Tobias schlug die Augen auf. Er sah Micha an und merkte wohl, da? irgend etwas nicht stimmte.
»Was is’n los?« nuschelte er mude.
»Da ist jemand«, sagte Micha leise.
Ihm fiel ihre Entdeckung am Flu?ufer ein, die Cola-Dose und die alte Feuerstelle. Plotzlich sah er sie vor sich, verlotterte, heruntergekommene, halb verhungerte Gestalten, die ihre Chance erkannt hatten, jetzt da sie durch Tobias’ Verletzung geschwacht und ein leichtes Opfer geworden waren. Er dachte daran, da? sie au?er ihren Taschenmessern keinerlei Waffen besa?en.
»Was soll das hei?en: jemand?«
»Ein Mensch!«
Wenn er
Micha war einen Moment durch Tobias abgelenkt, als Pen-cils Bellen lauter wurde und Claudia rief: »Er kommt her, Micha!« Jetzt spurte er die Angst in ihrer Stimme. »Micha, er geht auf euch zu!«
Tatsachlich! Die Gestalt kam langsam naher, wachsam, lauernd, wie ihm schien. Gehetzt blickte Micha sich um, weil er sie plotzlich uberall vermutete. Die Gegend hatte genugend Deckung fur eine ganze Kompanie geboten. Wenn sie sich dort irgendwo versteckt hatten, einen koordinierten und geplanten Angriff durchfuhrten, dann waren sie verloren. Was ihnen als geschutzter Lagerplatz erschienen war, entpuppte sich nun als Falle.
Aber da war nur diese eine Gestalt. Es war ein Mann, das konnte er jetzt deutlich erkennen, ein alterer schlanker Mann mit einem wirren Vollbart, kurzen Hosen und einem Schlapphut. Er hatte seine Position zwischen den Felsen verlassen und kam langsam auf sie zu. Er war bewaffnet, trug ein Gewehr. An seinem Hals baumelte ein Fernglas.
Micha sprang auf. Der Fremde ging noch ein paar Schritte weiter, blieb dann aber stehen, legte das Gewehr auf den Boden und hob die Hande. Beide Arme in die Luft gestreckt, kam er naher.
»Was soll das hei?en?« Claudias atemlos gesprochene Worte horte Micha jetzt direkt neben sich. Er hatte vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt, da? sie zu ihnen herubergelaufen war. Pencil baute sich zwischen ihnen und dem ratselhaften Mann auf und klaffte sich die Seele aus dem Leib, aber die schlanke Gestalt kam unbeirrt naher, die Hande noch immer in die Luft gestreckt.
»Das konnte eine Falle sein«, flusterte Micha.
»Pencil, sei still! Komm her!« Claudias Stimme klang ungewohnt bestimmt, und tatsachlich gehorchte der Dackel, trottete auf sie zu und legte sich knurrend neben den wie hypnotisiert wirkenden Tobias in den Sand.
Der Mann war vielleicht noch funfzehn Meter entfernt, als er den Mund offnete: »Ich glaube, ihr konnt Hilfe brauchen.«
Er sprach deutsch. Dieser Mensch, den es eigentlich gar nicht geben durfte, sprach tatsachlich deutsch. Seine Stimme knarrte wie eine alte verklemmte Tur, die seit Jahrhunderten nicht mehr geoffnet worden war.
»Was wollen Sie von uns?« rief Micha ihm zu, versuchte so entschieden wie moglich zu klingen.
»Ich sagte doch, ich will euch helfen.« Wieder dieses Knarren.
»Er lugt!« zischte Tobias. Micha ignorierte ihn.
»Wie kommen Sie auf die Idee, da? wir Hilfe brauchen?«
»Das ist kaum zu uberhoren.« Er deutete auf Tobias und fa?te sich an seinen linken Arm.
Der Kerl wu?te genau Bescheid. Konnte es sein ... ? Er warf Claudia einen ratlosen Blick zu. Sie zuckte zuerst mit den Achseln, dann nickte sie schwach. In ihren Augen glomm ein schwacher Hoffnungsschimmer. Tobias sah sie entsetzt an.
»Seid ihr wahnsinnig?« keuchte er. »Ihr glaubt dem? Das kann doch nicht wahr sein. Was ist, wenn er die Titanic will? Vielleicht sind da noch mehr von der Sorte.«
»Sind Sie allein?« rief Claudia.
»Ja!«
»Also gut! Kommen Sie naher, aber langsam.«
»Ihr seid ja verruckt!« schrie Tobias. Seine Stimme klang hysterisch, uberschlug sich fast, aber er ruhrte sich nicht von der Stelle.
