Tobias ging es keineswegs besser, im Gegenteil. Weder sein Arm noch die Wunde am Kopf sahen besonders ermutigend aus. Seine Stirn war gluhend hei?, und noch im Laufe des Vormittags begann er zu phantasieren. Manchmal schrie er unvermittelt auf, walzte sich unruhig hin und her, murmelte unverstandliches Zeug oder Namen, die sie nicht kannten. Ein paarmal rief er nach Sonnenberg, einmal glaubte Micha den Namen Pillen zu verstehen. Dann schlief er wieder wie ein Toter. Seine Haare waren von Schwei? und Blut pitschna? und verklebt.
Als es im Laufe des Vormittags immer hei?er wurde, bauten sie mit Hilfe der ubriggebliebenen Zeltstange und einer Decke einen primitiven Sonnenschutz, damit Tobias nicht der intensiven Strahlung ausgesetzt war. Schatten bot ihr Lagerplatz erst am Nachmittag. Micha bekam nach der durchwachten Nacht und von der nun unerbittlich auf sie niederbrennenden Sonne bohrende Kopfschmerzen.
Irgendwann am Nachmittag brach dann Claudia zusammen. Sie heulte, war vollig verzweifelt und begann, ihm bittere Vorwurfe zu machen, wie sie uberhaupt auf die Idee kommen konnten, ein solches Schwachsinnsunternehmen in Angriff zu nehmen. Sie hatte Angst, panische Angst und lie? sich nicht beruhigen. Wenn er versuchte, sie anzufassen, schlug sie seine Hand weg und schaute ihn nur bose an. Dabei wu?te sie ja selbst, da? sie sie nicht gerade gezwungen hatten mitzukommen. Ihre Vorwurfe entbehrten jeder Grundlage.
Es war ein seltsames Hin und Her, das sich da zwischen ihnen abspielte. Kaum rastete einer von ihnen beiden aus - er in der Nacht vorher und jetzt sie -, wurde der andere ganz ruhig und uberlegt, so als ob sie beide instinktiv spurten, da? wenigstens einer von ihnen einen halbwegs klaren Kopf behalten mu?te.
Nur, wenn sie Tobias versorgen mu?ten, ihm Wasser einflo?ten, ihn loffelweise mit einer Tutensuppe oder aufgeweichtem Zwieback futterten und die schwei?nassen Haare aus seiner Stirn wischten, herrschte ein trugerischer Frieden.
Trotz ihrer Bemuhungen schien sich Tobias’ Zustand eher zu verschlechtern. Er war kaum noch ansprechbar, und in den wenigen Momenten, in denen er einigerma?en bei Verstand schien, stierte er sie mit unnaturlich geweiteten, truben Pupillen an, als seien sie blutrunstige Kannibalen, die sich anschickten, ihm jedes Glied einzeln auszurei?en.
Sie waren am Ende ihrer Krafte. Wenn sie wenigstens noch in der Nahe des Bootes gewesen waren. Aber zwischen ihnen und der rettenden Titanic lag eine krafteraubende Bergwanderung. Tobias wurde das niemals durchstehen. Ihre Lage war katastrophal.
Am Abend beschlossen sie, da? sich abwechselnd jeweils einer von ihnen etwas abseits vom Lager hinlegen sollte, um zu schlafen. Sie futterten Tobias mit einer Champignoncremesuppe, von der er aber kaum etwas herunterbekam. Wenigstens gelang es ihnen, ihm zwei Schlaftabletten und Antibiotika gegen eine mogliche Entzundung einzuflo?en. Das war alles, was sie fur ihn tun konnten. Ihre Hilflosigkeit angesichts seines Zustandes war eklatant.
Obwohl Micha als erster die Wache ubernehmen und Claudia spater wecken sollte, mu?te er irgendwann eingenickt sein. Im Morgengrauen weckte ihn Claudia, aber es war kein Vorwurf in ihrem Blick, im Gegenteil. Sie legte sich zu ihm, umarmte ihn fest, pre?te sich an ihn.
Sie schauten nach Tobias, der noch fest schlief, aber es sah nicht so aus, als ob sich Wesentliches an seinem Zustand geandert hatte. Das Haar klebte ihm an der Stirn. Das Fieber schien nachgelassen zu haben, aber er hatte noch immer erhohte Temperatur. Seine Lippen waren aufgesprungen, fast so, wie Micha es von fruher in Erinnerung hatte. Eine Woge zartlicher Zuneigung uberfiel ihn bei diesem Gedanken und trieb ihm Tranen in die Augen. Claudia sah ihn fragend an, aber er konnte nicht sprechen, streckte nur hilfesuchend die Arme aus. Sie umarmten sich noch einmal, und er lie? seinen Tranen freien Lauf. An einem leichten Beben ihres Korpers spurte er, da? sie ebenfalls weinte. Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hande und ku?te sie mit einer verzweifelten Leidenschaft auf den Mund und ins Gesicht, die er so noch nie an sich erlebt hatte. Sie schien erst uberrascht, gab dann aber ihren Widerstand auf, und bald ku?ten sie sich gegenseitig die Tranen aus dem Gesicht.
Einige Zeit spater sa?en sie schweigend nebeneinander und schlurften am bleiern dahinflie?enden Flu? ihren Morgenkaffee. Pencil lag neben Tobias, der noch immer schlief. Sie wu?ten beide, da? heute eine Entscheidung fallen mu?te. Entweder es ging Tobias etwas besser, dann konnten sie vielleicht noch ein, zwei Tage abwarten, bevor sie mit einem etwas erholten Patienten die Ruckreise antraten, oder sein Zustand war gleichbleibend schlecht, was bedeuten wurde, da? sie im Grunde keine Minute mehr zu verlieren hatten. Wie sie es unter diesen Umstanden nach Hause schaffen sollten, war ihnen allerdings ein Ratsel.
