e Festlandbereiche, schafft riesige Binnenmeere, die bald verdunsten und kilometerdicke Salzschichten zurucklassen, in die die Menschen spater ihren Atommull einlagern werden. Die gerade erst aufgefalteten Gebirge verfallen schon vom Moment ihrer Entstehung an. Sie zerspringen, zerbroseln und zerfallen zu immer kleineren Bruchstucken, schlie?lich zu Sand und Ton und sinken als uber Tausende von Kilometern transportierte Sedimente auf den Boden von Meeresbuchten und Seen. Druck und Zeit verbacken sie dort erneut zu Gestein, das beim nachsten Zusammenprall der Kontinente zu neuen Berggestalten verformt und emporgehoben wird. Ein gigantischer Kreislauf.

Und das Leben? Welche Rolle spielt aus dieser Perspektive das Leben? Es ist kaum zu erkennen, nur eine ratselhafte Unscharfe dicht uber dem Boden. Als Spielball der kosmischen und irdischen Krafte versucht es, sich immer wieder aufs neue auf die veranderten Bedingungen einzustellen. Ein irgendwie ruhrender, aber auch aussichtsloser Wettlauf. Wie eine Art Schimmelpilz uberzieht es die Festlandmassen mit einer dunnen und verletzbaren Schicht, in die jede Veranderung tiefe Wunden rei?t. Nein, Herrscher dieses Planeten waren weder die Saurier im Erdmittelalter noch Mensch oder Ameise. Das Sagen hat auf lange Sicht eindeutig das Gestein, diese gigantischen, sich im Planeteninneren trage drehenden Walzen aus gluhendem Magma, die die Kontinente vor sich herspulen wie Meereswellen herrenloses Treibgut. Dem Leben bleibt nichts anderes ubrig, als die Zwischenzeiten zu nutzen, so gut es geht.

Das ist doch irgendwie deprimierend!

Und da ist auch noch der Mond, ohne den es, wie ich mich kurzlich durch Tobias belehren lassen mu?te, auf der eh schon arggebeutelten Erde erst recht drunter und druber ginge. Nach den neuesten Erkenntnissen der Mondforscher ist unser Trabant das Ergebnis eines Zusammensto?es. Die Erde kollidierte mit einem anderen, etwa marsgro?en Himmelskorper unseres Sonnensystems. Durch die ungeheure Energie wurden beide Planetenmassen nahezu verflussigt und das Gesteinsmaterial des Zukunftigen Mondes ins Weltall geschleudert. Im Grunde eine neuartige Form der alten Abspaltungstheorie, die ursprunglich von George Darwin stammt, Charles ’ zweitem Sohn. Die Erde drehte sich damals viel langsamer als heute. Erst durch den Zusammenprall wurde ihre Umdrehungsgeschwindigkeit drastisch erhoht. Er wirkte wie eine klatschende kosmische Ohrfeige, die den damals noch jungen Planeten mit ungeheurer Wucht um sich selber wirbelte. Andernfalls hatten wir auf der Erde Verhaltnisse wie auf der Venus: Ein Tag dauerte dann fast ein Erdenjahr, mit allen Konsequenzen, die das fur eine mogliche Entstehung des Lebens gehabt hatte. Einmal im All stabilisierte die Mondmasse die ziemlich labile Achse der Erde. Wie Betrunkene trudeln dagegen Mars und Venus um die Sonne, weil ihnen ein vergleichbarer Aufpasser fehlt. Beim Mars schwankt die Achse um bis zu 60 Grad. Die Achse der Venus war so instabil, da? irgendwann der ganze Planet kippte und heute praktisch auf dem Kopf stehend um die Sonne rast. Nur die Erde wird durch die Kraft des Mondes halbwegs in Position gehalten, was eine einigerma?en gleichma?ige Verteilung der einfallenden Sonnenenergie garantiert. Die verbleibenden Schwankungen sind dramatisch genug. Nach Ansicht vieler Experten reichen sie aus, um der Erde regelma?ige Eiszeiten zu bescheren. Nur eine Winzigkeit mehr davon, und Leben, jedenfalls in seiner hoher entwickelten Spielart, ware unmoglich gewesen.