»Vielleicht kann er uns wirklich helfen«, sagte Micha, aber Tobias starrte ihn mit fiebrigen Augen nur ha?erfullt an.
Besonders gefahrlich sah der Eozan - so hie? er bei ihnen, so lange bis sie seinen Namen erfuhren - wirklich nicht aus. Er war eher klein, schlank, ja, durr, drahtig, und er lachelte, ja, er lachelte aus seinem wilden Vollbart heraus, und auf seinem braungebrannten Gesicht spiegelte sich so etwas wie Mitgefuhl und Besorgnis, jedenfalls bildete er sich das ein. Der Mann hatte so, wie er dastand, irgendwie etwas Vaterliches. Micha schatzte ihn auf Ende Funfzig, er konnte aber leicht auch zehn Jahre alter oder junger sein.
War das nur ein Trick, ein besonders fieser Plan, mit dem er sie in die Falle locken wollte? War ihr Wunsch nach Hilfe so stark, waren sie schon so verzweifelt, da? sie sich blenden lie?en und alle Vorsicht verga?en?
Dann tat Claudia etwas Unerwartetes. Sie stand auf und ging auf den Mann zu, der jetzt in etwa zehn Metern Entfernung dastand, ohne sich zu ruhren. Die beiden sprachen miteinander, so leise, da? Micha nichts verstehen konnte.
Tobias beobachtete die beiden mit starrem Blick, kniff aber ab und zu die Augen zusammen, so als sei er mude und habe Muhe, die Lider aufzuhalten.
Gespannt warteten sie auf das Ergebnis des Palavers. Claudia deutete auf ihren Arm, wohl um die Stelle zu zeigen, an der Tobias’ Arm gebrochen war, und der Mann nickte. In seiner hellbraunen Lederweste, dem flachen Schlapphut und den seltsamen Sandalen, deren Bander mehrfach um seine sehnigen Unterschenkel gewickelt waren, sah er aus wie ein Gro?wildjager, ein Entdecker aus dem letzten Jahrhundert.
Dann schien die Aussprache beendet zu sein. Claudia kam zuruck, aber der Eozan blieb, wo er war.
»Ich hab ihm erklart, was passiert ist, aber er wu?te schon alles«, sagte sie. Ihr Gesicht war gerotet vor Aufregung. Sie sprach hastig und schnell.
»Und?«
»Er hat uns schon seit Tagen beobachtet.«
»Seit Tagen schon?«
Sie nickte. »Er sagt ...«, sie beugte sich etwas naher zu ihm, damit Tobias sie nicht verstehen konnte, »er sagt, er kann uns helfen.«
Ja, sie hatte neue Hoffnung geschopft. Er sah es in ihren Augen. Sie vertraute diesem mysteriosen Fremden.
Es schien fast zu schon, um wahr zu sein. Sie sa?en in der Patsche, und schon tauchte wie Phonix aus der Asche ein Mann auf, der behauptete, ihnen helfen zu konnen, obwohl sie doch eigentlich die einzigen menschlichen Wesen hier sein sollten. Aber dieser Mann war kein Engel und hoffentlich auch kein Teufel. Er war aus Fleisch und Blut, oder, wenn man ihn so ansah, eher aus Haut und Knochen, jedenfalls ein lebendes Wesen wie sie, und Michas Widerstreben, ihm zu vertrauen, schmolz dahin wie Butter in der Pfanne. Sie hatten eh nichts zu verlieren.
Aber Tobias, was war mit Tobias? Ohne seine Mitwirkung wurde ihnen selbst das Rote Kreuz nichts nutzen.
»Tobias, hast du gehort?« Er fa?te ihn vorsichtig an der Schulter, und der Verletzte zuckte sofort zusammen.
»La?t mich in Ruhe!« Es klang gequalt. Seine Augen waren geschlossen, zusammengepre?t. Er hatte sich abgewandt.
Wieder war es Claudia, welche die Initiative ergriff. Mit glasklaren Worten erklarte sie ihm die Situation. Sie fragte ihn, ob er lieber sterben wolle, als sich helfen zu lassen, wie lange er wohl glaube, noch durchhalten zu konnen, ob er sie alle lieber ins Verderben schicken wolle. Sie sei mit ihrem Latein jedenfalls am Ende. Er habe es in der Hand, was aus ihnen werden solle.
Irgendwann ergab er sich in sein Schicksal, lie? allen Widerstand fallen. Was sollte er auch tun? Sie hatten