keine Wahl. Er hatte keine Wahl. Tobias wurde schlaff, schrumpfte, sackte in sich zusammen. Die Anstrengungen der letzten Minuten hatten ihm das Letzte abverlangt. Aus seinen Augenwinkeln rannen einzelne Tranen herab. Er war wutend uber seine Hilflosigkeit, daruber, da? sie die Kontrolle so aus der Hand gegeben hatten, und er hatte Angst, Angst vor Schmerzen, vor all dem, was jetzt auf ihn zukommen konnte. Mit einer Vollnarkose oder wenigstens einer ortlichen Betaubung war hier wohl nicht zu rechnen. Was nun kommen mu?te, wurde alles andere als angenehm sein.

Auf einen Wink von Claudia hin trat der Fremde naher. Er nickte Micha ernst zu, kniete sich neben Tobias auf den Boden und knurrte: »Zeig mal her den Arm, mein Junge!«

Tobias zeigte keine Reaktion. Vollig unbeweglich lag er da und machte den Eindruck, als habe sich sein Bewu?tsein tief nach innen verkrochen, irgendwohin, wo niemand und nichts an ihn herankommen konnte. Selbst als der Eozan mit dunnen knochigen Fingern langsam und vorsichtig den Verband abzuwickeln begann, verzog er nur einmal kurz das Gesicht. Was schlie?lich zum Vorschein kam, war wirklich kein schoner Anblick. Der halbe Unterarm hatte sich verfarbt und war erheblich angeschwollen. Claudia und Micha warfen sich einen entsetzten Blick zu, und der Mann brummte und schuttelte ein paarmal seinen markanten Schadel. Sein Gesicht, sein ganzer Korper schien kein Gramm Fett zu enthalten, nur Knochen, Muskeln und Sehnen. Die uber Wangenknochen und Nase straff gespannte Haut verlieh ihm etwas Arabisches, aber nach den wenigen Satzen, die er bisher von sich gegeben hatte, stand au?er Zweifel, da? dieser Mann Deutscher war, Hesse um genau zu sein, sofern solche Kategorien hier und jetzt uberhaupt noch eine Bedeutung hatten.

Der Eozan offnete seinen Mund und gab eine Reihe stiftformiger Zahne frei. »Das sieht schlimmer aus, als ich dachte. Wir mussen ihn zu mir bringen. Hier kann ich nichts fur ihn tun.«

»Und wo ist das?« fragte Claudia. Ihr Blick klebte an Tobias’ entstelltem Arm.

Er wies mit der Linken auf das Gewirr der Felsen hinter uns. »Etwa zwei Stunden von hier.« Seine Stimme klang jetzt etwas weicher, aber immer noch so, da? Micha unwillkurlich meinte, sich rauspern zu mussen.

»Hm, und wie sollen wir ihn dahin transportieren?« fragte er. »Er kann ja kaum stehen.«

Der Eozan zuckte nur mit den Achseln. »Tja, wir werden wohl laufen mussen. Krankenwagen oder so etwas gibt es hier nicht.«

Die grauen Augen schienen Micha durchbohren zu wollen.

Was wollt ihr hier? Was habt ihr hier verloren? schien der Blick zu sagen. Das ist kein Spiel. Ihr habt hier nichts zu suchen, ihr seht ja, was passieren kann. Micha senkte den Blick und kam sich vor wie ein kleines Kind.

»Habt ihr ihm Antibiotika gegeben?« Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Wunde noch einmal von allen Seiten.

»Ja, eine ziemliche Dosis.«

»Gut! Die wird er auch brauchen.« Er wickelte den Verband wieder vorsichtig herum, fragte nach weiterem Verbandsmaterial und fixierte damit den verletzten Arm fest an Tobias’ Oberkorper. Seine Handgriffe wirkten ruhig und gekonnt, und je langer er ihm zuschaute, desto gro?er wurde Michas Vertrauen in seine Fahigkeiten. Der Mann schien wirklich zu wissen, was er tat.

Tobias gab nur hin und wieder ein Stohnen von sich, lie? aber alles mit zusammengebissenen Zahnen widerstandslos uber sich ergehen. Micha hatte um nichts in der Welt mit ihm tauschen wollen.

In Wirklichkeit benotigten sie fur den beschwerlichen Weg mehr als vier Stunden. Tobias hatten sie zwei Schmerztabletten gegeben und dann wahrend des gesamten Weges immer abwechselnd gestutzt. Er hielt sich prachtig, auch wenn er das eine um das andere Mal vor Schwache strauchelte und sie haufig anhalten mu?ten, um ihn nicht zu uberfordern.

Nach einer Weile anderten sie die Marschrichtung und verlie?en den Flu?, bogen im rechten Winkel von ihrer bisherigen Route ab und liefen auf ein paar felsige Hugel zu. Mit jedem Schritt entfernten sie sich nun von dem Flu?, der sie bis hierher gebracht hatte, ein Gedanke, den Micha anfangs au?erst unbehaglich fand. Auch Claudia, die Pencil an der Leine fuhrte, blickte sich immer wieder beunruhigt um, suchte mit ihren Blicken den Flu?, an dessen Ufer in einigen Tagesreisen Entfernung auch ihr Boot lag. Micha kam es vor, als durchtrennten sie die Nabelschnur, das einzige, was sie noch mit der Heimat verband.

Links erhoben sich bald einige schroffe Felsformationen, hinter denen ab und zu die Sonne verschwand, so da? sie im Schatten marschieren konnten.

