Institut war. Sie erzahlte ihm, da? sie in der Universitatsbibliothek arbeiten, nach Frankfurt, Munchen, sonstwohin fahren wurde, um dort vorhandenes Fossilienmaterial zu studieren, und er nickte immer nur und sagte: »Machen Sie nur, Ellen, machen Sie nur!« Dabei schaute er sie mit diesem verzuckten Lacheln an, das wohl vaterlich wirken sollte, aber in Wirklichkeit nur dumm und hilflos war. Ihre seltenen au?erdienstlichen Aktivitaten hatten sie eingestellt, ihre Kommunikation hatte sich auf »Guten Morgen!« und »Auf Wiedersehen!« reduziert, und Sonnenberg war anscheinend schon froh, wenn sie uberhaupt einmal das Wort an ihn richtete. Nur so war es ihr moglich geworden, immer haufiger auf die andere Seite zu fahren. Nachdem sie den anderen, den zweiten Zugang entdeckt hatte, der viel naher lag, reichten ihr fur ihre Vorhaben ja wenige Tage, und sie mu?te nicht mehr bis zur Urlaubszeit warten, um die zeitraubende und anstrengende Anreise durch die Hohle und die Meeresbucht in Angriff nehmen zu konnen.

Zuerst hatte sie mit einfachen Untersuchungen begonnen, die tatsachlich in Zusammenhang mit dem Thema ihrer Doktorarbeit standen. Wenn sie jetzt daran zuruckdachte, erschrak sie fast, mit welcher geradezu ruhrenden Unschuld sie am Anfang an die Sache herangegangen war. Sie hatte die Pflanzen, an denen sie arbeitete und die sie bisher nur als Fossilien kannte, schnell identifiziert und zunachst durch stundenlanges Beobachten, spater mit einfachen Experimenten versucht herauszufinden, wie ihre Bestaubungsbiologie funktionierte. Sie verhullte die noch unreifen Bluten mit feiner Gaze und erhielt auf diese Weise erste Hinweise darauf, da? tatsachlich gro?ere Tiere die Bestauber sein mu?ten, denen durch die Stoffhaube der Zugang zu den Bluten verwehrt war.

Dann beobachtete sie eines Abends im Dammerlicht, wie fruchtfressende Fledermause bei dem Versuch, an die fleischigen Blutenboden heranzukommen, uber und uber mit Pollen eingepudert wurden und mit ihren nun gelbgefarbten Kopfen, geschminkt wie fur eine Karnevalsparty, durch das Geast zur nachsten Blute hangelten. Es hatte keine drei Wochen gedauert, bis ihre Aufgabe gelost war, eine Arbeit, die, nur auf die fossilen Uberreste der Pflanzen gestutzt, Jahre in Anspruch genommen oder sich womoglich am Ende gar als undurchfuhrbar erwiesen hatte.

Die unerwartet rasche und umfassende Klarung ihres Problems lie? sie zunachst verwirrt innehalten. Sie fiel in ein tiefes Loch, uberlegte lange, was sie in dieser fur sie nun vollkommen neuen, veranderten Welt anfangen sollte. Es war ein unertraglicher Gedanke, zu Hause, in der fernen Zukunft, so tun zu mussen, als forsche sie weiter an ihren Fossilien herum.

Sie begann, nach dem Vorbild der gro?en klassischen Naturforscher, systematisch Pflanzen und Tiere zu sammeln, aber bald odete sie diese Beschaftigung an. Es machte einfach keinen Sinn. Fruher hatten Humboldt, Darwin und Bates und wie sie alle hie?en - es waren naturlich ausschlie?lich Manner -, mit ihren Schatzen die Magazine und Vitrinen der heimischen Museen gefullt. Ganze Schiffsladungen von toten Tieren und Pflanzen wurden nach Europa transportiert und sorgten dort fur Gesprachsstoff in den wissenschaftlichen Gesellschaften. Aber was sollte sie mit ihrer immer umfangreicher werdenden Sammlung anfangen, deren Konservierung im feuchttropischen Klima des Eozans noch dazu gro?te Probleme bereitete?

