anderen in den Schlafsack. Auf Wachen verzichteten sie. Wenn die Grabungsrauber sich hier hinunterwagen sollten, wurden sie uber die schlafenden Fossilienwachter stolpern.

Auch Axt war in seinen dicken Daunenschlafsack geschlupft, aber er konnte nicht schlafen. Es war eiskalt. Sein Atem gefror zu einer kleinen Wolke. Meistens lagen die Temperaturen hier unten noch um einige Grade niedriger als in der Umgebung. Die Grube war ein Kalteloch. Vielleicht hatten es die Diebe deshalb nicht geschafft, ihre Beute in einer Nacht zu bergen. Es war gut moglich, da? der Boden hier nachts auch jetzt noch gefror.

Er horte vereinzelte Schnarcher, und von der Studentengruppe wehte leises Gefluster heruber, das aber bald verstummte. Die Nacht war stockfinster, der Himmel bedeckt, kein Mond, keine Sterne, nichts, woran sich seine Augen festhalten konnten, und so starrte er einfach in eine schwarze, unendliche Leere.

Marlis hatte recht gehabt. In der letzten Zeit hatte sich seine ruhige, gemachliche Tatigkeit in einen Stre?job sondergleichen, der ansonsten so betuliche Stationsalltag in ein Tollhaus verwandelt. In einem unaufhorlichen Gedankenstrom jagten die Ereignisse der letzten Zeit durch seinen Kopf. Aufgeschreckt durch die katastrophalen Folgen seines Schweigens, hatte er Marlis seit dem Zusammenbruch alles erzahlt. Sie war bestens informiert, und nachtelang hatten sie zusammen im Wohnzimmer gesessen und uberlegt, was das Ganze zu bedeutet hatte. Wenn er bei alldem nicht vollig durchgedreht war, dann war das nicht zuletzt ihr Verdienst.

Sie war es auch, die ihn vor kurzem auf einen ganz und gar verruckten Gedanken gebracht hatte, der ihn seitdem nicht mehr loslie?.

»Kannst du dich noch an den Sonntag erinnern, wo ich dich stockbetrunken vor dem Fernseher angetroffen habe?« hatte sie gefragt, und naturlich konnte er sich erinnern. Das wurde er nie vergessen. »Da lief doch dieser Film im Fernsehen mit ein paar Kindern, die irgendwie durch die Vergangenheit reisten.«

Die Moglichkeit einer Zeitreise hatte er bisher aus gutem Grund au?er acht gelassen. Schlie?lich war er Naturwissenschaftler, auch wenn die Kollegen aus den harteren Disziplinen uber einen wie ihn die Nase rumpfen mochten. Nur damals, als er mit seinem vom Alkohol benebelten Kopf vor dem Fernseher gesessen hatte, war ihm eine Zeitreise plotzlich als eine mogliche Erklarung erschienen. Aber die Existenz dieses Menschenskeletts in seiner Grube Messel und nun das spurlose Verschwinden der Fossilien, war das nicht alles so verruckt, so au?ergewohnlich, da? man dazu auch au?ergewohnliche Erklarungen in Erwagung ziehen mu?te?

Plotzlich scho? ihm eine Erinnerung durch den Kopf, die ihn sich augenblicklich aufrichten lie?. Im Trubel der letzten Tage hatte er ihn vollig vergessen, diesen Pavarotti der Palaontologie, Dr. Emilio Di Censo, ihn, und was er zu dem Prachtkafer gesagt hatte, den Sonnenberg ihm geschenkt hatte.

»Das ist eine Falschung«, hatte Di Censo behauptet, und der Mann war eine Koryphae auf seinem Gebiet. Sicher, auch so jemand konnte sich irren, aber sein Urteil anzuzweifeln grenzte schon an Majestatsbeleidigung.

Und so abwegig war der Gedanke nicht. Falschungen waren in ihrem Gebiet leider keine Seltenheit. Fossilien und die damit verbundenen weitreichenden Spekulationen haben die Phantasie der Menschen schon immer au?erordentlich beflugelt, und im Laufe der Jahrhunderte hatten viele der Versuchung nicht widerstehen konnen, hei?umstrittenen Theorien auch durch gezielte Verbreitung von Falschungen zum Durchbruch zu verhelfen. Der englische Piltdown-Mensch war nur ein Beispiel von vielen.

Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde der furstbischofliche Leibarzt Johannes Bartholomaus Beringer, stimuliert durch einige Skelettfunde, zum fanatischen Sammler und lie? seine Studenten in Kompaniestarke in die Steinbruche der Wurzburger Umgebung ausschwarmen. Und diese wurden trotz anfanglichen Murrens in uberraschender Weise fundig. Sie schleppten seltsame Steintafeln an, mit noch seltsameren Darstellungen darauf: kopulierende Frosche, fressende Kafer und Spinnen, Blutenknospen, Kometen, Sterne und schlie?lich sogar Schriftzeichen. Beringer war hingerissen und schrieb mit den Lithopraphiae Wirceburgenis ein dickleibiges Werk mit genauen Beschreibungen aller Fundstucke. Fur ihn waren sie der uberzeugende Beweis fur eine schopferische Naturkraft, die naturliche Dinge in Stein formte und ihnen dann womoglich Leben einhauchte. Fur die Nachwelt waren es die Lugensteine. Erst als ein Stein mit Beringers eigenem Namenszug auftauchte, flog der Studentenulk auf. Verzweifelt versuchte der arme Mann daraufhin, die Verbreitung seines Werkes zu verhindern, indem er alle Bande aufkaufte, deren er habhaft werden konnte. Aber seine Scham war so gro?, da? er sich schlie?lich umbrachte.

