vorn geschoren bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr und hinten lang herabhangend. Seine Gesichtszuge verrieten dem Kennerblick eine Ahnlichkeit mit Fidelma.
»Ich bin dein Vetter Brocc«, erklarte er mit tonendem Ba?. »Ich habe dich nicht gesehen, seit du ein Kind warst.«
Die Begru?ung sollte warm ausfallen, doch irgendwie gelang ihm das nicht. Es schien, als ware er mit den Gedanken woanders, wahrend er sie willkommen hie?.
Auch als er zur Begru?ung Fidelma beide Hande entgegenstreckte, waren sie kalt und schlaff. Fidelma hatte aus ihrer Kindheit kaum eine Erinnerung an ihren Vetter. Das war nur naturlich, denn Abt Brocc war mindestens zehn oder funfzehn Jahre alter als sie.
Sie erwiderte seine Begru?ung mit bemuhter Formlichkeit und stellte dann Cass vor.
»Cass ist mir zu meiner Unterstutzung in dieser Angelegenheit von meinem Bruder Colgu beigegeben worden.«
Brocc musterte Cass unsicher, und sein Blick fiel auf Cass’ Hals. Der Krieger hatte seinen Mantel geoffnet, und der goldene Halsreif, sein Rangabzeichen, war zu sehen. Cass erfa?te die Hand des Abts mit festem Griff, und Fidelma sah, wie Brocc unter dem Druck das Gesicht verzog.
»Komm, setz dich, Kusine. Du auch, Cass. Mein Torhuter, Bruder Conghus, hat mir berichtet, da? mit euch Schwester Eisten und ein paar Kinder aus Rae na Scrine hier eingetroffen sind. Eistens Mission dort untersteht der Rechtsprechung dieser Abtei, deshalb sind wir sehr besorgt uber das, was dort vorgefallen ist. Erzahlt mir die Geschichte.«
Fidelma sah Cass an, der erschopft auf einem Stuhl zusammengesunken war. Der junge Krieger las die Aufforderung in ihrem Blick und berichtete kurz, wie sie Eisten und die Kinder in Rae na Scrine gefunden hatten.
Broccs Gesicht wurde zornig, und er tippte sich nachdenklich auf den Nasenrucken.
»Das ist eine uble Angelegenheit. Ich werde sofort einen Boten an Salbach, den Fursten der Corco Loig-de, schicken. Er wird Intat und seine Leute fur dieses furchtbare Verbrechen bestrafen lassen. Uberla?t es mir, das zu regeln. Ich sorge dafur, da? Salbach sogleich davon erfahrt.«
»Und Schwester Eisten und ihre Schutzlinge?« fragte Fidelma.
»Fur sie braucht ihr nichts zu befurchten. Wir werden hier fur sie sorgen. Wir haben einen guten Krankensaal, und unser Arzt, Bruder Midach, hat im letzten Jahr schon zehn Falle der Gelben Pest behandelt. Gott war uns gnadig. Drei der Erkrankten hat er geheilt. Wir furchten uns hier nicht vor der Pest. Und ist es nicht auch richtig, da? wir uns nicht furchten? Wir halten uns ja an den Glauben und stehen in Gottes gutiger Hand.«
»Ich freue mich sehr, da? du die Dinge so betrachtest«, antwortete Fidelma. »Ich hatte es nicht anders erwartet.«
Cass uberlegte einen Moment, ob sie sich uber Broccs fromme Haltung lustig machte.
»Also«, begann Brocc und musterte sie mit seinem kuhlen Blick, »kommen wir nun zu dem Hauptzweck eures Besuches hier.«
Fidelma stohnte innerlich. Sie hatte lieber erst geschlafen und ihren Seelenfrieden wiedergefunden, bevor sie sich dieser Angelegenheit zuwandte. Etwas essen und schlafen ... Aber Brocc hatte wohl recht, die Sache duldete keinen Aufschub.
Wahrend sie sich ihre Antwort zurechtlegte, erhob sich Brocc und stellte sich an ein Fenster, das auf den Meeresarm hinausging, wie sie selbst aus ihrer sitzenden Haltung feststellen konnte. Die Hande hinter dem Rucken verschrankt, starrte der Abt hinunter.
»Mir ist klar, Kusine, da? die Zeit knapp ist«, sagte er langsam. »Mir ist auch klar, da? ich als Abt fur den Tod des Ehrwurdigen Dacan verantwortlich gemacht werde. Fur den Fall, da? ich das nicht wu?te, hat mir der Konig von Laigin etwas geschickt, um mich daran zu erinnern.«
Fidelma sah ihn einen Augenblick verdutzt an.
»Was meinst du damit?« sprach Cass die Frage aus, die ihr auf der Zunge lag.
Brocc nickte zum Fenster hinaus.
