»Spielen Sie es auf unserem Repeaterschirm ab, Freund Haslam, und lassen Sie bitte als erstes den Unfallbericht ablaufen«, ordnete Prilicla an, wobei er sich Hewlitt so weit naherte, bis sich dessen Haare durch den Luftzug des Flugelschlags bewegten. »Sie konnen gern bleiben, Freund Hewlitt. Sollten Sie das Material oder unsere Unterhaltung allerdings als zu bedruckend empfinden, dann gehen Sie ruhig zu Ihrem Bett zuruck, und errichten Sie ein schalldichtes Feld um sich herum.«
»Das alles liegt schon sehr lange zuruck«, erwiderte Hewlitt. »Ich bin damals noch viel zu jung gewesen, als da? man mir alle Einzelheiten erzahlt hatte, aber jetzt will ich Bescheid wissen. Ich werde das schon verkraften. Trotzdem danke fur Ihr Mitgefuhl.«
»Nun, ich werde ja merken, wie es Ihnen dabei ergeht, Freund Hewlitt. Also legen Sie los, Freund Haslam«, forderte er den Lieutenant auf.
Der Bericht begann mit den Fotos auf den offiziellen Dienstausweisen seiner Eltern. Hewlitt staunte nicht schlecht, denn auf den Bildern sahen seine Eltern nicht alter aus, als er heute war. Er hatte sie langst nicht so jung und naturlich auch viel gro?er in Erinnerung gehabt. Wahrend die personlichen und physiologischen Daten aufgefuhrt wurden, dachte er immer noch daruber nach, da? die beiden sehr ernst in die Kamera geschaut hatten; es mu?te sich um einen der wenigen Augenblicke gehandelt haben, in denen sie einmal nicht gelachelt hatten. Viele Erinnerungen kehrten zuruck, klar und deutlich, und sie deckten sich mit den aufgefuhrten Details des von den Ermittlern rekonstruierten Unfalls.
In jenem schicksalsschweren Augenblick war sein Vater viel zu beschaftigt gewesen, als da? er ihn auch nur hatte ansehen konnen, doch seine Mutter hatte ihn angelachelt und ihm gesagt, er brauche keine Angstzu haben. Dann war sie uber die Ruckenlehne des Copilotensitzes gestiegen, um sich neben ihn zu zwangen. Mit einem Arm hatte sie ihn auf ihrem Scho? festgehalten und mit der freien Hand den Sicherheitsgurt um sie beide herumgelegt. Damals konnte er durch die Flugzeugkuppel hindurch sehen, wie sich der Himmel und die bewaldeten Berge drehten und sie den Baumen so nahe kamen, da? selbst einzelne Zweige zu erkennen waren. Dann druckte ihn seine Mutter kopfuber auf ihren Scho?, so da? sein Hinterkopf zwischen ihre Bruste gepre?t wurde. Plotzlich gab es einen heftigen Ruck – das Flugzeug kippte auf die Seite und wurde auseinandergerissen. Schlie?lich krachte es laut, und wahrend er durch die Luft geschleudert wurde, spurte er den Regen und die kalte Luft im Gesicht.
Zwar erinnerte er sich noch an den heftigen Schmerz, den er beim Aufprall auf den Boden empfunden hatte, aber an nichts mehr, was danach geschah, bis er von einem Angehorigen des Rettungstrupps, der auf das automatische Notsignal hin reagiert hatte, gefragt wurde, wo er sich verletzt habe.
Dem Bericht zufolge war die Flugzeugkanzel von einer Baumkrone durchbohrt worden. Als die Maschine gefunden wurde, steckte das Cockpit immer noch in den oberen Zweigen fest, wahrend der Rest des Flugzeugs auf den Boden gekracht und den Berg hinuntergerollt war, wo es funfundvierzig Meter weiter zerschellt liegengeblieben war, bevor es Feuer gefangen hatte. Da das bewaldete Gebiet durch heftige Regenfalle an jenem Tag durchweicht war, hatten die Flammen nicht bis zu dem Teil des Hangs hinauf dringen konnen, wo sich der einzige Uberlebende befunden hatte – ein sieben Jahre alter Junge. Danach wurde der Bericht mit einer ausfuhrlichen Erorterung der technischen Beweise fortgesetzt, die von den Ermittlern zusammengetragen worden waren. Diesen Abschnitt uberging Prilicla jedoch, da sich Captain Fletcher spater damit befassen sollte. Der Bericht endete mit einigen kurzen Angaben uber die Autopsie und die Behandlung der Unfallopfer.