Was lag also naher, als sich den wirklich gro?en Fragen der Biologie zuzuwenden, den Fragen der Evolution, zu denen sie ja jetzt exklusiv und in vollig neuartiger, geradezu atemberaubender Weise Zugang gewonnen hatte.

Sie ging dazu uber, kleinere, quasi chirurgische Eingriffe vorzunehmen, um sich den Mechanismen und verschlungenen Wegen des Organismenwandels zuzuwenden. Sie versuchte, bestimmte Pflanzenarten flachendeckend zu beseitigen, kleinere Baume zu fallen, bluhende Krauter auszurupfen, gezielt bestimmte Farb- und Formvarianten von Bluten miteinander zu kreuzen, und dann, zuruckgekehrt in ihre eigentliche Welt, durch intensives Studium herauszufinden, ob ihre Aktivitaten in der wissenschaftlichen Literatur der Neuzeit irgendwelche Spuren hinterlassen hatten. Aber sosehr sie sich auch bemuhte, ihre kleinen Experimente und Manipulationen schienen vollig ohne Wirkung zu bleiben. Sie fand nichts, was auch nur im entferntesten mit ihren Versuchen im Tertiar in Verbindung zu bringen war, ihre Bedeutung als neuer Evolutionsfaktor war gleich Null.

Sie wurde ungeduldig. Die Eingriffe, die sie vornahm, wurden immer weitreichender, rigoroser, hektischer - es gab ja niemanden, der sie daran hatte hindern konnen. Aber nichts geschah, nichts schien sich in der Neuzeit zu verandern, alles ging seinen gewohnten Gang und eine ungeheure Wut begann sich in ihr auszubreiten. Wie atzende Saure begann diese Wut sie zu zerstoren. Bald ha?te sie alles und jeden, einschlie?lich sich selbst, und, durch ihr wochenlanges Eremitendasein im tertiaren Urwald entwohnt, ging sie schlie?lich jedem unnotigen Kontakt zu anderen Menschen aus dem Wege, vereinsamte vollig.

Die Veranderungen an ihr selbst nahm sie in seltenen Momenten der Besinnung durchaus wahr, ja, sie zitterte manchmal vor Angst, wenn sie abends allein in ihrem Bett lag und daran dachte, welchen verhangnisvollen Weg sie eingeschlagen hatte. Aber da? irgend etwas an ihren Untersuchungsmethoden nicht in Ordnung sein konnte, daran dachte sie nie. Im Gegenteil, Eingriffe wie die ihren hatten seit jeher zum bewahrten Methodeninventar der biologischen Wissenschaften gehort. Entwicklungsbiologen schnitten ihren Studienobjekten Extremitaten, Kopfe und ganze Korperhalften ab, um zu sehen, was daraus wurde, Genetiker bestrahlten ihre Versuchstiere so lange mit harter Strahlung, bis schwerwiegende Mi?bildungen auftraten, die Ruckschlusse auf die Funktionsweise der geschadigten Gene ermoglichten, Neurobiologen kappten Augenstiele, Antennen und andere Sinnesorgane, um herauszufinden, was mit den durchtrennten Nervenenden und den zustandigen Hirnregionen geschah, ob sie sich irgendwie veranderten oder ganzlich zuruckbildeten, Okologen entfernten die Rauber aus naturlichen Lebensgemeinschaften und verfolgten, welchen Einflu? deren Fehlen auf Zusammensetzung und Haufigkeitsverteilungen der verbliebenen Artengemeinschaft hatte.

Was tat sie denn anderes, als einige unbedeutende Aste des unendlich fein verzweigten Lebensbaumes zu amputieren, um dann die erzielte Wirkung zu studieren? Nein, ihre Methoden waren alles andere als neu. Das war gute alte und seit vielen Jahrzehnten bewahrte Forschungstradition. Nicht besonders geistreich, aber aller Anfang war eben schwer. Zuerst mu?te man einflu?reiche Parameter erst einmal als solche erkennen, bevor man sie genauer unter die Lupe nehmen konnte.

