immer mehr uber Herzog erfuhren und Tobias von Stunde zu Stunde schlechter gelaunt wurde, weil er sich eingesperrt fuhlte. Tagsuber, wenn Herzog weg war - meistens arbeitete er in seinem Garten oder ging auf die Jagd und kehrte dann am spaten Nachmittag mit seiner Beute und dem frischem Gemuse heim, das er geerntet hatte -, machten Micha und Claudia mit Pencil kurze Streifzuge in die nahere Umgebung der Hohle und versuchten ansonsten, Tobias bei Laune zu halten, der, wenn er nicht schlief, die meiste Zeit uber vor der Hohle sa? und mit dem Fernglas nach Gro?tieren Ausschau hielt. Micha schrieb jeden Tag ein paar Seiten in sein Tagebuch und begann sogar, die eine oder andere Seite in einem von Herzogs Buchern zu lesen. Das Ganze nahm mehr oder weniger den Charakter einer Urlaubsreise mit Vollpension an.
Claudia und Micha benutzten die Gelegenheit, um unten am Flu? ihre dreckige Wasche zu waschen. Es hatte sie gro?e Uberredungskunst gekostet, Tobias davon zu uberzeugen, da? er besser oben an der Hohle bleiben sollte, wozu er naturlich gar keine Lust hatte. Letzten Endes war es wohl Herzogs Bemerkung, da? es da unten, wo er sie hinfuhren wurde, keine Tiere gabe, die ihn dann doch zum Bleiben veranla?te. Es gab tatsachlich keine gro?eren Tiere an diesem kargen, sandigen Uferabschnitt, den Herzog ihnen zeigte, aber selbst, wenn es welche gegeben hatte, waren sie den beiden wahrscheinlich nicht aufgefallen. Sie waren einfach zu sehr mit sich selbst beschaftigt.
Herzog erzahlte ihnen in diesen Tagen, da? er schon fast zehn Jahre hier lebte. Zehn Jahre, eine unvorstellbar lange Zeit. Anfangs sei er ein paarmal hin- und hergefahren, um seine Ausrustung hierherzuschaffen. Meistens habe er seine Einkaufe in Gegenden getatigt, wo man ihn nicht kannte. Jetzt sei er schon lange nicht mehr druben gewesen. Er habe alles, was er brauche. Zu Hause galt er wohl als vermi?t, aber es schien ihm ziemlich egal zu sein, was man dort uber ihn dachte.
Nach dem fruhen Tod seiner Frau, uber dessen nahere Umstande nichts aus ihm herauszulocken war, hatte er den Entschlu? gefa?t, der Zivilisation den Rucken zu kehren, endgultig, wie er sagte. Der ganze Wahnsinn ginge ihn jetzt nichts mehr an. Die Apokalypse werde auch ohne ihn stattfinden, und er wurde den anderen nur ihren Spa? dabei verderben. Er wollte sich hier ausschlie?lich seinen Studien widmen. Etwas anderes interessierte ihn nicht mehr. Im Grunde sei er naturlich Dinosaurierforscher, wie sie ja wu?ten, aber das Tertiar sei schlie?lich auch nicht schlecht. Er habe keinen Grund, sich zu beklagen. Sollte er naturlich irgendwann einmal uber ein Schlupfloch ins Erdmittelalter stolpern, werde er sofort umziehen, sagte er und lachte dabei aus vollem Hals, das erste Mal, solange sie ihn kannten.
Das alles klang so einfach und konnte doch nur die halbe Wahrheit sein. Von der Hohle hatte er wie sie durch Sonnenberg erfahren, den er damals schon seit vielen Jahren gut gekannt hatte - die beiden waren Studienkollegen -, der aber wohl nichts davon ahnte, welche Verwendung Herzog von seinem Geheimnis gemacht hatte. Herzog bat sie eindringlich, es dabei zu belassen und ihm auch nach ihrer Ruckkehr nichts davon zu erzahlen.
Ihm sei hier im Laufe der Jahre ubrigens niemand begegnet, erzahlte Herzog weiter. Er sei daruber nicht besonders traurig, denn die meisten wurden sicher nur irgendwelche sensationellen Abenteuer suchen. Er lie? an moglichen Besuchern kaum ein gutes Haar, so da? Micha sich fragte, warum er zu ihnen so freundlich war.
Im Gegenzug erzahlten sie ihm von der Cola-Dose und der Feuerstelle, die sie am Flu? gefunden hatten, und er zeigte sich au?erordentlich interessiert.
»Tja, eigentlich wollte ich es euch ja schon lange erzahlen.« Er zupfte nachdenklich an seinen Barthaaren herum. »Es gibt hier namlich noch jemanden«, sagte er fast im Flusterton und erzahlte ihnen von den Fallen, die er gefunden hatte.
Ich komme mir vor wie Darwin nach seinem Ausflug auf die Galapa-gosinseln oder dem Fund eines fossilen Riesenfaultiers, wenn ich das hier niederschreibe. Was hatte ich nur fur unsinnige, verquere Vorstellungen im Kopf. Gestern habe ich mich lange mit Claudia und Tobias daruber unterhalten. Sie hatten sich schon ahnliche Gedanken gemacht. Anscheinend drangen sich solche Ideen hier geradezu auf. Auch mit Herzog haben wir daruber geredet, und dabei ist er spurbar aufgetaut.
