Welt fasziniert. Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, wie prazise die antiken Kunstler auf die Fugenverteilung achteten, um alles Bruchstuckhafte zu vermeiden und das anmutig-majestatische Tier - ein Symbol der Gottin Ischtar - moglichst wenig zu zerschneiden.

Babylon leuchtet, noch immer.

  

4. Das Lacheln des Sphinx

Mischwesen, mannlich, liegend, Lowenkorper, Menschenkopf: Was ist das? Auch wenn Sie es erraten - das Geheimnis bleibt.

Er ist der Vater aller Ratsel, er ist das Ratsel schlechthin, kein offizielles Weltwunder, das hatte er nie notig, aber weltberuhmt und weltweit der Erste und Machtigste seiner Art: der gro?e Sphinx von Giseh, 74 Meter lang, zwanzig Meter hoch, sechs Meter breit.

Seit uber vier Jahrtausenden ragt das Kalksteinwesen aus dem Sand der agyptischen Wuste und bewahrt trotz der beschadigten Nase konigliche Haltung. Es scheint zu lacheln, aber es verrat nicht, was in ihm vorgeht. Noch immer erweckt es den Eindruck, als sei es im Besitz aller Geheimnisse dieser Erde.

Auch wenn Sie ganz nahe an ihn herantreten und ihn ansprechen, wird der Lowenmensch nicht antworten. Vielleicht ist das auch gut so. Wenn Sphingen zu sprechen beginnen, sprechen sie oft in Ratseln. Und auch wenn Sie das Ratsel losen, nimmt das Verhangnis meist seinen Lauf. So ging es Odipus, der Ihnen vielleicht nicht ganz unbekannt ist. Aber der gehort nicht hierher, sondern nach Griechenland. Und dort war das Mischwesen weiblich.

Dieser Sphinx, der Sphinx, eine Verkorperung des Sonnengottes Re-Harachte, soll nur einmal gesprochen haben. Ein gutes Jahrtausend nach seiner Errichtung durch den Pharao Chephren, den Sohn des Cheops, um 2500 v. Chr. hatte ihn der Sand fast begraben. So versprach er dem, der ihn davon befreien wurde, den agyptischen Thron. Sein Retter war - noch im Prinzenalter - der spatere Konig Thutmosis IV. Er legte den unglucklichen Sphinx frei, und die Prophezeiung wurde erfullt.

Das war zu Beginn des 14. Jahrhunderts v. Chr. Agypten war zur ma?gebenden Macht im Mittelmeerraum und in Vorderasien geworden und hatte seine gro?te territoriale Ausdehnung erreicht -rund 1700 Jahre nach dem Zusammenschluss des nordlichen (Unteragypten) und sudlichen Landesteils (Oberagypten), der als Grundungsdatum des agyptischen Einheitsstaates gilt.

Der sagenumwobene Konig Menes soll diese erste politische Fusion um 3000 v. Chr. zustande gebracht haben. Der Name des wirklichen Reichseinigers bleibt allerdings unbekannt, und die blutige Unterwerfung der Bewohner des Nildeltas, die Zehntausende von Gefallenen forderte, sollte noch mehrere Jahrhunderte in Anspruch nehmen.

Erst als um 2734 v. Chr. Pharao Chasemui den Thron besteigt, gelingt es ihm, den letzten Widerstand in Unteragypten zu brechen. Als das Jahrhundert zu Ende geht, sind die wesentlichen Grundlagen der pharaonischen Zivilisation etabliert: ein Gottkonig an der Spitze des Territorialstaates, der vom ersten Katarakt und der Nilinsel Elephantine im Suden bis zum Mittelmeer reicht; eine effiziente Beamtenschaft und eine ertragreiche Landwirtschaft; ein vielschichtiger Gotterglaube und ein aufwendiger Totenkult, der zum Bau gro?artiger Monumente fuhren wird.

Aber das ist noch nicht alles. Schon ein halbes Jahrtausend zuvor hatte ein einfacher Beamter, dem Kontrolle und Registrierung der fur den Pharao angelieferten Waren uber den Kopf wuchsen, eine revolutionare Idee gehabt. Da die mundliche Verstandigung nicht mehr ausreichte, setzte er die Gegenstande, Lebewesen, Vorgange und Begriffe, mit denen er zu tun hatte, in konkrete Bildzeichen um, die durch Zeichen fur den Lautwert und die Bedeutung des jeweiligen Wortes erganzt wurden. Die Hieroglyphen, die die Agypter als »Schrift der Gottesworte«, die Griechen als »heilige Zeichen« benannten, waren erfunden - der entscheidende Schritt zur Hochkultur.

