Fidelma teilte Broccs Stolz. Sie hatte das alte Alphabet gelernt, das der Legende nach den Iren von Ogma, dem heidnischen Gott der Literatur, geschenkt worden war. Es bestand aus einer unterschiedlichen Anzahl von Strichen und Kerben zu einer Grundlinie hin oder daruber hinweg. Dieses alte Alphabet wurde nun mehr und mehr von dem lateinischen verdrangt, das man mit dem christlichen Glauben ubernommen hatte.

Brocc fuhr fort: »Wir sind besonders stolz auf unsere Tech Screptra, unsere gro?e Bibliothek. Unsere Gelehrten haben nachgewiesen, da? das Konigreich Muman als erstes die Kunst des Ogham den Menschen der funf Konigreiche brachte. Wie du vielleicht wei?t, wurde diese Abtei vor fast hundert Jahren vom heiligen Fachtna Mac Mongaig, einem Schuler Itas, gegrundet. Er schuf sie nicht nur als ein Haus zur Anbetung Gottes, sondern auch als einen Aufbewahrungsort wissenschaftlicher Bucher, als einen Ort des Lernens fur Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Und sie kamen und kommen immer noch, ein endloser Zug von Pilgern auf der Suche nach Wissen. Ros Ailithir ist beruhmt in allen funf Konigreichen und noch daruber hinaus.«

Fidelma konnte eine leichte Belustigung uber die plotzliche Begeisterung Broccs fur seine Abtei nicht unterdrucken. Auch bei den Frommen, die eigentlich ein Beispiel an Demut sein sollten, war oft Hochmut zu finden.

»Und deshalb hei?t die Abtei auch das Vorgebirge der Pilger«, sagte Cass leise, als wolle er zeigen, da? er auch etwas beisteuern konnte.

Der Abt sah ihn kuhl an und neigte leicht das Haupt.

»Ganz recht, Krieger. Ros Ailithir - das Vorgebirge der Pilger. Und zwar nicht nur der Pilger des Glaubens, sondern auch der Pilger der Wahrheit und des Wissens.«

Fidelma machte eine ungeduldige Geste.

»Also der Ehrwurdige Dacan kam mit der Erlaubnis Konig Cathals her, um zu studieren. Soviel wissen wir.«

»Und um zu lehren, als Entgelt fur den Zugang zu unserer Bibliothek«, erganzte Brocc. »Sein gro?tes Interesse bestand darin, die Texte auf den >Staben der Dichter< zu entziffern. An den meisten Tagen arbeitete er in unserer Tech Screptra.«

»Wie lange hielt er sich hier als Gast auf?«

»Ungefahr zwei Monate.«

»Und wie ist er gestorben?«

Brocc lehnte sich zuruck und legte die Hande mit den Handflachen nach unten auf den Tisch.

»Es passierte vor zwei Wochen. Es war kurz vor dem Lauten der Glocke zur Terz.« Er wandte sich an Cass und erlauterte pedantisch: »Die Arbeit eines Abts wird zwischen der Terz am Morgen und der Vesper am Abend getan.«

»Die Terz ist die dritte Stunde des kanonischen Tages«, erklarte Fidelma, als sie sah, da? Cass bei den Worten des Abts verstandnislos die Stirn runzelte.

»Es ist die Stunde, in der wir mit unseren Studien beginnen und einige der Bruder zur Arbeit hinausgehen, denn wir haben Ackerland zu bearbeiten und Tiere zu futtern und Fische aus dem Meer zu holen.«

»Weiter«, forderte ihn Fidelma auf, die sich uber die Lange seines Berichts argerte. Ihre Augenlider brannten, und sie sehnte sich nach etwas Ruhe, nach ein paar Stunden Schlaf.

»Wie gesagt, es war kurz bevor die Glocke zur Terz rief, als Bruder Conghus, mein aistreoir, das ist der Torhuter der Abtei, der auch die Glocken lautet, in mein Zimmer sturzte. Naturlich fragte ich ihn, was ihn veranla?te, sich derart zu vergessen ...«

»Und dann sagte er dir, da? Dacan tot war?« unterbrach ihn Fidelma ungeduldig.

Brocc stutzte; er war es nicht gewohnt, da? ihm jemand ins Wort fiel.

»Er hatte Dacans cubiculum im Gastehaus aufgesucht. Man hatte Dacan beim jentaculum vermi?t.« Er hielt inne und wandte sich herablassend an Cass. »Das ist die Mahlzeit, mit der wir nach dem Aufstehen das Fasten brechen.«

Diesmal machte sich Fidelma nicht die Muhe, ihr Gahnen zu unterdrucken. Der Abt sah leicht gekrankt aus und fuhr eilig fort.

