dachte daran, was jetzt wohl in der Grube los sein mochte. Naturlich wurden sie versuchen, Messi zu bergen, so schnell wie moglich, das war klar. Und es wurde verdachtig wirken, da? er nicht da war. Aber er war so froh daruber, wie glimpflich alles abgelaufen war, da? er sich daruber zunachst keine Sorgen machte. Das kam erst spater und wurde von Stunde zu Stunde unertraglicher, als er sich schlie?lich zu der Bergungsmannschaft gesellte und abends in die glucklichen und abgekampften Gesichter blickte. Wahrend der Feier oben in der Station hatte er sich am liebsten unsichtbar gemacht, irgendwo verkrochen, unter der Kellertreppe oder hinter den Schieferplatten mit den Fossilien.
Es war in diesen Minuten, in denen sich die allgemeine Anspannung in frohliche Ausgelassenheit entlud, da? er uberlegte, zu Axt zu gehen und ihm alles zu erzahlen. Als dann der mude aussehende Hackebeil mit ihm als letztem zuruckblieb, beschlo? Max, die Sache am besten gleich jetzt hinter sich zu bringen.
»Konnt ich Sie mal ‘n Moment sprechen?«
»Ja. Was gibt’s denn, Max?« antwortete Hackebeil und schaute ihn dabei so an, als wisse er schon alles.
Die nachsten Stunden vergingen wie in Trance. Micha konnte sich spater kaum noch an Einzelheiten erinnern, aber irgendwie mu?ten sie wohl zum Lagerplatz zuruckgefunden haben. Claudia durchlebte bei ihrer Ruckkehr ein Wechselbad der Gefuhle, denn ihrer ersten Erleichterung, beide wiederzusehen, folgte unmittelbar die Erkenntnis, da? irgend etwas Furchtbares passiert war.
Schon auf dem Ruckweg zum Lager schien Tobias Hollenqualen auszustehen und drohte mehrmals zusammenzubrechen. Als sie dann spater versuchten, seinen linken Arm zu schienen, fiel er endgultig in Ohnmacht. Er hatte uberall Blut, besonders am Kopf, aber auch an den Armen, an seinen Sachen, und es war Micha anfangs unmoglich gewesen einzuschatzen, wie schwer er wirklich verletzt war. Immerhin konnte er sich aus Tobias’ bruchstuckhaft hervorgesto?enen Schilderungen langsam zusammenreimen, was passiert war. Bei dem Versuch, einen Felsen hochzuklettern, war Tobias ausgerutscht und abgesturzt.
So einfach war das, geradezu erschreckend banal. Ein Mi?geschick, ein schlichter Fehltritt, kein Kampf mit den Giganten, keine Gro?wildjagd, keinerlei dramatisches Drumherum, selbst im nachhinein kaum als spannendes Reiseabenteuer verwertbar. Er war geklettert, gefallen und hatte sich den Arm gebrochen, so, wie wahrscheinlich Hunderte von erholungshungrigen Urlaubern jedes Jahr uberall in der Welt. Normalerweise ein unglucklicher, zweifellos unangenehmer, jedoch keineswegs dramatischer Zwischenfall. Aber hier .?
Tobias’ medizinische Versorgung, wenn man das, was sie beide in der Lage waren zu tun, uberhaupt so nennen konnte, war fur jemanden wie Micha, der bisher schlimmstenfalls mit blutenden Schnittwunden und aufgeschurften Knien konfrontiert worden war, ein schrecklicher Alptraum. Tobias, der bei jeder unvorsichtigen Beruhrung schrie, mit vereinten Kraften das Hemd auszuziehen, den verdreckten Stoff vorsichtig Millimeter fur Millimeter uber seinen verletzten Arm zu ziehen war eine Tortur fur alle Beteiligten. Schwei?gebadet und schwer atmend lie? Tobias sich danach auf eine der Matten sinken, die sie mit ihren Schlafsacken weich gepolstert hatten. Auch Micha war leichenbla? und mu?te sich danach erst einmal eine Beruhigungszigarette gonnen.
Dieser Arm, er sah so schrecklich kaputt aus, man konnte es nicht anders beschreiben. Tobias hielt ihn vom Korper weg wie ein nutzloses, fremd gewordenes Anhangsel, zu dem er keine Beziehung mehr hatte. Es war ein offener Bruch, soviel war klar. Fassungslos starrten sie alle drei das entstellte Korperteil an, den unnaturlichen Knick, diese blutige, tiefblaurot unterlaufene Beule, die, etwa zehn Zentimeter vom Ellenbogen entfernt, seinen Unterarm in zwei ungleiche Halften teilte und aus der wie ein totes Stuck Holz wei?licher, zersplitterter Knochen ragte. Nach erregten Debatten entschlossen sie sich schlie?lich, den Arm mit Hilfe einer der Zeltstangen notdurftig zu fixieren. Was sollten sie auch anderes tun?
Es dauerte nur wenige Minuten - Claudia hatte gerade erst begonnen, mit zusammengepre?ten Lippen den Verband um Zeltstange und Arm zu wickeln -, da verabschiedete sich Tobias zunachst einmal. Ohne Vorwarnung sackte er fast lautlos in sich zusammen und fiel auf die Seite. Es hatte nicht viel gefehlt, und Micha hatte sich dazu gelegt.
