als ein einziger breiter Flu?lauf aus dem Dschungel herausfuhrte und in verschlungenen Windungen durch die Savanne flo?, schien sich im Wald in eine Unzahl kleiner Wasserlaufe zu verzweigen. Uberall mundeten gro?e und kleine Bache, und immer wieder mu?ten sie sich entscheiden, welcher Wasserstra?e sie folgen wollten, weil sie auf neue Gabelungen des Flu?es trafen. Das Ganze schien eine riesige, netzartig verbundene Flu?landschaft zu sein. Die Stromung war nur schwach und das Wasser nicht sehr tief, so da? wenigstens das ungewohnte Staken nicht allzu muhselig war. Trotzdem schwitzten sie wie in einer Sauna. Das Klima war morderisch. Alles war feucht, und die Kleidung klebte ihnen am Korper.

Als sie tiefer in den Wald eindrangen, fielen plotzlich eine ungeahnte Vielzahl von Stimmen uber ihre entwohnten Ohren her, so, als ob jemand einen versteckten Lautstarkeregler betatigt hatte. Alles, was es auch war, schien durcheinanderzuschreien, zu zwitschern und zu rufen. Au?er einem uberwaltigenden, hoch aufragenden und allgegenwartigen Grun konnte Micha zunachst uberhaupt keine Einzelheiten erkennen. Die Rufe, die man horte, schienen aus dem Nichts zu kommen.

Erst langsam, Detail fur Detail, setzte sein Gehirn zusammen, was Augen, Ohren und Nase in einer wahren Flutwelle von Sinneseindrucken anlieferten, so, als ob sein Verstand nach den vielen Tagen in der weitlaufigen Savannenlandschaft eine betrachtliche Tragheit zu uberwinden hatte und anfangs vor der ungewohnten Enge der Dschungelkanale und der auf ihn einsturmenden Masse von Empfindungen kapitulierte. Rings herum grunte und bluhte eine derartige Vegetationsvielfalt, da? man meinen konnte, keine einzige Pflanze sei zweimal vorhanden. Claudia murmelte fortwahrend irgendwelche lateinischen Pflanzennamen vor sich hin. Dieser Artenreichtum auf der einen und die geringe Dichte, in der viele Arten vorkamen, auf der anderen Seite waren ja auch noch in ferner Zukunft typisch fur tropische Urwalder. Aber dieser hier, durch den sie gerade fuhren, hatte, so tropisch er auch anmuten mochte, einmal mitten im Herzen von Europa gelegen.

Kraniche mit ihren langen Stelzbeinen und prachtvollem Gefieder flogen unter ohrenbetaubendem Gekreische auf, wenn sie sich ihnen naherten. Am Ufer unter dem Blatterdach oder im Gewirr dicker Pfahlwurzeln dosten Krokodile und Schildkroten, die kaum Notiz von ihnen nahmen. Auf einem Ast, der weit uber das Wasser ragte, sonnte sich eine gro?e Schlange. Aber hin und wieder sahen sie im Geast der Baume auch Wesen, die ihnen vollig unbekannt waren, groteske Mischungen aus Faultieren, Ameisenbaren, Schuppentieren und Halbaffen. Micha hatte sich nicht getraut, sie auch nur in die Nahe einer ihm bekannten Tiergruppe zu stellen. Was das Gerauschwirrwarr verursachte, das sie umgab, wagte er sich nicht einmal vorzustellen. Die Stimmen waren jedenfalls sehr viel zahlreicher als die moglichen Verursacher, die sie zu sehen bekamen.

Plotzlich schrie Claudia: »Guckt mal da!« und zeigte auf einen gro?en, dunklen, langlichen Schatten, der wie eine Eskorte neben ihnen durch das braunliche Wasser glitt. Im nachsten Moment war er verschwunden. »Was war das denn?« Hastig zog sie ihre Stange aus dem Wasser.

»Keine Ahnung.« Auch Micha hatte seine Stange herausgezogen und starrte angestrengt in das schwarzliche Gewasser. Tobias stand hinten im Heck des Flo?es, hatte sich die Ruderpinne unter den geschienten Arm geklemmt und blickte sich ebenfalls um.

»Was es auch war, es war jedenfalls ziemlich gro?«, sagte Claudia und schluckte.

Sie mu?ten sich wohl damit abfinden, hier so gut wie nichts zu kennen. Ihre einzigen Bezugspunkte waren die Lebewesen, die sie aus ihrer Zeit kannten, wie etwa die Krokodile und Schildkroten. Das meiste, was hier lebte, war jedoch seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, jedenfalls hatte kaum etwas, auch nicht das scheinbar Vertraute, unverandert die Zeiten uberdauert. Alles hatte sich weiterentwickelt, verandert oder war fur immer von der Bildflache verschwunden. Meinten sie ein Tier oder eine Pflanze erkannt zu haben, zeigte eine nahere Betrachtung meist allerlei Details, die irritierten.

In einem Punkt allerdings bestand nicht der geringste Zweifel. Das, was da in dichten Wolken zwischen den Baumen schwebte und nun mit widerlichem Gesumm um ihre Kopfe tanzte, waren Stechmucken, die ihren neuzeitlichen Verwandten in jedem Punkte mindestens ebenburtig waren. Als hatten sie die letzten Millionen Jahre nur auf jemanden wie sie gewartet, sturzten sie sich auf jeden freien Flecken Menschenhaut und bohrten mit ihren Saugrusseln hastig nach Blut. Sie waren eindeutig in der Uberzahl und kannten kein Pardon. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie an allen fur die Parasiten erreichbaren Korperteilen von Stichen ubersat waren. Es gab kein Entkommen. Erst als sie sich bis zu den Haarwurzeln mit dicken Schichten von Insektenschutzmittel einrieben, hatte der Spuk ein Ende. Das mochten die Biester nicht. Nach dem Siegeszug der Antibiotika ein erneuter Triumph moderner Wissenschaft uber diese primitiven urtumlichen Lebensformen. Es tat gut, sich wenigstens in solchen Teilbereichen uberlegen zu fuhlen.

