an den Kragen, ausgerechnet jetzt, wo ihre Anstrengungen endlich zu ersten greifbaren Resultaten gefuhrt hatten.
Sie rieb sich nervos uber das Gesicht und verlagerte ihr Gewicht, da ihr in der unbequemen Hockhaltung der Fu? einzuschlafen drohte.
»Eine Hohle?« horte sie Axt jetzt rufen. Dann naherten sich Schritte und das dumpfe Bumsen von Sonnenbergs Stock. Sie erschrak, sprang auf und rannte auf Zehenspitzen in ihr Arbeitszimmer hinuber. Aber die Tur offnete sich nicht. Sie waren wohl nur zu der Europakarte gegangen, die in Sonnenbergs Zimmer gleich links neben der Tur hing.
Sie schlich sich wieder zuruck, und, richtig, die beiden standen vor der Karte, nur einen ausgestreckten Arm weit von ihr entfernt, und sie konnte jedes ihrer Worte verstehen.
Er tat es wirklich! Sonnenberg schilderte Axt mit zittriger Stimme und in allen Einzelheiten, wie man zu der Hohle gelangte. Dann entfernten sich die Stimmen wieder, und sie wu?te, da? er jetzt die Fotos zeigte, diese lacherlichen verbla?ten Aufnahmen, die er in einer Schatulle in seinem Schrank aufbewahrte.
Sie horte einen uberraschten Aufschrei von Axt. Vielleicht hatte er das Bild von dem Brontotherium gesehen, ein miserabler Schnappschu?, aus gro?er Entfernung ohne Teleobjektiv aufgenommen, wie die Elefantenfotos ihrer Eltern, die sie von ihrer Fotosafari nach Kenia mitgebracht hatten, unformige braune Flecken in brauner, verdorrter Landschaft.
Ellen ging zuruck in ihr Zimmer, schlo? die Tur und atmete mit dem Rucken gegen das Holz gelehnt tief durch. Sie hatte genug gehort, und sie wu?te, da? sie etwas unternehmen mu?te. Wegen der verschutteten Sumpfflache drohte ihr keine Gefahr, das hatte auch ein normaler Erdrutsch sein konnen, wie sie immer wieder vorkamen. Aber da waren die Baume, deren Bluten sie damals, als sie noch einfache Untersuchungen durchfuhrte, mit kleinen Beuteln aus feiner Gaze verhullt hatte, um die Bestaubung durch Insekten oder andere Tiere zu verhindern, da waren die Fallen, die sie uberall aufgestellt hatte, um Tiermaterial zu sammeln, und schlie?lich auch all die anderen mehr oder weniger mi?gluckten Versuche, die sie spater unternommen hatte. Wenn Axt oder die anderen diese Spuren ihres Handelns entdeckten und zuruckkamen, war es wohl vorbei mit ihren Ausflugen in die Vergangenheit, vorbei mit ihren immer drastischer werdenden Versuchen, Schicksal zu spielen. Sie wurden wissen, da? sie es war. Wer sonst hatte so einfach an Sonnenbergs Unterlagen herankommen konnen?
Und wenn sie gar ihren Unterschlupf fanden, die kleine trok-kene Hohle hoch uber den Kronen der Urwaldriesen, in der sie sich aufhielt, wenn es zu stark regnete, um drau?en zu arbeiten, in der sie schlief und ihre kleine Kochnische eingerichtet hatte, dann konnten ihnen sogar ihre Aufzeichnungen in die Hande fallen, die Papiere, in denen sie ihre gesamten Aktivitaten genauestens protokollierte. Sie verfluchte jetzt ihre Angstlichkeit, aber es erschien ihr immer viel zu gefahrlich, diese Unterlagen hier im Institut oder in ihrer Wohnung aufzubewahren, obwohl sich dort au?er ihr so gut wie nie jemand aufhielt.
Es lag sicherlich nicht im Interesse ihrer Gegner, da? die Hohle bekannt wurde. Sie wurden sie kaum verklagen oder der Polizei ausliefern konnen, wenn sie sie erwischten. Was sollten sie ihr auch vorwerfen? Fur das, was sie getan hatte, gab es mit Sicherheit keine Gesetze. Aber sie konnten auf andere Weise versuchen, ihr Schwierigkeiten zu machen.
Sie spurte, wie Panik in ihr aufstieg wie atzende Magensafte. Sie schluckte, verbarg das Gesicht in ihren feuchten Handflachen und kampfte dagegen an. Sie mu?te ruhig bleiben, durfte jetzt nicht durchdrehen. Es gab vorerst keinen Anla? zur Beunruhigung.
Nach einer Weile hatte sie sich wieder einigerma?en unter Kontrolle, pre?te die Zahne aufeinander, bis ihr die Kiefermuskeln weh taten und starrte ha?erfullt auf die Zimmertur, hinter der, auf der anderen Seite des mit Fossilienbildern vollgehangten Flures, Sonnenbergs Buro lag, und wo Axt und ihr vertrottelter Chef gerade im Begriff waren, alles zu gefahrden, was sie bisher erreicht hatte. Sonnenberg, dieser damliche alte Knak-ker, der mit lusternem Blick auf ihren Hintern starrte, wenn sie sich buckte, der ihr mit geifernden Mund unter den Rock blickte, wenn sie in der Bibliothek auf der Leiter stand, der beilaufig an ihr vorbeistrich, nur um ihren Arm oder ihre Schultern zu beruhren, und bei alldem noch glaubte, sie bemerke es nicht. Vielleicht war ihm ja selber gar nicht klar, wie kindisch er sich mitunter benahm, verkalkt und verknochert wie er war.