»Seht dort hinunter, zur Mundung des Meeresarms.«
Fidelma und Cass standen auf und traten zu dem Abt. Neugierig spahten sie ihm uber die Schulter auf die Stelle, die er ihnen wies. In dem Meeresarm lagen mehrere Schiffe vor Anker, darunter zwei gro?e seegehende. Brocc zeigte auf eins der gro?eren Schiffe, das nahe der Ausfahrt aus der geschutzten Bucht ankerte.
»Du bist ein Krieger, Cass.« Broccs Ba?stimme klang duster. »Kannst du das Schiff erkennen? Du siehst, welches ich meine? Nicht das frankische Handelsschiff, sondern das andere.«
Cass kniff die Augen zusammen.
»Es fuhrt die Flagge Fianamails, des Konigs von Laigin«, erwiderte er etwas uberrascht. »Es ist ein Kriegsschiff aus Laigin.«
»Genau«, seufzte Brocc, wandte sich um und winkte sie zu ihren Stuhlen zuruck, wahrend er den seinen wieder einnahm. »Es tauchte vor einer Woche hier auf. Sie haben ein Kriegsschiff hergeschickt, um mich daran zu erinnern, da? Laigin mir fur den Tod Dacans die Verantwortung zuschreibt. Es liegt dort in der Bucht, tagein, tagaus. Um die Sache klarzustellen, kam der Kapitan gleich nach der Ankunft zu mir und unterrichtete mich von den Absichten des Konigs von Laigin. Seitdem ist keiner mehr von dem Schiff zur Abtei gekommen. Es liegt einfach in der Einfahrt zur Bucht und wartet - wie eine Katze auf die Maus.
Wenn sie mir damit die Ruhe nehmen wollten, dann ist ihnen das gelungen. Zweifellos haben sie vor, dort zu warten, bis die Ratsversammlung des Gro?konigs ihre Entscheidung trifft.«
Cass wurde rot vor Zorn.
»Das ist eine Beleidigung der Justiz«, sagte er scharf. »Das ist Einschuchterung. Das ist korperliche Bedrohung.«
»Wie ich gesagt habe, ist es eine Erinnerung daran, da? Laigin Auge um Auge, Zahn um Zahn verlangt. Was sagt die Heilige Schrift? Wenn ein Mann einem anderen ein Auge herausrei?t, soll man auch ihm ein Auge ausrei?en?«
»Das ist das Gesetz der Israeliten«, erklarte Fidelma. »Es ist nicht das Gesetz der funf Konigreiche.«
»Sehr richtig, Kusine. Doch wenn wir glauben sollen, da? die Israeliten das erwahlte Volk Gottes sind, dann sollten wir ihrem Gesetz ebenso folgen wie ihrer Religion.«
»Theologische Debatten konnen wir spater fuhren«, fuhr Cass dazwischen. »Warum machen sie dich verantwortlich, Brocc? Hast du den Ehrwurdigen Da-can umgebracht?«
»Nein, naturlich nicht.«
»Dann hat Laigin keinen Grund, dir zu drohen.« Fur Cass war der Fall ganz einfach.
Fidelma wandte sich vorwurfsvoll an ihn.
»Laigin halt sich an das Gesetz. Brocc ist hier der Abt. Er ist das Oberhaupt dieser Abtei und damit nach dem Gesetz verantwortlich fur alles, was seinen Gasten zusto?t. Wenn er nicht in der Lage ist, die falligen Geldstrafen und Entschadigungen zu zahlen, dann mu? das seine Familie tun, so lautet das Gesetz. Weil er den Eoganachta, der Herrscherfamilie von Muman, angehort, wird nun ganz Muman fur die Tat haftbar gemacht. Kannst du dieser Logik folgen, Cass?«
»Aber das ist ungerecht«, protestierte Cass.
»Es ist das Gesetz«, beharrte Fidelma. »Das solltest du wissen.«
»Und oft sind Gesetz und Gerechtigkeit zwei Dinge, die nicht ubereinstimmen«, bemerkte Brocc bitter. »Aber du hast richtig dargestellt, wie Laigin den Fall sieht. Es bleibt nicht viel Zeit, um eine Verteidigung vorzubereiten, bis die Ratsversammlung des Gro?konigs in Tara zusammentritt.«
»Dann ware es wohl das beste«, Fidelma versuchte ihr Gahnen zu unterdrucken, »wenn du mir die wesentlichen Tatsachen mitteilst, damit ich mir uberlegen kann, auf welche Art ich meine Nachforschungen betreibe.«
Abt Brocc fiel ihre Erschopfung nicht auf. Er breitete die Arme aus zu einer beredten Geste der Verlegenheit.
»Dazu kann ich wenig sagen, Kusine. Die Tatsachen sind folgende: Der Ehrwurdige Dacan kam mit Genehmigung von Konig Cathal in die Abtei, um unsere Sammlung alter Bucher zu studieren. Wir haben eine gro?e Anzahl von >Staben der Dichter<, in denen im Ogham-Alphabet alte Geschichten und Sagen eingeritzt sind. Wir sind stolz auf unsere Sammlung. Es ist die beste in den funf Konigreichen. Nicht einmal in Tara findet man eine solche Sammlung.«