Micha mu?te immer haufiger an die kommende Nacht denken. »Wo wollen wir hier nur unser Lager aufschlagen?« fragte er mit einem skeptischen Blick auf das undurchdringliche Dickicht, das sie umgab. »In diesen Dschungel kriegen mich jedenfalls keine zehn Pferde.«

»Auf dem Flo?«, antwortete Tobias. »Wir mussen hier auf dem Flo? schlafen, anders geht es wohl nicht.«

Schlafen! Als ob das so einfach ware. Micha konnte sich bisher nicht vorstellen, wie er inmitten dieses Zoos, dieser Wolken von blutgierigen Mucken schlafen sollte. Kein Auge wurde er zutun. Skeptisch betrachtete er Herzogs Flo?, das sich als ein grob aus knorrigen und schiefen Stammen zusammengezimmertes Gefahrt entpuppt hatte und jede Art von Bequemlichkeit vermissen lie?. Sie mu?ten standig aufpassen, da? sie auf den glatten Baumstammen nicht ausrutschten oder in die Zwischenraume traten und stolperten. Zwischen den Stammen gahnten immer wieder gro?ere Locher, durch die das Wasser nach oben schwappte.

Langsam stakten sie immer tiefer in den Wald. Wahrend sie au?erhalb des Dschungels kilometerweit sehen konnten, waren es jetzt mitunter nur wenige Meter. Uberall nahmen ihnen Pflanzen die Sicht, und der Flu? maanderte in irrsinnigen Schleifen und Windungen zwischen den Baumen hindurch. Immer wieder verengte sich der Flu?lauf bis auf wenige Meter, so da? sich die Baumkronen beider Ufer uber ihnen schlossen, wie die Halften einer haushohen Zugbrucke. Es wurde dunkel und stickig, und durch einen lebenden Baldachin glitten sie dann dahin, duckten sich unter tiefhangende schenkeldicke Aste oder zwangten sich durch einen dichten Lianenvorhang. Mitunter half nur die Axt, wenn sie in dem Irrgarten steckenzubleiben drohten.

Irgendwann streikte Claudia: »Ich kann nicht mehr«, sagte sie nur und zog demonstrativ ihre Holzstange aus dem Wasser. Sie hatte einen leidenden Ausdruck im Gesicht. Es war durch die vielen Muckenstiche unformig angeschwollen.

Das extreme Klima machte ihnen schwer zu schaffen. Micha verspurte keine gro?e Lust, alleine weiterzustaken, und auch Tobias wirkte mude und ausgebrannt und wollte bald rasten. Also suchten sie einen geeigneten Lagerplatz oder zumindest irgend etwas, wo sie gefahrlos und ohne allzu engen Kontakt zum umgebenden Dschungel festmachen konnten. Sie fuhren in einen kleinen Seitenarm dessen, was sie fur den eigentlichen Flu? hielten, und fanden schlie?lich eine gro?e Wurzel, die wie das Knie eines Riesen uber die Wasseroberflache ragte. Au?er einer pfannengro?en Schildkrote, die ihren Kopf aus dem Wasser streckte und sie neugierig beobachtete, schien niemand sonst diesen Platz zu beanspruchen, und mit einem dicken Knoten banden sie das Flo? an der Wurzel fest.

Ermutigt durch einige erfolgreiche Versuche in der Nahe von Herzogs Hohle, hatte Claudia darauf bestanden, die Angel mitzunehmen, und kaum war das Flo? befestigt, holte sie Schwung und lie? den Haken mit dem Blinker zehn Meter weiter ins Wasser plumpsen. Pencil wurde unruhig und stolperte auf den rutschigen Holzstammen aufgeregt zwischen ihren Fu?en herum.

»Er mu? mal«, sagte Claudia, wahrend sie unermudlich an der Kurbel der Angelrute drehte.

»Willst du ihn denn hier an Land lassen?« fragte Micha.

Tobias blickte ihn verstandnislos an. »Was denn sonst? Oder ist dir lieber, er pi?t aufs Flo??«

»La? ihn raus!« sagte Claudia, obwohl ihr Gesichtsausdruck zeigte, da? ihr nicht ganz wohl war bei dem Gedanken. »Ich habe auch keine Lust, heute nacht in Hundepisse zu schlafen.«

»Wie du meinst.« Tobias griff nach einem Ast, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, da? darauf nichts Lebendiges sa?, und zog das Flo? so nah ans Ufer, wie er konnte. Das eigentliche Ufer war gar nicht so leicht auszumachen. Es bestand aus einem ineinander verknotetem Gewirr von Wurzeln und anderen Pflanzenteilen.

Pencil schien das nicht zu storen. Kaum hatte ihn Tobias an »Land« gesetzt, verschwand er raschelnd im Blatterwald. Claudia machte ein besorgtes Gesicht, aber ihre Aufmerksamkeit wurde plotzlich voll in Anspruch genommen, weil etwas energisch an der Angel zerrte.

»Ich hab was!« rief sie und kurbelte wie wild. Die Angel bog sich beangstigend. »Boah, das mu? ein riesiger

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