Sie hatte sich vorgenommen, in der Universitatsbucherei nachzusehen, ob sie nicht noch mehr finden konnte. Au?erdem wollte sie in Ruhe daruber nachdenken, welche weiteren Versuche sie nun in Angriff nehmen konnte. Sie mu?te viel gezielter vorgehen. Wahllose Rundumschlage wie der kunstlich ausgeloste Erdrutsch mu?ten die Ausnahme bleiben. Aber nachdem sie nun wu?te, da? prinzipiell eine Einflu?nahme moglich war, konnte sie doch nicht aufhoren. Sie stand erst ganz am Anfang. Sie hatte es in der Hand, eines der gro?ten Ratsel zu entschlusseln
Sie schreckte auf, als eine Tur knallte und wenig spater eine zweite. Sie schaute aus dem Fenster und sah, wie Sonnenbergs Besucher eilig die Auffahrt entlanglief und in seinen Wagen stieg.
Er wird hinterherfahren, dachte sie. Die Verlockung ist einfach zu gro?. Man kann ihr nicht widerstehen.
Was hatte Axt geschrien?
War Tobias gemeint oder dieser andere, mit dem er unterwegs war? Was war passiert? Und woher wollte er das wissen?
Hoffentlich war es Tobias! Es gab kaum jemanden, den sie so ha?te wie ihn. Und das wollte bei ihr etwas hei?en. Darauf konnte er sich direkt etwas einbilden. Wenn er es nach dieser entsetzlichen Nacht damals noch einmal gewagt hatte, sie anzuruhren, sie ware zu allem fahig gewesen, hatte ihm mit Vergnugen die Augen ausgekratzt, diesem Miststuck mit seinem lacherlichen Diamanten im Zahn.
Sie hatte es nicht eilig. Sonnenberg wu?te nichts von dem zweiten Zugang, und Axt wurde den Weg durch die andere Hohle nehmen. Er mu?te uber die Meeresbucht und den Flu? anreisen und wurde zehn bis zwolf Tage brauchen, um dahin zu gelangen, wo sie in weniger als zwolf Stunden sein wurde. Sie hatte genugend Zeit, um sich alles genau zu uberlegen.
Als fuhrte jemand mit unsichtbarer Hand Regie, lag der zweite Zugang tief in demselben Berg, in dem sie sich ihren Unterschlupf eingerichtet hatte. Naturlich hatte sie nicht die geringste Ahnung davon gehabt. Erst viel spater, als sie sich an einem regnerischen Tage einmal mit ihrer Taschenlampe tiefer in das ausgedehnte Hohlensystem vorgewagt hatte, verspurte sie plotzlich diese charakteristischen Kopfschmerzen und war einfach immer weiter in die Richtung gegangen, in der die Schmerzen starker wurden und sich die Ubelkeit in ihrem Magen steigerte. Sie konnte Schmerzen gut ertragen.
Plotzlich stand sie vor einem engen Felsspalt, durch den Sonnenstrahlen in die Hohle fielen und der so hinter dichtem Gestrupp verborgen lag, da? man ihn von au?en kaum wahrnehmen konnte. Naturlich hatte sie an den Pflanzen sofort erkannt, da? sie sich wieder in der Neuzeit befand und war eine Weile in der Gegend vor dem Felsspalt herumgelaufen. Mit einem Mal stand sie an einer schmalen geteerten Landstra?e, auf der einige Autos mit deutschem Kennzeichen entlangfuhren. Wenn sie diesen Eingang nicht entdeckt hatte, ware alles ganz anders gelaufen, dachte sie jetzt. Alles eine Kette von Zufallen. Was war das nun: Verhangnis oder Verhei?ung?
Sie packte ein paar Sachen zusammen und verlie? ohne Eile das Haus. Sie wurde es schon schaffen, alles einfach irgendwo verstecken und erst dann weitermachen, wenn sich die Aufregung gelegt hatte. Plotzlich fuhlte sie einen Stich in der Herzgegend und dachte einen winzigen Moment lang daran, da? dies vielleicht ihre letzte Chance war, aufzuhoren. Sie wies diesen Gedanken schnell von sich, setzte sich in ihren Wagen und fuhr in die Stadt, um sich mit Proviant zu versorgen.
Von dem scharfen Knall, der wenig spater aus Sonnenbergs Zimmer drang, horte sie nichts mehr.
Am nachsten Morgen wachte Micha auf, weil er Pencils feuchte Schnauze in seinem Gesicht spurte. Claudia war schon wach, stand am Rand des Hohlenvorplatzes, einer Art naturlicher Terrasse, und blickte mit dem Fernglas in die Ebene hinunter. Aus dem Inneren der Hohle horte man leise Gerausche. Auch ihr Wohltater war offensichtlich schon aktiv.