Es wird einem ganz schwindlig angesichts all dieser haarstraubenden Zufalle und Unwagbarkeiten. Und das Ganze la?t sich ja noch viel weitertreiben, wenn man etwa an die physikalischen Konstanten denkt, ohne deren Existenz in exakt der Gro?e, die sie haben, kein Stein, sprich, kein Atom auf dem anderen bliebe.

Alles hangt an einem seidenen Faden. Und wir baumeln irgendwo ganz unten, immer noch hoch genug, um uns beim Fallen alle Knochen zu brechen.

So, nachdem ich meine Rolle im Universum nun erneut durchdacht und als absolut null und nichtig erkannt habe, ist Zeit fur etwas Erbauliches. Schlie?lich mussen wir irgendwie versuchen, aus unserer Bedeutungslosigkeit das Beste zu machen. Ich konnte zum Beispiel mit meiner su?en Claudia mal wieder runter zum Flu? gehen. Sie sitzt da druben und blinzelt mir zu. Wenn ich fruher nur mal genauer hingeschaut hatte. Vielleicht ware mir Trottel dann eher aufgefallen, was fur wunderschone smaragdgrune Augen sie hat. Und wie sie jetzt guckt!

Der Heilungsproze? von Tobias’ Arm machte gute Fortschritte. Die Schwellung war zuruckgegangen und, was noch wichtiger war, die gefahrliche Entzundung deutlich abgeklungen. Die Antibiotika hatten ganze Arbeit geleistet. Wahrscheinlich waren die hiesigen Bakterien auf so etwas nicht vorbereitet. Wie sollten sie auch. Irgendwie unfair, mit der geballten medizinischen Macht des zwanzigsten nachchristlichen Jahrhunderts gegen diese unschuldigen Urzeitmikroben vorzugehen, die einfach nur das Pech gehabt hatten, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.

Jetzt steckte der Arm in einem frischen, von der Feuchtigkeit noch dunkelgefarbten Lehmverband. Trotzdem war es wahrscheinlich noch viel zu fruh fur Tobias, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, wie er es da plotzlich vorschlug. Er wollte unbedingt moglichst bald in diesen Dschungel fahren, dessen erste Auslaufer laut Herzog einige Tagesreisen flu?aufwarts liegen sollten.

Aber Tobias gab keine Ruhe, und Micha hatte das Gefuhl, da? Herzog ihn mochte. Warum hatte er ihnen sonst sein Flo? angeboten, das irgendwo in der Nahe des Waldes am Flu?ufer liegen sollte? Vielleicht erkannte er in ihm eine jungere Ausgabe seiner selbst, denselben Fanatismus, dieselbe Faszination, die von diesen urzeitlichen Kreaturen ausging und der er sich wie Tobias nicht zu entziehen vermochte. Wer in relativ jungen Jahren eine derart radikale Entscheidung traf wie Herzog, der mu?te schon ein absoluter Fanatiker sein. So jemanden, der neben seinem Beruf als Arzt noch intensiven palaontologischen Studien nachging und mit kaum drei?ig Jahren als Laie eines der Standardwerke zu diesem Thema verfa?te, nannte man heutzutage einen Workaholic, und das waren nicht gerade die liebenswertesten Zeitgenossen. Vielleicht war Herzog ein ganz und gar unausstehlicher Mensch gewesen, der nur fur sein Hobby und seine Arbeit gelebt hatte.

Als sie dann einige Tage spater tatsachlich in den Dschungel fuhren, gewann Micha recht bald den Eindruck, da? es ein Fehler gewesen war, Tobias’ Drangen so rasch nachgegeben zu haben. Es war nicht sein erster. Was

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