Nein, sie war nicht besonders gut auf ihn zu sprechen. Im Grunde war ja wirklich Sonnenberg an allem Schuld. Ohne diese grenzenlose Naivitat, mit der er die Beweise fur sein unglaubliches Geheimnis uberall offen herumliegen lie?, ware sie nie dahintergekommen, ware die brave, flei?ige Studentin geblieben, die sie einmal war, schriebe jetzt an ihrer Doktorarbeit und hatte vielleicht gute Aussicht, einmal eine Stelle in einem Museum oder Forschungsinstitut zu bekommen. Aber so, mit all dem Wissen, das sie sich druben im Tertiar angeeignet hatte, war dies undenkbar fur sie geworden.
Warum schlo? er sein Arbeitszimmer nicht ab, wenn er aus dem Haus ging, oder wenigstens den Schrank, in dem die Fotos lagen und die anderen Stucke, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, der dicke Stapel mit den gepre?ten Pflanzen?
Sie war nun einmal neugierig. Das war schon immer so. Lag es daran, da? sie sich immer irgendwie hintergangen oder ausgeschlossen fuhlte, stets Angst hatte, die Leute wurden ihr irgend etwas vorenthalten? Schranke, Schubladen, Brieftaschen anderer Leute ubten jedenfalls eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Auf diese Weise war sie als Kind auf die Pornohefte in der Nachttischschublade ihrer Eltern gesto?en, auf die heimlichen Seitensprunge im Tagebuch eines fruheren Liebhabers. Sie konnte nichts dagegen machen. Diese Neugierde war ein Teil von ihr. Wenn Sonnenberg etwas geheimhalten wollte, dann sollte er gefalligst auch dafur sorgen, da? es geheim blieb, und es jemandem wie ihr nicht so leicht machen.
Als Sonnenberg einmal nicht im Hause war, fand sie den Stapel mit den Herbarbogen. Sie war Botanikerin. Sie hatte nicht lange gebraucht, um herauszubekommen, was es mit diesen gepre?ten Pflanzen auf sich hatte. Was glaubte der alte Bock eigentlich, wieviel Dreistigkeit er seiner Umgebung zumuten konnte, ohne da? seine grausigen Scherze einmal nach hinten losgingen?
Dann hatte sie die Schatulle mit den Fotos gefunden, das von der Hohle und die anderen, das Y-formige Stirngeweih eines kleines tertiaren Hirsches, den Eckzahn einer Sabelzahnkatze, daneben, eingewickelt in ein schmutziges Tuch, eine alte Pistole. Auch der Kafer auf seinem Schreibtisch schien ihr mit einem Male suspekt. Sie brachte Wochen damit zu, sich in diese verdammten Prachtkafer einzuarbeiten, die sie normalerweise einen Dreck interessiert hatten. Schlie?lich wurde ihr klar, da? auch dieses Tier nicht von dieser Welt war, jedenfalls nicht von der heutigen. Der Mann hatte sich hier in seinem Institut eingeigelt, umgeben von den Trophaen seiner abenteuerlichen Vergangenheit, und schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, was er damit vielleicht anrichten konnte. Womoglich amusierte es ihn noch, die Leute an der Nase herumzufuhren. Sie hatte er jedenfalls nicht tauschen konnen. Aber was war mit Axt? Wie hatte er uberhaupt davon erfahren? Gab es noch jemanden, der von der Hohle wu?te? Es wurden jedenfalls immer mehr.
Sie hatte weitergesucht, war schlie?lich wie besessen von diesem ungeheuerlichen Verdacht, der sich in ihrem Kopf herausgebildet hatte, versuchte Beweisstuck an Beweisstuck zu reihen. Und eines Nachmittags, als Sonnenberg zu irgendeiner Gremiensitzung au?er Haus war, stie? sie in seiner Schreibtischschublade, die er naturlich nicht abschlo?, auf eine alte, rissige und fleckige Karte der ehemaligen Tschechoslowakei. Ihr Blick irrte ziellos auf dem Plan herum, bis sie plotzlich mit klopfendem Herzen auf ein verbla?tes rotes Kreuz irgendwo in der Hohen Tatra starrte.
Was hatte sie denn tun sollen? Alles wieder vergessen? So tun, als ob nichts gewesen ware? Das Ganze nur als bravouros geloste Denksportaufgabe ansehen und ausgerechnet den letzten, den entscheidenden Schritt nicht tun ...
Naturlich fuhr sie hin, sogar mehrmals. Erst bei ihrem dritten Aufenthalt fand sie die Hohle, die sie sofort als die auf dem Foto in seinem Schrank wiedererkannte. Sie besorgte sich ein Ruderboot und fuhr hinein.
Sobald sie die Hohle passiert hatte, war es aus mit ihrem alten Leben, und es gab kein Zuruck mehr. Damals hatte sie davon naturlich nichts geahnt, tappte einfach nur hinein in diese furchterliche Halle. Jetzt, im nachhinein, wu?te sie es naturlich besser. Manchmal, in seltenen Momenten des Zweifels, fragte sie sich, ob sie nicht auf dem besten Wege war, auszuflippen, irre zu werden an dieser neuen uralten Welt, die sie entdeckt hatte, ob sie nicht Gefahr lief, einfach unter der unertraglichen Last dieses Wissens zusammenzubrechen? Sie hatte es sich nicht ausgesucht und konnte es mit niemandem teilen. Aber diese Momente vergingen wieder, und sie machte weiter.
Wenn man Sonnenberg eines nicht nachsagen konnte, dann, da? er sich intensiv um die Arbeit seiner Assistentin und seiner Studenten kummerte, die freilich immer rarer wurden und in den letzten fahren fast ganz ausblieben. Er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie tagelang, mitunter wochenlang nicht im