klapperdurre ha?liche Karikatur von einem Mann schien in ihr uber sich hinauszuwachsen, wollte oder konnte einfach zu keinem Ende finden. Er muhte sich ab, bis ihr die Tranen kamen und er sich von ihr hinunterwalzte und sie wutentbrannt anschrie: »Mu?t du jetzt auch noch rumflennen? Reicht es nicht, da? du nur daliegst wie eine Schaufensterpuppe?« Dabei war alles umsonst gewesen. Sie hatte wahrend seiner hoffnungslosen Versuche, sie in Stimmung zu bringen, nur erfahren, da? er zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte. Das alles war schon viele Monate her, aber noch heute schuttelte sie sich vor Ekel, wenn sie daran dachte.
Eines Tages hatte sie vor dem Sumpf gestanden, mit der daneben aufragenden, leicht uberhangenden Wand aus Sand und Geroll. Ihr kam die Idee zu einem weiteren, besonders vielversprechenden Experiment, das den Rahmen ihrer Moglichkeiten allerdings bei weitem zu uberschreiten drohte. Sie brauchte Sprengstoff. Bei ihren fruheren Untersuchungen der Fauna und Flora hatte sie herausgefunden, da? hier in diesem Gebiet einige Arten lebten, die sonst nirgendwo vorkamen. Der Sumpf lag isoliert, ein ehemaliger See, der im Begriff war, vollstandig zu verlanden. Am Fu? des Uberhangs befand sich eine Hohle, in der viele Fledermause den Tag verschliefen.
Wieder daheim suchte sie viele Abende lang irgendwelche entsetzlichen Kneipen auf, die in der Nahe von Kasernen lagen, und tatsachlich gelang es ihr, einen Soldaten abzuschleppen, einen gro?en, kraftigen, gutmutigen Typen namens Dennis, der Zugang zu den Waffenkammern seines Bataillons hatte und dem bei ihrem Anblick fast die Augen herausfielen. Wenn sie sich in irgendwelchen schabigen Hotelzimmern trafen, versuchte sie alles zu tun, von dem sie glaubte, da? es einem Mann wie ihm gefallen konnte, und nach ein paar Wochen hatte sie ihn soweit. Eines Tages erschien er mit einem schmucklosen Holzkastchen, in dem sauberlich aufgereiht wie seltsam geformte exotische Fruchte zehn Handgranaten lagen.
»Ich hab zwar keine Ahnung, was du damit vorhast, Baby«, sagte er und schaute sie mit seinen braunen Augen irgendwie angstlich an, »aber ich hoffe, da? es keine Schweinerei ist und du mich dabei aus dem Spiel la?t. Wenn jemals herauskommen sollte, da? ich dir die Dinger besorgt habe, kommen wir beide in Teufels Kuche.«
»Naturlich, mein Bar«, hauchte sie ihm ins Ohr, knabberte an seinem Ohrlappchen. »Ich wei?! Du kannst dich auf mich verlassen. Ich wurde nie etwas tun, was dir schaden konnte.« Und das stimmte sogar. Heute kam es ihr manchmal so vor, als ob dieser gro?e dumme Junge der letzte Mensch gewesen war, dessen Gegenwart sie noch ertragen konnte, ohne da? sich ihr sofort Fluchtgedanken aufdrangten, ohne da? sie etwas anderes als Ekel und Abscheu empfinden konnte. Sie hatte ihn nie wieder gesehen.