»Bruder Conghus ging ins Gastehaus und fand dort die Leiche des Ehrwurdigen Dacan auf seiner Bettstelle.

Man hatte ihn an Handen und Fu?en gebunden und ihm dann mehrere Stiche versetzt. Der Arzt wurde geholt und untersuchte ihn. Die Stichwunden gingen alle bis zum Herzen, und jede von ihnen hatte todlich sein konnen. Mein fer-tighis, der Verwalter der Abtei, wurde mit den Nachforschungen beauftragt. Er befragte alle, die sich in der Abtei aufhielten, aber niemand hatte etwas Verdachtiges gehort oder gesehen. Es kam nichts ans Licht, was erklart hatte, wer Dacan ermordet hatte und warum. Weil der Ehrwurdige Da-can ein so beruhmter Gast war, sandte ich sogleich eine Nachricht an Konig Cathal in Cashel.«

»Auch nach Laigin?«

Brocc schuttelte den Kopf.

»Zu der Zeit hielt sich ein Kaufmann aus Laigin in der Abtei auf. Der Seeweg entlang der Kuste nach Laigin wird viel befahren. Zweifellos brachte dieser Kaufmann die Nachricht von Dacans Tod nach Fear-na und zu Dacans Bruder, dem Abt Noe.«

Fidelma beugte sich interessiert vor.

»Wie hie? der Kaufmann?«

»Ich glaube, Assid. Mein fer-tighis, Bruder Ru-mann, wei? das sicher.«

»Wann fuhr dieser Kaufmann nach Laigin ab?«

»Ich glaube, es war am selben Tag, an dem die Leiche Dacans entdeckt wurde. Sicher bin ich mir nicht. Bruder Rumann wei? solche Einzelheiten.«

»Aber Bruder Rumann fand nichts, was den Mord erklarte?« unterbrach Cass.

Wahrend der Abt erneut nickte, fragte Fidelma:

»Wann hast du zum erstenmal gehort, da? Laigin dich fur den Tod haftbar macht und Entschadigung vom Konig von Muman verlangt?«

Brocc sah duster drein.

»Als das Kriegsschiff anlegte und der Kapitan in die Abtei kam, um mir zu sagen, da? ich als Abt die Verantwortung trage. Danach traf ein Bote aus Cashel ein, der mir mitteilte, da? der neue Konig von Laigin als Entschadigung Osraige fordert, Konig Cathal jedoch dich holen lasse, um den Fall zu untersuchen.«

Fidelma lehnte sich zuruck, legte die Fingerspitzen aneinander und dachte einen Moment nach.

»Ist das alles, was du wei?t, Brocc?«

»Ja«, bestatigte Brocc feierlich.

»Nun, klar ist nur, da? der Ehrwurdige Dacan ermordet wurde«, fa?te Cass verdrie?lich zusammen. »Es ist auch klar, da? die Tat in der Abtei begangen wurde. Folglich ist es auch klar, da? die Entschadigung gezahlt werden mu?.«

Fidelma betrachtete ihn mit ironischem Blick.

»Ja, das ist unser Ausgangspunkt.« Sie lachelte spottisch.

Abrupt stand sie auf.

Cass folgte etwas widerstrebend ihrem Beispiel.

»Wie nun weiter, Kusine?« fragte Brocc eifrig und sah Fidelma an.

»Wie weiter? Ich denke, Cass und ich suchen uns etwas zu essen, denn seit gestern mittag haben wir nichts mehr bekommen, und dann mussen wir uns ausruhen. In der Kalte und Nasse des Waldes konnten wir in der letzten Nacht nur wenig schlafen. Nach der Vesper beginnen wir mit unseren Nachforschungen.«

Broccs Augen weiteten sich.

»Beginnen? Ich dachte, ich hatte dir alles berichtet, was wir in der Abtei daruber wissen.«

»Du wei?t nicht, wie ein Brehon eine Untersuchung fuhrt«, erwiderte Fidelma. »Egal. Nach und nach werden wir herausbekommen, wer Dacan ermordete und warum.«

»Meinst du, du schaffst das?« fragte Brocc, und ein schwaches Licht der Erwartung glomm in seinen Augen.

»Dazu bin ich hier.« Fidelmas Stimme klang mude.

Brocc nahm eine kleine silberne Glocke vom Tisch und lautete.

Ein feister Monch mittleren Alters sturzte ins Zimmer. Jede seiner Bewegungen sprach von uberschaumender Energie. Die nervose Unruhe des Mannes verursachte Fidelma Unbehagen.

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