Tausende von Tagen. Fur die Meskliniten, die von Natur aus langlebig waren, bedeutete die Zeit wenig, aber die Beobachter auf Toorey hatten den Eindruck, sie stehe still, wahrend die Bree unendlich langsam ihrem Ziel naherkam. Lackland und seine Freunde unterhielten sich mit Barlennan, verfolgten den roten Strich auf dem Globus, bestimmten die Position des Schiffes, gaben den Kurs durch, lehrten die Besatzung Englisch und warteten ungeduldig, bis vier Erdmonate – uber neuntausendvierhundert Tage auf Mesklin – vergangen waren.
Die Bree erreichte die Vierhundert-g-Linie, segelte weiter, lie? die Sechshundert-g-Linie hinter sich zuruck und drang weiter nach Suden vor. Die Tage wurden langer, bis die Sonne schlie?lich nicht mehr unterging, und der Horizont schien an allen Seiten uber dem Schiff aufzusteigen, wie Barlennan Lackland vor langer Zeit erklart hatte. Der Kommandant horte auch jetzt geduldig zu, als die Beobachter ihm versicherten, dabei handle es sich nur um eine optische Illusion; aber als endlich Land vor ihnen aus dem Meer auftauchte, lag es offenbar ebenfalls uber ihnen – wer konnte da noch von Illusionen sprechen?
Die Bree erreichte eine gewaltige Bucht, die dreitausend Kilometer weit nach Suden fuhrte – uber die Halfte der Entfernung zum Ziel, wo die gestrandete Rakete lag. Das Schiff kreuzte durch die Bucht, die sich allmahlich verengte, und lief in eine Flu?mundung ein. Hier mu?te abwechselnd ein Teil der Besatzung an Land gehen und die Bree treideln, denn die Stromung lie? sich nicht mehr mit Hilfe der Segel uberwinden. Wieder vergingen Tage und Wochen, aber die Manner auf Toorey verfolgten jetzt mit zunehmender Spannung den Weg des Schiffes stromaufwarts. Das Ziel war fast in Sicht, und die Beobachter zweifelten nicht daran, da? es bald erreicht sein wurde.
Dann kam die Enttauschung, die nur mit dem Zwischenfall vor einigen Monaten vergleichbar war, als Lacklands Schlepper ein unuberwindbares Hindernis erreicht hatte. Die Barriere war ahnlich, aber diesmal befanden sich Schiff und Besatzung am Fu? einer Klippe, anstatt am oberen Rand. Die Felswand war hundert Meter hoch, nicht nur zwanzig, und hier an der Siebenhundert-g-Linie waren die Meskliniten nicht mehr imstande, rasch und leicht zu klettern, wie sie es am. Aquator getan hatten.
Die Rakete war nur achtzig Kilometer vom Fu? der Felswand entfernt; der Hohenunterschied betrug jedoch – auf menschliche Verhaltnisse umgerechnet – etwa funfundfunfzig entlang einer senkrechten Wand.
15
Die Erlebnisse der vergangenen Wochen und Monate waren nicht spurlos an der Schiffsbesatzung vorubergegangen; Barlennans Leute hatten ihre angeborene Hohenangst verloren. Das bedeutete jedoch nicht, da? sie vergessen hatten, wie sich selbst d er kleinste Fall in diesen Breiten auf ihre Korper auswirken mu?te. Deshalb war ihnen die steile Felswand unheimlich, die nur wenige Meter vom Liegeplatz der Bree entfernt zum Himmel aufragte.
Die Beobachter auf Toorey starrten das neue Hindernis schweigend an und suchten nach einem Ausweg. Die Expedition verfugte uber keine Rakete, die auf Mesklin in Polnahe hatte starten konnen; die einzige, die fur diesen Zweck konstruiert worden war, stand irgendwo dort unten. Au?erdem hatte niemand damit fliegen konnen: Menschen wurden die Schwerkraft nicht lebend uberstehen, und die Meskliniten waren nicht imstande, den komplizierten Mechanismus einer Rakete zu begreifen. »Die Reise ist also noch langst nicht zu Ende«, stellte Dr. Rosten fest und starrte nachdenklich die Bildschirme an, auf denen die Felswand zu sehen war. »Trotzdem mu? es irgendeinen Weg auf die Hochebene oder die andere Flanke des Bergruckens geben. Ich sehe ein, da? Barlennan und seine Leute wahrscheinlich nicht hinaufkonnen, aber meiner Meinung nach mu?ten sie das Hindernis umgehen konnen.« Lackland fragte Barlennan danach.