Er war wirklich ein Wohltater fur sie. Nachdem er Tobias verarztet hatte, bewirtete er sie mit einem Abendessen, dessen kostlicher Geschmack Micha jetzt noch auf der Zunge lag. Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, alles frische Lebensmittel, und dazu ein kostliches Braten, nach dessen Herkunft sie sich allerdings nicht zu erkundigen wagten. Er hatte ihnen versichert, da? sie das Fleisch bedenkenlos essen konnten. Danach hatten Claudia und Micha drau?en vor der Hohle ihre Matten ausgebreitet und waren sofort fest eingeschlafen. Ihr Gastgeber zog sich in seine Hohle zuruck, wo sich Tobias schon seit Stunden von den Strapazen der langen Wanderung erholte und seinen heftigen Rausch ausschlief, den er, wie sie nach dem Essen erfuhren, einem von ihrem Gastgeber selbst gebrannten, ziemlich herben Beerenschnaps zu verdanken hatte.
Er hie? ubrigens Herzog, Ernst Herzog, und stammte aus Frankfurt. Viel mehr hatten sie nicht aus ihm herausbekommen. Er war fruher Arzt gewesen, was seine medizinischen Kenntnisse und Fahigkeiten erklarte, aber warum er hier lebte und nicht wie seine Kollegen in Frankfurt praktizierte und ein Vermogen verdiente, daruber erfuhren sie nichts. Und woher kam das frische Gemuse, die Bucher, das Holz, aus dem das Hohlenportal gebaut war?
Er war nicht besonders redselig. Auf ihre Fragen kamen nur widerwillig oder gar keine Antworten. Sein Verhalten schwankte unvermittelt zwischen schroffer Abfuhr und freundschaftlicher Unterstutzung. Moglicherweise hatte er sich ihnen nie gezeigt, wenn sie nicht in diese Notlage geraten waren. Da? sie aus Zufall auf ihn getroffen waren, war wohl so gut wie ausgeschlossen. Sie waren durch die Landschaft gelaufen, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, da? dort ein Mensch lebte. Ihre erstaunlichen Funde hatten sie zwar warnen mussen - eine solche Begegnung hatte ja leicht auch einen ganz anderen Verlauf nehmen konnen -, aber sie hatten die Moglichkeit, tatsachlich jemandem zu begegnen, offensichtlich sehr schnell und erfolgreich wieder verdrangt und nie wirklich damit gerechnet.
Micha stieg der kostliche Geruch von Bratkartoffeln in die Nase. Die Hohle hatte einen naturlichen Abzug, einen etwa zwanzig Zentimeter breiten Luftschacht, unter dem Herzog seine Feuerstelle eingerichtet hatte. Wahrend Tobias drinnen noch schlief, verschlangen sie mit Hei?hunger ihr Fruhstuck, und Herzog verriet ihnen auf ihre erstaunten Fragen hin, da? er einen Gemusegarten angelegt habe, wo er die meisten seiner Nahrungsmittel heranzog und der, wie er mehrfach betonte, sehr viel Arbeit machte. Er versprach, sie bei Gelegenheit einmal dorthin zu fuhren. Als sie ihre Vorrate anboten, verzog er nur angewidert das Gesicht. Er habe sich nicht aus der Zivilisation zuruckgezogen, um sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf Buchsenfleisch und Tutensuppen zu sturzen, sagte er.
Bei Michas Verdauungszigarette bekam er allerdings gro?e Augen und griff bereitwillig zu, als dieser ihm eine anbot. Auch von ihrem reichlich bemessenen Tee- und Kaffeevorrat machte er gerne Gebrauch. Die Zigarette rauchte er schweigend und voller Konzentration und Genu?, ein faszinierender Anblick fur einen Raucher wie Micha, der taglich gedankenlos eine ganze Packung verbrauchte.
Kurz nach dem Fruhstuck trat Tobias aus der Hohle und kniff gegen die blendende Helligkeit die Augen zusammen. »Hm, hier riecht’s aber gut«, sagte er.
»He, Tobias«, rief Micha erfreut. »Wieder unter den Lebenden?«
Er sah schon viel besser aus. Statt eines Verbandes trug er nun einen gro?en graubraunen Klumpen um seinen Arm. Herzog hatte ihm als Gipsersatz einen dicken Stutzverband aus feuchtem Lehm angefertigt. Das Material dazu hatte er gestern nachmittag mit dem Eimer von unten hochgeholt. Der so verpackte Unterarm ruhte in einer Schlinge, die Tobias um den Hals trug.
»Wie geht’s dir denn?« fragte Claudia. Pencil lief schwanzwedelnd auf ihn zu und beschnuffelte seine nackten Fu?e.
»Bis auf die Kopfschmerzen eigentlich ganz gut. Au?erdem ...«, mit Hilfe seines gesunden Armes hob er den Lehmverband hoch, aus dem seine braungebrannte Hand ragte wie ein aufgepfropfter Fremdkorper, »‘n bi?chen klobig, das Ding hier.« Er grinste, diesmal nuchtern.
»Geniale Konstruktion«, sagte Micha anerkennend.
»Es ist ein Prototyp«, brummte Herzog und kratzte seinen wilden Bart.
»Vielen Dank ubrigens.« Tobias warf Herzog einen scheuen Blick zu. »Sind Sie eigentlich
»Tatsachlich?«
Alle Augenpaare richteten sich auf ihren Gastgeber, der ein schwaches Lacheln zeigte. Das schien uberhaupt