»Hilf dir selbst, so wird dir der Nil helfen«, war eine der Standardformeln im Alltag dieser Stromkultur. Vom Fluss lernten Bauern und Baumeister, der Fischer wie der Pharao. Gemeinsam schufen sie das Faszinosum Agypten, in dem die Pyramide zum Monument, aber auch zum Modell einer breit gefacherten, arbeitsteiligen Gesellschaft mit dem Gottherrscher an der Spitze wurde, in dem Arbeit an der Unsterblichkeit ein Handwerk war und schon antike Touristen das Staunen lernten.
Wie viele schon vor ihm staunten, ist unbekannt. Um 450 v. Chr. jedenfalls starrte Herodot, den man den »Vater der Geschichte« und Begrunder der Geschichtsschreibung genannt hat, in viel zitierter, aber historisch nicht verburgter Fassungslosigkeit die himmelwarts steigenden Pyramiden an. Nicht ganz so demutig und ehrfurchtig gegenuber der grandiosen Kulisse umarmten sich hier Jahrhunderte spater Antonius und Kleopatra. Vorher war schon Caesar da gewesen. Um das Jahr 200 belebte der strenge romische Kaiser Septimius Severus die Tradition des Staunens. Und irgendwann kam ein anderer Hierarch, dem fast die Augen herausfielen: der kleine Korse Napoleon, fur den sich Bewunderung und Plunderung keineswegs ausschlossen.
Pech fur ihn, dass er die 146 Meter hohe Cheops-Pyramide, die 2 521 000 Kubikmeter Mauerwerk umfasst, nicht einpacken und mit nach Hause nehmen konnte. Dafur hielt er sich an anderen agyptischen Kunstwerken schadlos, offnete das Land aber zugleich fur die europaische Wissenschaft.
Vor dem Weltwunder der Pyramiden, das alle anderen Weltwunder noch uberragt, spurten alle, vom schlichten Nilbauern bis zu den neugierigen Reisenden der Antike und der Moderne, vom einfachen Arbeiter bis zum umjubelten Kriegsherrn, vom begeisterten Forscher bis zum kalten Despoten, den Hauch der Ewigkeit. »Alle Welt furchtet sich vor der Zeit«, sagt eine arabische Weisheit. »Aber die Zeit furchtet sich nur vor den Pyramiden.«
Sie entstanden Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. in der Blutezeit des Alten Reiches, das hei?t in der vierten der insgesamt drei?ig Dynastien, in die nach dem Vorbild des Priesters und Chronisten Manetho (um 280 v. Chr.) die agyptische Konigsgeschichte eingeteilt wird. Ihr Name stammt von den Griechen.
Die Herrscher der ersten beiden Dynastien hatten gewaltige Grabanlagen aus Ziegeln im oberagyptischen Abydos am westlichen Nilufer und in Sakkara bei Memphis errichtet. In der dritten Dynastie erfolgte unter Konig Djoser (2707- 2687 v. Chr.) und seinem genialen, noch in der Spatzeit Agyptens als Gott verehrten Baumeister Imhotep der Ubergang zum massiven Kolossalbau und zur Anfertigung lebensgro?er Statuen aus Stein, Holz und Metall, die dem Weiterleben des Konigs und seiner Beamten in der jenseitigen Welt dienen sollten.
Das Grabmal des Pharaos Djoser, die sechzig Meter hohe, mit Kultbauten umrahmte Stufenpyramide bei Sakkara, gilt als erster monumentaler Steinbau der Welt und als wegweisender Vorlaufer der »echten« Pyramiden, die seit Konig Snofru (2639 - 2604) errichtet werden. Seine »Rote Pyramide« in Dahschur machte den Anfang. Dann wurde die konigliche Begrabnisstatte nach Giseh verlegt. Die monumentalen Friedhofe mit rund siebzig Pyramiden fur Pharao Cheops und seine Nachfolger erstrecken sich vom Rand der heutigen Metropole Kairo uber neunzig Kilometer weit bis zur Oase Faijum in der Libyschen Wuste.
Die Pyramiden und auch die Graber, die sich die Konige nach 2000 v. Chr. in den Fels hauen lie?en, waren als Festungen gedacht, die den Korper des Verstorbenen vor jedem nur denkbaren Feind schutzen sollten. Denn der Tote lebte nach agyptischem Glauben im Jenseits weiter. Nur durfte sein Korper nicht zerstort werden, damit die Seele zu ihm zuruckfinden und sich im erhaltenen Leib starken konnte. Zu diesem Zweck wurde ein Tisch mit Speisen und Getranken in der Grabkammer aufgestellt.
Wichtigste Voraussetzung fur das jenseitige Leben war es allerdings, durch kunstvolle Balsamierung den Prozess der Verwesung zu verhindern. Die Branche, die vom Leben nach dem Tod lebte, sehr gut lebte, hielt dafur Angebote in verschiedenen Preisklassen bereit. Besonders kostspielig war die Reinigung des Leichnams, die Entfernung der Eingeweide, das Ausspulen und Desinfizieren der Bauchhohle, das in der Regel siebzig Tage dauernde Natronbad und schlie?lich das Einwickeln in Baumwollbinden, die mit Pech aus der Libanonzeder getrankt worden waren. Viele dieser Mumien boten und bieten noch immer Stoff fur abenteuerliche Geschichten vom Unterhaltungsroman bis zum Hollywood-Kino.
In der Tat hat die hohe Kunst der Grablegung und der Einbalsamierung gerade manchen ranghohen Toten den Sieg uber Verfall und Verwesung und oft auch die Wiederbeatmung durch die Wissenschaft ermoglicht. Aber auch ein ganz anderes Schicksal war an der Tagesordnung: die Plunderung der Gruft, in der der gro?e Pharao vielleicht eine Goldmaske trug und mit einem gro?en Teil seiner Schatze bestattet worden war. So schnell der Tod auch manchmal war, die Grabrauber folgten ihm auf dem Fu?e. Und auch die Lowen oder Lowenfamilien, die gelegentlich mit dem Pharao beerdigt wurden, konnten ihn nicht mehr schutzen.