»Ihr habt recht«, antwortete der Kommandant, »aber auch dabei gibt es verschiedene Schwierigkeiten. Der Flu? liefert nicht mehr allzu viel Nahrung; wir sind weit vom Meer entfernt. Au?erdem wissen wir nicht, wie lang der Weg vor uns ist, so da? wir kaum vernunftig planen konnen. Habt ihr schon daran gedacht, eine Karte dieses Gebiets anzufertigen, damit wir gemeinsam nach dem besten Weg suchen konnen?«
»Gute Idee. Ich kummere mich gleich darum.«
Als Lackland sich nach den anderen umdrehte, sah er besorgte Gesichter. »Was ist los?« fragte er verblufft. »Konnen wir keine fotografische Karte z usammenstellen, wie wir es schon am Aquator getan haben?«
»Das ist selbstverstandlich moglich, aber nicht ganz einfach«, erklarte Rosten. »Am Aquator kann die Rakete in nur neunhundert Kilometer Hohe scheinbar an der gleichen Stelle stehen bleiben.
Hier am Pol ist die Rotationsgeschwindigkeit zu niedrig, selbst wenn wir sie fur unsere Zwecke nutzbar machen konnten. Die Rakete mu? eine hyperbelformige Flugbahn beschreiben, wenn wir Aufnahmen aus niedrigen Hohen machen wollen, ohne den Treibstoffverbrauch astronomisch ansteigen zu lassen – das bedeutet aber, da? die Geschwindigkeit relativ zum Boden mehrere hundert Sekundenkilometer erreicht. Darunter leidet naturlich die Bildqualitat.«
Rosten machte eine nachdenkliche Pause und fugte dann hinzu: »Am besten machen wir die Aufnahmen aus gro?erer Entfernung mit Teleobjektiven; wir konnen nur hoffen, da? sie genugend Details zeigen, nach denen Barlennan sich richten kann.«
»Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Lackland zu.
»Uns bleibt jedenfalls keine andere Wahl. Wir konnten Barlennan ohne Unterstutzung losschicken, aber das ware etwas zuviel verlangt.«
»Richtig. Sagen Sie ihm, da? wir uns gleich an die Arbeit machen.« Lackland setzte sich wieder mit Barlennan in Verbindung, der ihm erklarte, er werde an Ort und Stelle bleiben, bis er nahere Informationen erhalte.
»Wir konnen entweder flu?aufwarts nach rechts vordringen oder Schiff und Flu? verlassen und der Klippe nach links folgen. Da wir nicht wissen, welcher Weg kurzer ist, warten wir noch. Ich wurde naturlich lieber flu?aufwarts vordringen; dann brauchten wir weder Lebensmittel noch die Funkgerate zu schleppen.«
»Wie steht es uberhaupt mit Lebensmitteln?« erkundigte Lackland sich. »Du hast vorhin erwahnt, sie seien hier schwerer zu beschaffen.«
»Sie sind knapper, aber die Gegend hier ist wenigstens noch keine Wuste, und wir kommen ganz gut zurecht. Falls wir uber Land marschieren mussen, ware deine Kanone recht nutzlich. Die Armbrust ist bestenfalls ein Museumsstuck.«
»Weshalb schleppst du sie dann mit dir herum?«
»Aus genau diesem Grund – sie ist ein gutes Museumsstuck, und fur Stucke dieser Art werden hohe Preise gezahlt Soviel ich wei?, ahnt niemand bei uns zu Hause, da? es uberhaupt Waffen gibt, die Geschosse werfen. Ihr habt nicht zufallig eine Kanone fur mich ubrig, was? Meinetwegen braucht sie nicht einmal zu funktionieren.«
Lackland grinste. »Tut mir leid, Barl, aber wir haben selbst nur eine. Wahrscheinlich brauchen wir sie nicht mehr, aber wir konnten nicht erklaren, weshalb wir sie verschenkt haben.«
Barlennan gab sich mit dieser Auskunft zufrieden und wandte sich dringenderen Problemen zu. Die Nahrungsbeschaffung war vorlaufig nicht weiter schwierig, wie er Lackland erklart hatte, aber es konnte bestimmt nicht schaden, wenn die Besatzung auf Vorrat fischte. Das Land sah nicht gerade vielversprechend aus: Auf einem Ufer ragte die Felswand schon nach wenigen Metern empor, wahrend am anderen niedrige Hugel begannen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Hier und dort wuchsen niedrige Pflanzen, aber in den ersten funfzig Tagen sah die Besatzung kein einziges Tier, nachdem sie sich zu Anfang gelegentlich von Schatten hatte tauschen lassen.