Seine Eltern hatten schwere Verletzungen erlitten, und alles wies darauf
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hin, da? sie wahrscheinlich schon tot, zumindest aber bewu?tlos gewesen waren, bevor sie von den Flammen verschlungen worden waren, so da? sie nichts mehr gespurt hatten. Als Hewlitt damals gefunden wurde, stand er noch unter Schock und war vollig verwirrt, doch ansonsten war er unverletzt geblieben, und man nahm an, da? die kleinen Blutflecken auf seiner Kleidung von seiner Mutter stammten. Dennoch behielt man ihn fur neun Tage zur Beobachtung im Krankenhaus, genau die Zeit, die seine nachste Angehorige, seine Gro?mutter, zum Anreisen benotigte, um die Beerdigung der sterblichen Uberreste seiner Eltern zu arrangieren und ihn dann mit auf die Erde zu nehmen.
Wie ihm erst jetzt bewu?t wurde, hatte es seine Gro?mutter damals nicht zugelassen, da? er seine Eltern noch ein letztes Mal zu sehen bekam, weil der Vorgang der Einascherung bereits im brennenden Flugzeug begonnen hatte.
Fur einen Moment kehrten der alte, aber nie richtig uberwundene Schmerz und die Trauer uber den Verlust wie eine schwarze Leere zuruck und schnurten ihm die Brust zusammen. Hewlitt gab sich jedoch redlich Muhe, seinen Gefuhlen keinen freien Lauf zu lassen, denn Prilicla beobachtete ihn und begann bereits, in der Luft hin und her zu schwanken. Also verdrangte er die schmerzliche Erinnerung und versuchte, sich auf den nachsten Bericht zu konzentrieren, der auf dem Bildschirm erschien.
»Vielen Dank, Freund Hewlitt«, merkte der Empath an und fuhr dann in geschaftsma?igem Ton fort: »Wie wir sehen konnen, bezieht sich dieser Bericht auf den Gesundheitszustand, die medizinische Behandlung und das Verhalten des Uberlebenden wahrend seines neuntagigen Krankenhausaufenthalts. Offenbar bereitete der kleine Hewlitt schon damals seinen Arzten einiges Kopfzerbrechen.
Diese Probleme tauchten zum ersten Mal auf, als der damals noch den Rang eines Stabsarzt bekleidende Telford ein oral einzunehmendes Beruhigungsmittel verordnete. Obwohl unverletzt, war der Patient einer physischen Erschopfung nahe und durch den Verlust seiner Eltern vollig verstort und au?erstande zu schlafen. Die Folge war eine heftige, aberuntypische Reaktion: Er bekam Magenschmerzen, Atembeschwerden und Hautausschlage auf Brust und Rucken. Wahrend der Stabsarzt immer noch die Ursachen herauszufinden versuchte, klangen die Symptome bereits wieder ab. Es wurde ein anderes Beruhigungsmittel verschrieben, das vorsichtshalber anfangs nur in minimalen Dosen subkutan injiziert wurde. Dieses Mal folgte ein exakt zwei Komma sechs Minuten andauernder Herzstillstand, begleitet von wiederholt auftretender Beeintrachtigung der Atemtatigkeit. Beides blieb ohne feststellbare Auswirkungen.«
Prilicla deutete mit einem seiner vier Greiforgane auf den unteren Bildschirmabschnitt, wo sich eine Zusammenfassung der Behandlung befand. »Wie Sie sehen konnen, hat Doktor Telford damals eine hyperallergische Reaktion mit unbekannter Ursache diagnostiziert und jede weitere medikamentose Behandlung untersagt. Die seelischen Probleme wurden statt dessen der Obhut einer Krankenschwester derselben Spezies anvertraut, die sich kurz vorm Ruhestand befand. Sie versuchte, dem Patienten mit beruhigenden Worten Trost zu spenden. Au?erdem wurde dem weder kranken noch verletzten Kind gestattet, sich nach Belieben abzulenken, um sich uber den Verlust ein wenig hinwegzutrosten, indem er andere Patienten besuchen und sich mit ihnen unterhalten durfte. Dazu gehorten auch einige weltraumerfahrene Offiziere des Monitorkorps, die viele spannende Geschichten zu erzahlen hatten… «
»Diese Schwester ist immer sehr nett zu mir gewesen«, erwahnte Hewlitt, wobei seine Stimme durch die wiederkehrende Trauer, von der er viele Jahre nichts mehr verspurt hatte, sehr bedruckt klang. »Heute ist mir naturlich klar, da? einige dieser Geschichten hochstwahrscheinlich nicht immer ganz der Wahrheit entsprochen haben. Trotzdem funktionierte diese Behandlungsmethode irgendwie … Entschuldigen Sie, da? ich Sie unterbrochen habe, Doktor Prilicla. Eigentlich wollte ich meine Erinnerungen fur mich behalten.«