Angriff

Obwohl er in der Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, war Axt am nachsten Morgen einer der ersten in der Station. Er verspurte keinerlei Mudigkeit, im Gegenteil, er brannte darauf, endlich aktiv werden zu konnen.

Marlis hatte er nur kurz beim Fruhstuck gesehen und ihr in knappen hastigen Satzen erzahlt, was passiert war. Von seiner nachtlichen Entdeckung sagte er nichts. Wie hatte er ihr das auf die Schnelle erklaren sollen? Stefan ging es deutlich besser. Axt war noch in der Nacht hinauf in sein Zimmer gegangen, ware im Dunkeln fast uber das hundegro?e Triceratops gestolpert, das mitten im Raum stand, und hatte eine Weile am Bett des Jungen gesessen. Stefans Stirn war kuhl und seine Atemzuge ruhig und gleichma?ig. Er hatte sich wohl wirklich nur irgendein harmloses Virus eingefangen, wie das bei Kindern oft vorkam. Axt war erleichtert. Das, was er jetzt tun mu?te, fiel ihm auch so schon schwer genug.

Er kochte sich in seinem Arbeitszimmer einen Kaffee und rief dann in Berlin bei Prof. Schubert an, dem Evolutionsbiologen, der ihn damals zu seinem Vortrag eingeladen hatte.

»Ah, Dr. Axt, naturlich erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«

»Bestens, danke«, sagte Axt, und zum ersten Mal seit langer Zeit gab er diese Antwort ehrlich und ohne zu zogern.

»Was kann ich fur Sie tun? Was machen die Fossilien? Ich habe gehort, bei Ihnen gehen seltsame Dinge vor.«

Nanu, woher wu?te denn Schubert davon? Vielleicht hatte es in der Zeitung gestanden. Aber dieser ratselhafte Fossilienschwund war nicht das, was Axt im Moment beschaftigte, jedenfalls nicht in erster Linie.

»Ja, Sie haben recht«, sagte er trocken. »Aber mein Anruf hat einen anderen Grund.«

»Namlich?« Schubert war anzumerken, da? er liebend gern mehr uber die Vorgange in Messel erfahren hatte.

»Ich wollte Sie fragen, wer sich bei Ihnen in Berlin mit Kafern beschaftigt?«

»Mit Kafern ... Sie meinen, hier am Institut?« fragte Schubert zuruck, seine Enttauschung nur muhsam verbergend. »Nun ja, wir haben hier ziemlich viele Entomologen im Haus, wissen Sie, kommt mir manchmal wie eine Art Epidemie vor. Aber Kafer, sagen Sie ... ja, ich denke, da sollten Sie sich mit Rothmann in Verbindung setzen. Bei ihm mu?ten Sie genau an der richtigen Adresse sein. Worum geht es denn eigentlich, wenn ich fragen darf?«

Er durfte nicht. Axt ignorierte die Frage. »Konnten Sie mich mit ihm verbinden?«

»Ja, naturlich, das geht schon, aber da mu? ich sie zuerst an die Telefonzentrale weiterreichen. Dauert einen Moment. War nett mit Ihnen zu plaudern.«

»Ja, fand ich auch. Danke fur Ihre Hilfe.«

Es klickte mehrmals im Horer, dann horte er eine mechanische Frauenstimme, die in regelma?igen Abstanden »Bitte warten Sie!« sagte.

Er war so in Gedanken versunken, da? er die Veranderung am anderen Ende der Leitung zunachst gar nicht bemerkte. Eine Frau aus Fleisch und Blut erkundigte sich, was er wolle.

»Oh, ja, entschuldigen Sie, ich hatte gerne Prof. Rothmann gesprochen, Zoologisches Institut. Ja, ich warte.«

Der Zufall mochte ja an vielen Stellen seine Finger im Spiel haben, aber in diesem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht.

Sicherheit, noch vor wenigen Tagen ware ihm nie in den Sinn gekommen, da? er dieses Wort im Zusammenhang mit den mysteriosen Vorgangen in Messel einmal in den Mund nehmen konnte. Das war doch eindeutig ein Fortschritt. Er wartete.