Die unbestritten beruhmtesten Totentempel sind die drei majestatischen Pyramiden von Giseh am Rand der Libyschen Wuste, erbaut von Konig Cheops, seinem Sohn Chephren und seinem Enkel Mykerinos. Prunkstuck der monumentalen Trias ist das Grabmal des Cheops, dessen Regierungszeit - wie die seiner beiden Nachfolger - in die vierte Dynastie fallt und etwa von 2580 bis 2555 v. Chr. dauerte.
Die Cheops-Pyramide als gro?te je gebaute Pyramide gilt als das Symbol des Pharaonenreichs schlechthin. Um sie herum wurden vier Schiffe deponiert, von denen eines nach der Ausgrabung vollstandig rekonstruiert werden konnte. Ihr Holz kam aus dem Libanon. Ihr Auftrag war es, dem toten Konig die Fahrt durch die Himmelsgewasser zu ermoglichen. Es darf vermutet werden, dass auch die Planung fur den sogenannten Sphinxtempel in Giseh und fur den geheimnisumwitterten Sphinx selbst, der aus einem Felskern der fur den Pyramidenbau benutzten Steinbruche modelliert wurde, noch auf Konig Cheops zuruckgeht.
Der Friedhof um das Weltwunder von Giseh spiegelt den straff organisierten Beamtenstaat, seine Ausrichtung auf den Konig und auf das jenseitige Reich der Gotter. Dieser Gotterhimmel, das Pantheon der Agypter, prasentierte sich schon fruh als bunt und reichhaltig. Zuerst traten die gottlichen Machte in Gestalt von Tieren und Fetischen auf, bevor sie ab etwa 3000 v. Chr. menschliche Zuge annahmen, wobei zahlreiche Attribute aus der Tierwelt auch weiterhin verwendet wurden, so der falkenkopfige Horus oder der widderkopfige Amun. Rund 1500 Gotter lassen sich heute unterscheiden.
Immer wieder hatten Perioden der Ordnungs- und Rechtlosigkeit, der inneren Machtkampfe und der Auseinandersetzung mit auslandischen Invasoren das agyptische Reich vor historische Herausforderungen gestellt. Epochen des Niedergangs, des Zerfalls und der Auflosung, als »Zwischenzeiten« bezeichnet, wechselten mit den Glanzzeiten des Alten (2850 - 2150 v. Chr.), des Mittleren (2050 -1650) und des Neuen Reiches (1570 -1085).
Eine der gro?ten Bedrohungen fur den Pharaonenstaat waren Invasoren von Nordosten gewesen, die dank einer neuen, von Indogermanen ubernommenen Waffe tief nach Agypten eindrangen und dem Reich eine bis 1570 v. Chr. dauernde Fremdherrschaft aufzwangen. Es waren die ersten Streitwagen der Militargeschichte - eine primitive Plattform mit Radern, auf der zwei bewaffnete Soldaten Platz finden konnten -, die Panik bei den agyptischen Verteidigern auslosten. Einer der beiden Angreifer lenkte das Pferd, der andere war mit Pfeil und Bogen oder einem Speer ausgerustet. Muhelos uberrannten sie die Soldaten des Pharao, die der neuen Kampftechnik nichts Entscheidendes entgegensetzen konnten. Nur flussaufwarts in Theben konnten die Agypter ihre Herrschaft bewahren und selber den Umgang mit der neuen Waffe lernen, um allmahlich die
Kraftvolle, eigenwillige Personlichkeiten kennzeichnen insbesondere die 18. Dynastie. Konigin Hatschepsut, die ab 1490 v. Chr. als erste Frau den Pharaonenstaat regierte, verstand sich vor allem als Friedensstifterin. Sie sorgte aber fur die Aufrustung des stehenden Heeres und fuhrte einige Feldzuge nach Vorderasien und Nubien. Ihr lang gestreckter, terrassenformiger Totentempel mit Saulenhallen und Altaren im Deir el-Bahari, einem Talkessel von ThebenWest (heute Luxor), gehort zu den eigenwilligsten Bauwerken der agyptischen Architektur.
Dagegen wurde ihr Stiefsohn Thutmosis III. (1490 -1436 v. Chr.) zum gro?en Kriegshelden des Neuen Reiches. In 17 Feldzugen eroberte er Teile Vorderasiens und stie? bis zum Oberlauf des Euphrat vor. An der strategisch wichtigen Handelsstra?e zwischen Agypten und Mesopotamien schlug Thutmosis III. um 1460 v. Chr. einen Aufstand kanaanaischer Fursten und phonizischer Stadtstaaten nieder. Dem endgultigen Sieg ging eine monatelange Belagerung der Festung Megiddo im heutigen Israel, vielleicht gleichbedeutend mit dem biblischen Armageddon (Offenbarung 16, 16), voraus.
Im Suden erweiterten die Pharaonen ihre Herrschaft bis zum vierten Katarakt. Agypten war auf dem Zenit seiner Macht, stand an der Spitze der Volker der damaligen Welt, empfing die Goldlieferungen Nubiens, die Luxusguter aus dem Weihrauchland Punt, die Tribute des Vorderen Orients, die Gunstbezeigungen des babylonischen Konigshofes. Die agyptische Sonne erreichte den Hohepunkt ihrer Strahlkraft.
Und der Sphinx meldete sich zu Wort. Sie erinnern sich. Er war dankbar, dass er vom Sand befreit wurde. Und