Wenige Tage spater stand sie am Rand des Sumpfes und schleuderte mit zusammengebissenen Zahnen eine Handgranate nach der anderen in die Hohle, bis sich daraus eine Wolke von desorientierten Fledermausen ergo?, die mit schrillen Pfiffen und voller Panik hin und her fliegend den Himmel verdunkelten. Es mussen Tausende gewesen sein, die, von der Helligkeit des Tages geblendet, wild durcheinanderflatterten, und sie streckte die Hande in die Luft und schrie ihre ganze Verzweiflung hinaus in den urzeitlichen Tropenhimmel. Dann, nach der siebenten Granate, loste sich der ganze Hang, rutschte mit dunklem Rumpeln wie eine Lawine aus schwerem nassem Schnee in den Sumpf, dessen Wassermassen trage uber die schlammigen Ufer schwappten und ihre Hose und Schuhe durchna?ten. Eine Weile horte sie noch ein Glucksen und Platschen. Hier und da zappelte ein Fisch, den es an Land verschlagen hatte. Dann herrschte Stille, Todesstille. Die letzten drei Handgranaten legte sie mit zitternden Handen wieder in den Holzkasten zuruck und verstaute ihn ganz hinten in ihrem Unterschlupf.
Diesmal schien sie Erfolg gehabt zu haben. Sie hatte sich vorher immer wieder gefragt, worin sich die Auswirkungen des Erdrutsches in der Zukunft zeigen konnten, aber darauf ware sie nie gekommen. Im Brusseler Museum fur Naturgeschichte, las sie in einer Zeitung, waren auf ratselhafte Weise zwei Fledermausskelette verschwunden, wohlgemerkt nicht gestohlen, sondern einfach verschwunden. Das war zwar nicht viel, aber sie zogerte keine Sekunde, dies als erstes Ergebnis ihrer Experimente zu werten.
Offensichtlich waren die der Evolution unterworfenen Organismenarten viel tragere, stabilere Einheiten, als sie sich vorgestellt hatte. Man mu?te wirklich mit brachialen Methoden zu Werke gehen, um uberhaupt einen Effekt zu erzielen. Vielleicht stimmte es, was einige Forscher, insbesondere aus den Reihen der Palaontologen, neuerdings behaupteten: Die klassische Darwinsche Evolution, der ungerichtete, von Generation zu Generation in winzigen Schritten erfolgende Wandel der Arten und das Wirken der naturlichen Selektion hatten eher stabilisierenden als verandernden Charakter. Tier- und Pflanzenarten waren in der Regel so gut an ihren Lebensraum angepa?t, da? jede Veranderung eher schadlich als nutzlich war und durch die Selektion wieder ausgemerzt wurde. Neue Arten entstanden auf andere Weise, aber wie genau, das hatte noch niemand beobachten konnen.
Es war eine fast schon paradoxe Situation. Da gab es nun seit Darwin eine inzwischen, trotz aller Kritik im Detail, allgemein akzeptierte Theorie der Evolution, und seit mehr als hundert Jahren untersuchte eine wachsende Zahl von Forschern mit immer neuen, immer moderneren Methoden, welche Faktoren den Artenwandel steuerten, aber den eigentlichen Elementarproze?, um den es ging, die Geburt einer neuen Art, einer von anderen isolierten Fortpflanzungsgemeinschaft ahnlicher Lebewesen, hatte auch ein Jahrhundert nach Charles Darwin noch niemand zu Gesicht bekommen.
Und was hatte man nicht alles versucht. Seit den zwanziger Jahren sind ungezahlte Generationen von Fruchtfliegen, der beruhmten Drosophila Melanogaster, in ebenfalls ungezahlten Labors unter unterschiedlichsten Bedingungen herangezuchtet worden. Milliarden der winzigen Tiere wurden mit hohen Dosen von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung bombardiert und den verschiedensten Chemikalien ausgesetzt. Es wurden zahllose Mutanten erzeugt, Tiere mit roten oder wei?en oder gar keinen Augen, Fliegen mit geraden, mit gebogenen oder gar keinen Flugeln, Tiere mit den unterschiedlichsten Farb-und Behaarungsmustern, jede nur denkbare Variation wurde sorgsam registriert, aussortiert und weiter gezuchtet, aber eines ist bei alldem nie herausgekommen: eine neue Drosophila-Art. Was man auch anstellte, welche Methoden man auch anwendete, ob brachial oder raffiniert, am Ende standen die Forscher mit leeren Handen da, stie?en gegen unuberwindbare Grenzen, landeten dort, wo sie aufgebrochen waren: bei Drosophila melanogaster. Uberlie? man die mutierten Stamme sich selbst, geschah etwas Erstaunliches: Die Tiere kehrten zu ihrer ursprunglichen Gestalt zuruck, blinde Fliegen wurden wieder sehend, DDT-resistente Stamme wurden wieder genauso anfallig wie die Ausgangsrasse. Der Mensch hatte das Gummiband bis zum Rei?en gespannt, aber kaum lie? er es los, schnurrte es wieder auf seine Ausgangslange zuruck, als ware nichts gewesen.