»Rothmann?«

»Ja, hier Helmut Axt, Senckenberg-Au?enstelle Messel. Herr Rothmann, ich wei? nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich .«

»Naturlich erinnere ich mich. Sie waren - lassen Sie mich uberlegen - im November oder Dezember letzten Jahres hier, stimmt’s? Zu diesem denkwurdigen Colloquium.«

»Denkwurdig?«

»Ja, wissen Sie, wir hatten noch einige bemerkenswerte Vortrage in dieser Reihe, und ich habe unseren altehrwurdigen Vorlesungssaal mein Lebtag noch nicht so voll erlebt. Im Sommersemester werde ich das Colloquium organisieren, und ich wette, es werden sich keine zehn Figuren dahin verirren. Na ja, man mu? mit dem zufrieden sein, was man hat, nicht wahr? Evolution ist halt immer noch das gro?e Ratsel, mocht ich sagen. Es la?t uns alle wieder zu neugierigen Kindern werden. Das wird wohl auch so bleiben.«

»Wahrscheinlich, es sei denn, wir konnten dabei sein, im Tertiar zum Beispiel«, sagte Axt und mu?te im stillen schmunzeln uber seine Dreistigkeit. Jetzt ri? er schon hintergrundige Witzchen uber die Angelegenheit. Davon abgesehen war seine Bemerkung naturlich Unsinn. Dabei war man in diesem Spiel namens Evolution immer, egal ob in ferner Vergangenheit oder in der Gegenwart. Ein Aussteigen war unmoglich.

Rothmann lachte trotzdem. »Haha, da haben Sie recht. Das wurden wir doch alle gerne. Na ja, aber ich nehme nicht an, da? Sie mit mir uber unsere Jugendtraume plaudern wollten. Was verschafft mir denn die Ehre? Ich sage Ihnen gleich, von Fossilien habe ich keine Ahnung.«

»Nein, nein, deswegen rufe ich auch nicht an. Wissen Sie, ich suche jemanden, und ich habe gehofft, da? Sie mir vielleicht helfen konnen.«

»So? Wer ist es denn?«

»Nach meinem damaligen Vortrag bei Ihnen kam ein junger Mann zu mir und erkundigte sich nach unseren Kafern. Er schien mir au?erordentlich interessiert zu sein, ja . und da dachte ich, da? er irgendwie naher mit diesen Tieren zu tun haben mu?te. So bin ich auf Sie gekommen.«

»Hm«, sagte Rothmann. »Wie sah er denn aus, dieser junge Mann?«

»Er war sehr gro?, mindestens eins neunzig, wurde ich sagen, vielleicht gro?er. Jungenhaftes Gesicht, schlaksig, mittellange dunkelblonde Haare, eher schuchtern.«

»Hm, nach Ihrer Beschreibung konnte das ungefahr ein Viertel der mannlichen Studentenschaft gewesen sein. Aber ... vielleicht war es unser Michael Hofmeister. Zumindest wei? ich definitiv, da? er auch bei Ihrem Vortrag anwesend war. Er will bei mir seine Diplomarbeit schreiben, oder vielleicht sollte ich besser sagen: er wollte.«

»Wieso?«

»Na, wir haben schlie?lich schon Ende Marz, und er hat sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen. Wissen Sie, unsere Kafer da drau?en im Wald warten nicht darauf, bis die Damen und Herren Studenten ihr ziemlich ausgepragtes Erholungsbedurfnis befriedigt haben. Die rennen einfach los, wenn’s warm genug wird, und dann mussen wir zur Stelle sein, sonst gehen uns wichtige Daten verloren.«

»Sie meinen, er ist verschwunden?« Axt wurde hellhorig. Irgendein Gefuhl sagte ihm, da? er auf dem richtigen Wege war. »Wie war noch mal der Name?«

»Michael Hofmeister. Na ja, verschwunden wurde ich das nicht nennen, eher verschollen. Er war halt schon lange nicht mehr hier. Er wollte in Urlaub fahren, soviel ich wei?, aber es ist mittlerweile eine ziemlich lange Reise geworden. Vielleicht hat er sich auch anders entschieden und geht jetzt zu den Genetikern. Okologie ist out, wissen Sie, zu deprimierend fur unsere jungen Leute. Statt dessen rennen sie jetzt scharenweise zu den Gentechnologen. Na ja, ich kann es ihnen kaum verdenken. Damit la?t sich ja wohl auch als Biologe endlich einmal richtig Geld verdienen.«

»Wissen Sie, wo er hingefahren ist?«

»Warten Sie, da mu? ich uberlegen. Richtig, in die Slowakei wollte er, genau, jetzt fallt’s mir ein. Ich wei? noch, da? ich mich daruber gewundert habe, was ein Mensch um diese Jahreszeit in der Slowakei verloren hat. Ich meine, zum Skifahren oder so gibt’s doch sicher aufregendere Reiseziele.«

»Bestimmt! Und wann ist er losgefahren?«

»Sie wollen es aber genau wissen.«

»Ja, entschuldigen Sie, ich bin aufdringlich, ich wei?. Aber ich mu?te ihn wirklich sehr dringend sprechen. Es ware sehr wichtig fur mich.«

»Ja, aber wissen Sie, so genau interessiere ich mich eigentlich nicht fur das Privatleben meiner Studenten.

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