Die Manner auf Toorey hatten erheblich mehr zu tun. Lackland und drei andere Mitglieder der Expedition starteten mit einer Rakete, um die versprochenen Aufnahmen zu machen. Die Rakete besa? eine relativ hohe Anfangsgeschwindigkeit, aber Rosten hatte richtig erkannt, da? selbst diese Geschwindigkeit nicht ausreichen wurde. Der Pilot benutzte zusatzlich die Triebwerke, und obwohl die Rakete Tausende von Kilometern hoch war, als sie uber den Sudpol hinwegraste, mu?te der Fotograf so schnell wie moglich arbeiten. Sie kamen noch zweimal zuruck, so da? er schlie?lich drei Filmstreifen von jeweils zwei bis drei Minuten Dauer in seiner Kamera hatte. Da die Rakete einige Zeit brauchte, um Mesklin zu umrunden, stand einigerma?en sicher fest, da? die Felswand bei verschiedener Beleuchtung fotografiert worden war, denn nur so konnte ihre Hohe durch Schattenmessungen bestimmt werden. Auf dem Ruckflug nach Toorey begann die Auswertung, die in der Station fortgesetzt werden sollte.
Die Ergebnisse waren interessant, aber – wie auf Mesklin nicht anders zu erwarten – auch uberraschend. Verbluffend war vor allem die Gro?e des Blocks, der sich aus der umliegenden Ebene erhob.
Seine Umrisse erinnerten an Gronland, er war uber funfeinhalbtausend Kilometer lang und beruhrte mit seiner Spitze fast das Meer, das die Bree uberquert hatte. Der Flu?, dem Barlennan gefolgt war, fuhrte jedoch in einem weiten Bogen um das Massiv und schien fast genau am entgegengesetzten Ende zu entspringen. Die Hohe der Felswand veranderte sich unglaublich wenig; erste Messungen ergaben, da? sie nur in Meeresnahe etwas hoher sein konnte, aber dieser Unterschied war keineswegs bedeutend.
Nur an einer Stelle schien er es zu sein. Auf e inem einzigen Bild war ein Schatten zu erkennen, der vielleicht einen Abhang bezeichnete. Dieser Punkt lag uber zwolfhundert Kilometer vom Ankerplatz der Bree entfernt, aber zum Gluck flu?aufwarts – und der Flu? bog nur an dieser Stelle weit von der Felswand ab, als habe er sich dort ein neues Bett graben mussen, weil das alte unter Gerollmassen verschwunden war. Die Lage schien durchaus nicht hoffnungslos zu sein. Barlennan und seine Leute hatten zwar nicht achtzig, sondern zweieinhalbtausend Kilometer zuruckzulegen – davon die Halfte uber Land –, aber selbst diese Strecke mu?te zu uberwinden sein. Lackland trostete sich mit diesem Gedanken, bis ihm einfiel, da? er kaum etwas uber die Oberflachenbeschaffenheit des Gebiets wu?te, in dem seine Freunde sich bewegen wurden. Er mu?t die Analyse jedoch verschieben, bis sie wieder in die Station zuruckgekehrt waren, denn nur dort standen die benotigten Instrumente zur Verfugung.
Die Mikroskope und Densimeter der professionellen Kartografen zeigten, da? die Hochebene ziemlich unwegsam sein mu?te. Die Entstehungsursache der Gerollhalde, die Lackland