Wenn all das nicht ausreichte, um aus einer alten eine neue Art entstehen zu lassen, was mu?te dann geschehen? Es konnte doch nicht so schwierig sein. In Hawaii waren als Folge einer einzigen, zehn Millionen Jahre zuruckliegenden Besiedlung uber 800 sehr unterschiedliche Fruchtfliegenarten entstanden.
Der Mensch hatte trotz jahrzehntelanger Versuche nicht eine einzige zustande gebracht. Ellen hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Fragen endlich zu beantworten, und sie war uberzeugt davon, nun auch uber die dazu notwendigen Mittel zu verfugen.
Ein anderes, sehr aufschlu?reiches Beispiel war der Hund, stellvertretend fur die ganze Gruppe der menschlichen Hausund Nutztiere. Anders als bei der Katze, die sich noch heute anatomisch kaum von ihren wilden Vorfahren unterscheidet, hat sich der Hund als sehr variabel erwiesen. 5000 Jahre Domestikationsgeschichte haben aus den wolfischen Vorfahren eine unubersehbare Vielfalt an Hunderassen hervorgebracht. Aber trotz einer Unzahl unterschiedlichster Gestalten und Eigenschaften, einer Variationsbreite, die weit uber jede naturlich vorkommende Variabilitat hinausgeht, ist der Hund bis heute ein domestizierter Wolf geblieben. Prinzipiell sind alle Rassen, einschlie?lich des Stammvaters, untereinander kreuzbar. Und wie im Falle der Fruchtfliege verschwinden all die muhselig angezuchteten Merkmale wieder wie von Geisterhand, wenn man die Tiere sich selbst uberla?t. Uberall auf der Welt werden wildlebende Hunde uber kurz oder lang zu derselben mittelgro?en, braun- oder schwarzgefarbten Promenadenmischung.
Tausende von Jahren und strengste Selektion in Form des zuchterischen Eingriffs durch den Menschen haben nicht vermocht, auch nur eine einzige neue Tierart zu erschaffen. Der Ubergang von einer Art zur anderen lie? sich offenbar nicht erzwingen. Die Natur stellte dabei unuberwindliche Hindernisse in den Weg. Worin bestand diese Grenze, uber die man nicht hinwegkam? Ellen war dazu auserkoren, es endlich herauszufinden.
Ein erster wichtiger Schritt war getan. Sie hatte jetzt den Beweis, da? es moglich war, uberhaupt etwas zu bewirken. Es ware auch denkbar gewesen, da? die beiden Welten, zwischen denen sie seit Monaten hin- und herpendelte, parallel nebeneinander existierten. Aber das, was sie in der Zeitung gelesen hatte, zeigte eindeutig, da? Sonnenbergs Hohle nicht in etwas fuhrte, das der irdischen Vergangenheit einfach nur ahnlich sah. Es war die Vergangenheit. Wahrscheinlich handelte es sich bei den verschwundenen Fledermausen um Tiere, die ohne ihren Eingriff irgendwann in einen See gesturzt waren, um dort uber lange Zeitspannen hinweg fossilisiert zu werden.