Eines ist klar. Diese untergegangene Welt des Eozans ist keinen Deut weniger kompliziert, weniger entwickelt, weniger schon oder weniger ha?lich und auf keinen Fall weniger uberlebensfahig gewesen als die Erde unserer Neuheit. Die in ihr lebenden Organismen sind keineswegs weniger spezialisiert oder schlechter an ihre Umgebung angepa?t, die Okosysteme von keiner geringeren Komplexitat. Nein, diese vergangenen Welten waren nicht von vornherein zum Untergang verdammt, wie wir insgeheim wohl glauben, vielleicht zu unserer eigenen Beruhigung, um uns davon abzulenken, da? uns ein ahnliches Schicksal bevorsteht.
Nehmen wir zum Beispiel die Dickhauter. Wir kennen die modernen Elefanten und neigen dazu, in ihren ausgestorbenen Verwandten noch unfertige und verbesserungsbedurftige Entwurfe zu sehen, die irgendwann in die Gestalt der modernen, der richtigen Elefanten munden mu?ten, so, als sei ihr heutiges Aussehen vom Moment ihrer Entstehung an eine Art Zielvorgabe oder Bestimmung gewesen. Wir haben den Araberhengst als Ma?stab im Kopf und konnen nicht anders, als in den kleinen Urpferdchen, die hier herumtraben, nur groteske Vorformen zu sehen, die unmoglich so Bestand haben und die Zeiten uberdauern konnten.
Diese Sicht der Dinge ist vollig und von Grund auf falsch und nur ein weiterer Ausdruck jenes grenzenlosen Anthropozentrismus, der diese Welt so nahe an den Abgrund manovriert hat. Genauso wie wir uber Affen lachen, weil wir in ihnen unvollkommene Menschen sehen, schmunzeln wir uber die Wesen der Urzeit. Nur die Dinosaurier, und auch unter diesen nur die wirklichen Riesen, jagen uns wegen ihrer Gro?e einen Schauer uber den Rucken, vielleicht weil uns ihre Dimensionen einen Hauch von Zweifel an unserer vermeintlichen Allmacht aufdrangen. Aber uber den Rest lacheln wir nachsichtig wie uber unbeholfene Darstellungen aus Kinderhand und vergessen dabei, da? wir in der Ruckschau eines moglichen Nachfolgers selbst einmal als primitive Ubergangsstadien dastehen werden.
Angesichts der Tiere, die wir hier und jetzt in ihrer naturlichen Umgebung beobachten konnen, ist es absolut unmoglich vorherzusagen, welche davon uberleben werden und welche nicht. Niemand konnte sagen, du da, Uintatherium, mit den komischen, nutzlosen, offensichtlich uberflussigen und geradezu hinderlichen Hockern auf dem Kopf, du wirst aussterben, weil du eine glatte Fehlkonstruktion bist, und du da mit dem verlangerten Hals, die du aussiehst wie eine beginnende Giraffe, du wirst uberleben und dich zu einer ziemlich grotesken Gestalt weiterentwickeln. Du wirst noch an hochhangenden dornigen Akazienblattern knabbern konnen, dafur aber nur unter umstandlichen und ziemlich lacherlich wirkenden Verrenkungen in der Lage sein zu trinken. Alles hat eben seinen Preis.
Nur weil wir wissen, was uberdauert hat, glaubten wir hier anfangs uberlebensfahige von zum Scheitern verurteilten Gestalten unterscheiden zu konnen.
Im Laufe der Erdgeschichte kam es immer wieder zu Artensterben gigantischen Ausma?es, die innerhalb relativ kurzer Zeit einen Gro?teil der damals auf der Erde lebenden Tierarten gnadenlos ausradierten. In einem von Herzogs Buchern habe ich gerade gelesen, da? am Ende des Erdaltertums, zwischen Perm und Trias, schatzungsweise 95 % aller Meereslebewesen ausstarben. Das war der bisher dramatischste Einschnitt in der Geschichte des Lebens. Es waren diese Phasen des massiven Artensterbens, nach denen die letztlich willkurlichen Grenzen der Erdzeitalter festgesetzt wurden. Naturlich kommt es auch in den verhaltnisma?ig ruhigen Zwischenphasen zum Ableben einzelner Arten. Sie konnen sich in einer langer wahrenden Auseinandersetzung mit Konkurrenten und Feinden nicht mehr durchsetzen und sterben aus. Die Evolutionsforscher nennen das Hintergrundaussterben, die vielen kleinen Tragodien, die jederzeit ablaufen und kaum Spuren hinterlassen. Aber die gro?e Masse der Arten verschwindet offenbar durch Katastrophen globalen Ausma?es, seien dies nun Phasen hoher vulkanischer Aktivitat, das Einschlagen ganzer Meteoritenschwarme oder Zeiten starker globaler Abkuhlung. Da sind sich die Fachleute noch nicht einig.
Von wegen »survival of the fittest«! Den Leuten im 19. Jahrhundert pa?te diese Idee Darwins naturlich gut ins Konzept. Sie waren ja gerade im Begriff, die menschliche Gesellschaft des beginnenden Industriezeitalters nach denselben erbarmungslosen Gesetzen zu strukturieren. Wenn die Natur so funktionierte, warum sollten es dann die Menschen anders machen?
Aber nicht die tuchtigsten, die am besten angepa?ten oder die Organismen mit den hochsten Nachkommenzahlen haben diese gigantischen Katastrophen uberlebt, sondern die glucklichsten, moglicherweise gerade die Generalisten, die es uberall irgendwie schaffen. Die Spezialisten, also gerade die besonders hoch entwickelten, an bestimmte Nischen am besten angepa?ten Arten, sind am schlechtesten mit solchen radikalen Veranderungen der Umwelt fertiggeworden. Kein Lebewesen kann sich an globale Umwalzungen anpassen, die nur einmal alle 26 Millionen Jahre eintreffen, wie das eine Theorie postuliert.