Sie liefen jetzt einen richtigen ausgetretenen Pfad, der auf den Gipfel eines der Hugel zu fuhren schien, das erste Zeichen von Zivilisation seit ihrer Durchquerung der Hohle. Eine halbe Stunde spater hatten sie ihr Ziel erreicht. Kein Zweifel, hier lebte dieser geheimnisvolle Mann, und er hatte sein Versteck ausgezeichnet gewahlt. Zum Berg hin von hohen Felsen uberragt, war es nur durch einen schmalen Durchgang zu erreichen und bot gleichzeitig einen phantastischen Blick uber die darunter liegende Savanne. In der Ferne erkannte Micha King und Kong, die Vulkane, die Herden, den Flu? und auf der anderen Seite etwas, das wie eine grune Mauer aussah.

Er wunderte sich keine Sekunde daruber, da? dieser Mann in einer Hohle hauste. Vor dem eigentlichen Hohleneingang hatte er eine Art holzernen Vorbau errichtet, der kuhlen Schatten spendete. Dort lie? sich Tobias vollkommen erschopft fallen und umklammerte mit der Linken schutzend seinen verletzten Arm. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und war schwei?gebadet. Ihr Gastgeber verschwand kurz in der Hohle, kam aber gleich darauf wieder und wies auf zwei primitive selbstgezimmerte Hocker, die unter dem Holzdach standen.

»Am besten ihr beiden la?t euch hier nieder und ruht euch erst einmal aus. Wenn ich euch brauche, rufe ich.« Das sollte wohl hei?en, da? er von ihnen nicht gestort werden wollte.

Wahrend sie sich kaum noch ruhren konnten, gonnte er sich keine Ruhepause, sondern ging sofort zur Sache, Er wandte sich Tobias zu, der auf dem Boden sa?, mit dem Rucken an den Felsen gelehnt. »So, dann wollen wir die Sache mal hinter uns bringen.«

Er griff unter die Achsel des gesunden Armes, zog Tobias ohne gro?e Muhe auf die Beine und fuhrte den vor Angst und Schwache zitternden Patienten in die Hohle, die von drau?en wie ein pechschwarzes Loch aussah. Tobias warf ihnen noch einen letzten Blick zu, einen Blick, den Micha nie vergessen wurde, voller Angst, voller Schmerz, ein einziger stummer Vorwurf. Um Gottes willen, was hatten sie denn anderes tun sollen?

Eine Weile horte man gar nichts. Sie starkten sich mit einem tiefen Schluck aus ihren Wasserflaschen. Claudia lie? Pencil aus der hohlen Hand trinken. Dann verzog sich der Dackel unter einen Felsvorsprung, rollte sich zusammen und schlief. Je langer Micha dort auf dem Hocker sa?, desto deutlicher merkte er, wie erledigt und mude er war, und, anstatt die Aussicht zu genie?en, schlo? er die Augen, lehnte sich gegen den Felsen und begann vor sich hin zu dosen, bis ihn ein entsetzlicher hohler Schrei aus dem Inneren der Hohle aufschrecken lie?. Anschlie?end horte man ein Wimmern und tiefes Brummen. Auch Claudia war eingenickt, das erkannte er an dem verschlafenen Blick, mit dem sie ihn jetzt ansah. Sie schuttelte ein paarmal verzweifelt den Kopf. Wie lange hatten sie geschlafen?

Wenig spater kam der Eozan mit einem rostigen Blecheimer in der Hand heraus und winkte Micha zu.

»He, du! Ich mu? etwas holen. In spatestens einer Stunde bin ich wieder zuruck. Pa? auf, da? er den Arm nicht bewegt«, sagte er und verschwand mit dem Eimer in dem schmalen Durchgang, durch den sie gekommen waren.

Micha versuchte sich achzend zu erheben, streckte sich und trat dann mit einem beklemmenden Gefuhl, den Nachhall des Schreies noch in den Ohren, durch den Hohleneingang in die Finsternis. Als seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewohnt hatten, fiel sein Blick zuerst auf eine Reihe von dicken abgegriffenen Buchern, die auf einem Felsabsatz in der Nahe des Einganges standen. Dann entdeckte er Tobias. Er lag weiter hinten auf einem mit alten Decken gepolsterten Felsenbett.

Irgend etwas irritierte Micha an seinem Gesicht. Zuerst glaubte er, Tobias wurde phantasieren, aber als er naher trat, sah er, da? er tatsachlich grinste. Alles hatte er erwartet, alles, nur nicht dieses Grinsen. Es kam fur ihn so unerwartet, da? er augenblicklich eine Gansehaut bekam und hellwach war. Als er sich dann uber ihn beugte, um seinen Arm zu betrachten, fiel ihm zweierlei auf: Die Beule nahe dem Ellenbogengelenk war fast verschwunden, der schreckliche Knochenstumpf nicht mehr zu sehen, und au?erdem schlug ihm ein betaubender Alkoholgeruch in die Nase. Tobias war stockbetrunken.

Ein letzter Versuch

Als Max gegangen war und er allein zuruckblieb, empfand Axt ein seltsames Gefuhl der Ruhrung. Er wurde sich in Ruhe uberlegen, was er mit Max anfangen sollte, aber er konnte sich im Augenblick kaum vorstellen, da? er ihn einfach auf die Stra?e setzen wurde, nicht, nachdem alles so glucklich verlauten war.

Es war schon spat. Eine Weile sa? er noch allein neben den beiden in Plastikfolie und Zeitungspapier

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