Jetzt konnten sie ihm wenigstens einigerma?en problemlos den Arm verbinden und nachschauen, ob er noch weitere Verletzungen aufwies. Sie untersuchten ihn vorsichtig und stellten fest, da? er sich au?er einigen Schurfwunden und Prellungen nur eine stark blutende Wunde am Kopf zugezogen hatte, von der wohl all das Blut stammte. Das Schlimmste war also der Arm, vielleicht kam noch eine Gehirnerschutterung dazu.
Als Tobias eine halbe Stunde spater aufwachte, flo?ten sie ihm zwei Schmerz- und eine Beruhigungstabletten ein, und zu ihrer gro?en Erleichterung schlief er bald vollig entkraftet wieder ein.
Uber ihren stumperhaften medizinischen Versuchen war die Dammerung hereingebrochen. Unter einem sternenklaren Himmel sa?en Claudia, Pencil und Micha schlie?lich frostelnd um ihre Petroleumlampe, kauten trockenen Zwieback, zuckten bei jeder Bewegung, jedem Stohnen, jedem Rocheln von Tobias zusammen und versuchten zu begreifen, was passiert war.
Es war etwas geschehen, was eigentlich undenkbar war, ein Tabu, uber das zu reden, sich vorher niemand getraut hatte, etwas, was unter keinen Umstanden hatte geschehen durfen: Jemand von ihnen hatte sich ernsthaft verletzt. Mit einer Erkaltung, mit Durchfall, mit Verstauchungen und ahnlichen Bagatellen waren sie zu Rande gekommen. Darauf waren sie vorbereitet. Aber mochte Tobias’ Verletzung auch nur halb so schlimm sein, wie sie ihnen zunachst erschien, in ihrer jetzigen Situation war sie allemal gefahrlich genug, nicht nur fur ihn, sondern fur sie alle. Sie waren hier buchstablich mutterseelenallein, an einem unwirtlichen Ort, in einer fernen, unwirtlichen Zeit. Sie waren vollig auf sich allein gestellt, durch eine wochenlange strapaziose Reise von jeder Aussicht auf Hilfe meilenweit und Millionen Jahre entfernt.
Sie redeten nicht viel und wenn, dann nur belangloses Zeug. Einerseits waren sie todmude, andererseits war an Schlaf nicht zu denken. Tobias wachte im Laufe der Nacht immer wieder auf, stohnte, jammerte, fluchte, und wenn er schlief, waren Claudia und Micha ohne Ablenkung ihren Angsten ausgeliefert.
Micha argerte sich uber Tobias, weil er sie in diese Situation gebracht hatte. Dann wieder qualte er sich mit Selbstvorwurfen und Schuldgefuhlen herum, weil ihm uberhaupt solche Gedanken kamen. Ihm fiel ein Film ein, den er irgendwann einmal gesehen hatte und der in den einsamen Waldern Kanadas spielte. Eine stumme, zierliche Frau mu?te darin ihrem Mann, gespielt vom bulligen Oliver Reed, mit der Axt ein Bein amputieren, nachdem er im tiefsten Winter in eine Barenfalle getreten war und die furchtbare Wunde sich entzundet hatte.
Aber sie hatte es einfach abgehackt. Ganz auf sich allein gestellt, war ihr nichts weiter ubriggeblieben. Entweder sie tat es, oder er wurde sterben.
Zack! Immer wieder sah Micha die Axt herabsausen. Einmal in seinem Kopf lie? ihn dieser Gedanke nicht mehr los. Er sah die Zahne, die sich in einen Lederfetzen verbissen, als die Klinge ihn traf, die weit aufgerissenen Augen, das schwei?bedeckte Gesicht.
»Wir mussen zuruck!« sagte Claudia. Sie war uberraschend gefa?t, aber ihr Gesicht wirkte hart, wie versteinert. Hin und wieder rieb sie sich uber die Augen. Micha konnte es im Schummerlicht der Petroleumlampe kaum erkennen, aber es sah so aus, als wischte sie sich die eine oder andere stille Trane aus den Augenwinkeln.
»Ja!« Naturlich hatte sie recht. Sie waren nicht in der Lage, Tobias’ Verletzung angemessen zu versorgen. Um diese Erkenntnis konnten sie sich nicht herummogeln. »Aber in diesem Zustand konnen wir ihn unmoglich transportieren.«
»Dann mussen wir eben warten, bis es ihm etwas besser geht.«
»Und was ist, wenn es nicht besser wird? Wenn sich der Arm entzundet? Wahrscheinlich hat er sich schon infiziert. Er hat schlie?lich Fieber.« Blutvergiftung, Wundstarrkrampf, Amputation. Alle diese schrecklichen Begriffe gingen ihm durch den Kopf. »Au?erdem wachst der Arm schief zusammen. Wir konnen ihn nicht richten. Wir ...«
»Hor auf!« fuhr sie ihn an. »Das wei? ich selbst. Genau deshalb mussen wir ja zuruck.«
»Entschuldige, ich .« Er zitterte vor Angst und Kalte.
Tobias meldete sich mit einem gequalten Stohnen, als protestiere er gegen ihre Plane. Sein Kopf rollte ein paarmal hin und her.
Spater in der Nacht versuchten sie abwechselnd, wenigstens ein bi?chen zu schlafen, aber zumeist blieb es bei dem qualenden Versuch. Erst kurz vor Sonnenaufgang schliefen sie beide ein, um wenig spater von den ersten Sonnenstrahlen wieder geweckt zu werden.