Auch Paul Kammerer setzte seinem Leben ein Ende, als herauskam, da? seine sensationellen Praparate gefalscht waren. Kammerer war Lamarckist und versuchte durch Experimente mit Geburtshelferkroten die Vererbung erworbener Merkmale zu beweisen. Er zwang die armen, normalerweise landlebenden Tiere dazu, sich im Wasser zu paaren, und behauptete, den Mannchen wuchsen infolgedessen die fur andere Arten typischen, dunkel gefarbten Paarungschwielen. Diese anatomische Veranderung lie?e sich auch in der folgenden Generation nachweisen und sei demnach vererbbar. Quod erat demonstrandum! Aber die dunklen Schwielen an den Fingern der Mannchen erwiesen sich als das Resultat einer weder von Darwin noch von Lamarck vorgesehenen Chinatinteninjektion, und auch die in seinen Veroffentlichungen angegebene Zahl von untersuchten Krotengenerationen war so hoch, da? Kam-merer mit seinen Untersuchungen schon als Kleinkind begonnen haben mu?te.

Bis heute ist der Vorwurf der Falschung eine scharfe Waffe geblieben. Erst in jungster Zeit hatte sich Sir Fred Hoyle sehr kritisch zu dem angeblichen Federkleid des Archaeopteryx geau?ert. Die englische Presse sturzte sich auf die vermeintliche Wissenschaftssensation und nannte den beruhmten Urvogel fortan spottisch Piltdown-chicken. Wieder war das Ganze nur vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Theorien zu verstehen. Wie kann, darauf hatte ja auch Sonnenberg in ihrem Gesprach damals abgehoben, eine so komplizierte Struktur wie die Vogelfeder plotzlich, scheinbar aus dem Nichts auftauchen, ohne da? sich vorher auch nur die Spur einer Andeutung dieser Entwicklung gezeigt hatte? Wer das nicht glauben wollte, fur den war es einfacher, die Federn fur eine Falschung zu halten.

Oft genug regierte naturlich auch nur der schnode Mammon. Viele der auf Trodelmarkten und in Steineladen angebotenen Fossilien waren falsch. Aber es war ein himmelweiter Unterschied, ob kunstlerisch begabte Menschen versuchten, Trilobi-ten oder Muschelschalen aus Stein zu formen, um damit Geld zu verdienen, oder ob jemand ein modernes Insekt so manipulierte, da? es einem tertiaren Verwandten zum Verwechseln ahnlich sah. Wenn Di Censo recht hatte und der Kafer tatsachlich eine Falschung war, was hatte Sonnenberg dann damit bezweckt, das Tier ausgerechnet an ihn weiterzugeben? Oder war auch er nur auf einen Betrug hereingefallen?

Wenn Sonnenberg die Flugeldecken des Prachtkafers mit Metallfarbe oder was auch immer verandert hatte, dann jedenfalls nicht, um das Tier als Fossil auszugeben. Im Gegenteil, er behauptete ja, es sei ein heute lebendes Insekt, das einer fossilen Art nur sehr ahnlich sah. War das einfach nur ein seltsamer Scherz eines schrulligen Alten, oder ging es Sonnenberg vielleicht um mehr, zum Beispiel um diese Lazarusphanomene, die ihn schon wahrend ihres Gespraches so beschaftigt hatten? Wollte er beweisen, da? die Welt nur so wimmelte von uralten, totgeglaubten Kreaturen? Axt argerte sich jetzt, da? er Di Censo nicht noch viel intensiver uber das Tier befragt hatte. Nach allem, was passiert war, konnte er jetzt schlecht noch einmal nachhaken.

Er lag schon lange wach, war mude und erschopft, aber die Erinnerung an den Prachtkafer hatte jede Aussicht auf Schlaf vorerst unmoglich gemacht. Denn da gab es noch etwas, etwas, das auch mit dem Kafer zu tun hatte. Irgend etwas im Zusammenhang mit diesem mysteriosen Kafer spukte da noch in seinem Kopf herum, aber er kam einfach nicht darauf. Es lie? sich nicht greifen, entwischte ihm immer wieder. Es war wichtig, er wu?te es genau, hatte es die ganze Zeit uber gewu?t, aber es wollte ihm im Augenblick nicht einfallen. Sonnenberg und seine Assistentin waren es nicht, aber es hatte mit seinem Vortrag in Berlin zu tun. Zu dumm! Manchmal war man einfach wie vernagelt. Es lag ihm auf der Zunge, es ...

Dann, als hatte der Gedanke an Di Censo eine Art Erdrutsch in seinem Kopf ausgelost, sah er diesen hoch aufgeschossenen Studenten auf sich zukommen, damals in Berlin nach seinem Vortrag. Die Diskussion war gerade beendet worden, und er war dabei gewesen, sein Manuskript zu ordnen, da hatte er ihn schon kommen sehen. Er hatte so unsicher gewirkt, so, als ob ihn irgend etwas zutiefst erschuttert hatte. Das war nicht nur einfaches Interesse gewesen, von der ublichen Nervositat uberlagert.

Ja, jetzt, Monate spater, meinte er plotzlich eine Art Seelenverwandtschaft zwischen sich und dem Fragesteller zu entdek-ken, eine Verbindung, so als litten sie an derselben Krankheit, als schleppten sie dieselben Zentnergewichte mit sich herum, als kampften sie mit denselben unsichtbaren Feinden. »Wissen Sie zufallig, ob es heute noch ahnliche Formen gibt«, hatte er gefragt und dann noch hinzugefugt: »Ich meine, sehr ahnliche.« Er konnte sich jetzt genau erinnern.

»Ich meine, sehr ahnliche ...«

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