Irgendwann wachte Tobias auf, und im ersten Moment schien es tatsachlich, als ginge es ihm besser. Er schaute sie mit muden, farblosen Augen an und sagte: »Mir geht’s absolut dreckig, Leute. Ich fuhl mich zum Kotzen.«
»Ich wei?«, sagte Micha und legte ihm seine Hand auf die Stirn. »Was macht dein Arm?«
»Tut hollisch weh.« Er schlo? die Augen. Sein Kehlkopf hupfte auf und nieder. »Ich hab Durst.«
»Klar! Moment!« Claudia holte eine Wasserflasche und hielt sie an seinen Mund. Muhsam hob er den Kopf. Wahrend er mit dem gesunden Arm die Flasche hielt und gierig trank, stutzte sie seinen Nacken. Dann sank er mit einem Stohnen zuruck. Nein, besonders ermutigend sah das alles noch nicht aus. Wahrscheinlich hatte er wirklich eine Gehirnerschutterung oder eine schlimme Infektion.
»Vielleicht sollten wir mal nachschauen, wie dein Arm aussieht«, sagte Claudia.
»Wofur soll das gut sein? Wir konnen doch sowieso nichts machen«, antwortete Micha. Er hatte panische Angst davor, diesem Arm auch nur nahe zu kommen.
»Tobias, was meinst du?« fragte sie. Er schien jedoch gar nichts mitbekommen zu haben, zeigte keine Reaktion, lag nur mit geschlossenen Augen und offenem Mund im Schatten des wackligen Sonnenschutzes und atmete.
Claudia streckte die Hand nach dem notdurftigem Verband aus, aber kaum beruhrte sie den verletzten Arm, ri? Tobias die Augen auf und stie? einen gellenden Schrei aus.
Ihre Hand zuckte zuruck, als hatte sie an gluhendes Metall gefa?t.
»Bist du verruckt?« Er krummte sich, wandte sich ab und wimmerte nur noch. »Nicht anfassen, nicht anfassen!«
»Du siehst doch, da? es keinen Sinn hat«, schrie Micha sie an. Ihm war, als spure er den Schmerz am eigenen Leib, ein morderisches Brennen, das alle anderen Empfindungen abtotete.
»Und?« schrie sie zuruck, erschreckt und verletzt. »Wei?t du vielleicht was Besseres?«
Das war ihr letzter Versuch, noch etwas fur Tobias’ Arm zu tun. Sie gingen sich danach eine Weile aus dem Weg. Claudia stand beleidigt auf und kummerte sich um Pencil, der etwas zu kurz gekommen war in den letzten zwei Tagen. Micha blieb neben Tobias sitzen. Der von Felsen eingerahmte Lagerplatz kam ihm jetzt wie ein Gefangnis vor. Tobias hatte die Augen wieder geschlossenen, sah etwas entspannter aus. Micha wu?te nicht, ob er eingeschlafen war oder einfach nur so dalag.
Wahrend er eine Zigarette rauchte, beobachtete er Claudia, die in der Nahe des Ufers mit ihrem Hund spielte. Es wurde langsam hei?, und ihre Geschaftigkeit kam ihm etwas ubertrieben vor.
Was sollten sie tun? Noch abwarten oder ohne Verzug aufbrechen? Und wenn sie sich nun entschlossen, noch heute umzukehren, was war, wenn Tobias nicht mitspielte, aus Angst vor den zu erwartenden Schmerzen und Strapazen? Oder wenn ihm einfach die Kraft fehlte? Der Marsch uber die Berge hinunter in die Wuste, wo ihr Boot lag, wurde schon im gesunden Zustand kein Vergnugen sein.
Plotzlich erstarrte Claudia und stie? einen seltsamen erstickten Laut aus. Sie stand unbeweglich da und starrte mit einem Gesicht, das grenzenlose Verwirrung ausdruckte, auf eine Stelle hinter ihm.
Er wagte nicht, sich umzublicken. Zuerst dachte er, irgendein Untier pirsche sich in seinem Rucken heran, zum Beispiel der schon lang erwartete Sabelzahntiger, und dieser Gedanke trieb ihm augenblicklich dicke Schwei?perlen auf die Stirn. Wie sollten sie Tobias, der bei jeder Beruhrung schrie wie am Spie?, einen der Felsen hochschaffen, um ihn und sich selbst in Sicherheit zu bringen? Au?erdem, wenn der Angriff von dahinten kam, war ihnen der Fluchtweg abgeschnitten. Es blieb dann nur noch der Flu?.
Aber nein, Claudia hatte anders reagiert, wenn dort irgendein gefahrliches Tier aufgetaucht ware. Was war da? Ihm kroch eine Gansehaut eiskalt den Rucken hinunter. Dann fa?te er sich ein Herz, nahm allen Mut zusammen und drehte sich ruckartig um.
Pencil fing an zu bellen. Selbst der Hund hatte ziemlich lange gebraucht, um zu reagieren. Zwischen zwei Felsen, die einen schmalen Durchgang frei lie?en, stand eine Gestalt. Micha wurde durch die Sonne geblendet, aber es bestand kein Zweifel: Dort stand ein Mensch.