Auch das umgekehrte Vorgehen war gang und gabe. Fremde Gene, Zellen, ja, ganze Korperteile wurden eingepflanzt und transplantiert, um zu verfolgen, wie die Empfanger damit umgingen, und auch sie hatte schon ernsthaft in Erwagung gezogen, lebende Organismen der Neuzeit mit in die Vergangenheit zu nehmen, rauberische Insektenarten zum Beispiel, die sie zu einem Gladiatorenkampf besonderer Art - neu gegen alt - auf besonderen Versuchsflachen freisetzen konnte, wenn sie nur gewu?t hatte, wo sie entsprechende Mengen an Tiermaterial herbekam.

Solche Versuche hatten naturlich einen besonderen Reiz, konnten sie doch vielleicht die hei?umstrittene Frage beantworten helfen, ob es tatsachlich so etwas wie eine kontinuierliche Hoherentwicklung gegeben hatte, ob moderne Organismen wirklich so uberlegen waren, wie viele Leute glaubten, und in direkter Auseinandersetzung mit ihren Vorgangern triumphierten, weil ihre Eigenschaften die besseren Antworten auf die Herausforderungen der Umwelt darstellten. Das waren faszinierende Fragen. Sie hatte sogar angefangen, die Samen einiger moderner Pflanzenarten auszusaen, aber sie hatten sich nur sehr langsam und in unzureichender Zahl entwickelt, und eines Morgens waren sie von irgendeinem tertiaren Pflanzenliebhaber restlos abgefressen worden. Aber sie hatte vor, in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Solche kleinen Fehlschlage konnten sie nicht entmutigen.

Nein, sie hatte nicht die geringsten Bedenken bei dem, was sie tat, sondern sah sich im Gegenteil in einer langen Tradition biologischer Experimentalforschung, in einer Reihe mit den beruhmtesten Namen dieser Wissenschaft. Sie zweifelte im ubrigen keine Sekunde, da? die meisten ihrer Kollegen genauso gehandelt hatten, wenn sie an ihrer Stelle gewesen waren. Sie hatte die Hohle ja nicht geschaffen. Sie war gewisserma?en daruber gestolpert und machte sich nun ihre Moglichkeiten zunutze, so wie es jeder andere Wissenschaftler auch getan hatte. Die Molekularbiologie hatte ihre Forschungen ja auch nicht eingestellt, nachdem bestimmte, heute nobelpreisgekronte Entdeckungen gezielte Eingriffe in das Erbgut moglich gemacht hatten.

Dann war plotzlich Tobias aufgetaucht. Er schleimte sich bei Sonnenberg ein und gewann, wie sie mit wachsendem Entsetzen mitansehen mu?te, Schritt fur Schritt sein Vertrauen, wurde schlie?lich zu seinem Erwahlten, dem er das Geheimnis offenbarte. Durch Axt und die lautstarke Auseinandersetzung in Sonnenbergs Zimmer war dieser Verdacht nun zur Gewi?heit geworden.

Damals hatte sie die Gefahr nur kommen sehen wie ein fernes Unwetter, das sich langsam der Kuste naherte und von dem sie nicht wu?te, ob es sie nicht doch verschonen und voruberziehen wurde. Sie war sogar mit Tobias ins Bett gegangen, um herauszubekommen, was er wu?te und was Sonnenberg mit ihm vorhatte. Es war ein Alptraum, wie er da in seinem knarrenden, engen Bett auf ihr lag und keuchte wie ein Herzkranker, wie seine knochigen Finger sie begrabschten, seine Zunge in ihren Mund drangte und sie seine maroden Vorderzahne an ihren Lippen spurte. Sie hatte nur dagelegen und gehofft, da? es bald vorbei sein wurde. Aber diese

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