Dennoch wurden die wichtigsten, die existenziellen Voraussetzungen fur die Entfaltung der agyptischen Geschichte und Kultur wesentlich fruher geschaffen. Kaum ein anderes Land der Erde ist durch die geografischen Gegebenheiten so gepragt worden wie das Reich der Pharaonen.

Mit Herodots unsterblicher Formel, dass Agypten, das Reich der Unsterblichkeit, ein »Geschenk des Nils« sei, ist im Grunde alles gesagt. Flusskilometer fur Flusskilometer und uber Tausende von Jahren hinweg hat der gro?te Strom Afrikas, mit 6671 Kilometern zugleich der langste der Erde, Leben geschaffen, Kultur gestiftet und Kontinuitat gelehrt.

Hochkulturen sind Menschenwerk. Aber die Natur ist es, die dieses Werk ermoglicht. Fur Agypten gilt dies auf einzigartige Weise. Erweisen wir also dem Naturraum, in dem sich der Staat der Pharaonen so glanzvoll entfalten konnte, ein Stuck Reverenz. Unternehmen wir, weil es so selten geschieht, den Versuch einer Landvermessung.

Agypten hat Kontur. Man hat seinen Umriss vor Augen. Viel leichter als andere Machte der Geschichte lasst es sich lokalisieren. Auf dem Atlas stellt es sich als ungefahres Viereck dar, dessen Seiten grob gerechnet je tausend Kilometer lang sind. Die Nordgrenze und die Ostflanke sind durch das Mittelmeer und die Kuste des Roten Meeres klar bestimmt, die Grenzen im Westen und im Suden fuhren durch kaum besiedelte Wustenlandschaft.

Diesen riesigen Wustenraum trennt das schmale Bewasserungsband des Nils in zwei ungleich gro?e Teile: die eintonig-flache libysche Westwuste und das ebenfalls wustenhafte, aber bis uber 2000 Meter ansteigende ostliche Randgebirge, das sich jenseits des Golfs von Suez auf der Sinai-Halbinsel fortsetzt. Es ist eine auf der Erde einmalige Situation, dass ein wasserreicher Fluss, sozusagen ein aus dem aquatorialen Afrika kommender Fremdling, den Trockengurtel von Suden nach Norden in seiner ganzen Ausdehnung durchquert und dort eine meist nur wenige Kilometer breite, aber rund 1200 Kilometer lange Stromoase ermoglicht. Ihr kompletter Flacheninhalt erreicht nicht einmal die Ausdehnung Belgiens.

Die Kraft, diesen lebensfeindlichen, insgesamt fast 2000 Kilometer langen Trockengurtel zu durchbrechen, bezieht der Nil aus einem riesigen Einzugsgebiet im zentralafrikanischen Hochland. Dort entwassert der als »Wei?er Nil« definierte Stromarm mit seinen Zubringern und Verzweigungen ein innertropisches Gebiet, das mehrere hundert Kilometer uber den Aquator nach Suden und somit in die Zone dauerhafter Niederschlage reicht.

Die fur das alte Agypten lebenswichtige Flut- und Schlammwelle rollt aber uber den »Blauen Nil« heran, der sich bei Khartum in den wei?-gelben Hauptstrom ergie?t, welcher hier schon die Halfte seines Laufs hinter sich hat. Blauer Nil und, in geringerem Ma?e, auch der Altbara, ein weiterer Nebenfluss, entwassern das athiopische Hochland, das im Sommer heftigen Regenfallen ausgesetzt ist. Der athiopische Regen spult viele mineralische Nahrstoffe aus basisch-vulkanischem Gestein in die Flusse, die dann in feinsten Teilchen uber mehr als tausend Kilometer bis in die agyptischen Oasen transportiert werden.

Dort wird das Wasser in den zu flachen Becken gestalteten Feldern zum Stillstand gebracht, so dass die Schwebstoffe absinken konnen. Auf diese Weise legte der Nil jahrlich eine fruchtbare Decke aus dungendem Schlamm auf die Felder des Flusstals: die Lebensgrundlage der antiken Hochkultur. Und Agypten wurde »das schwarze Land«. Das griechische Wort aigyptos ist bei Homer der Name des Nils.

Die drei unterschiedlichen Vegetationsbereiche, die es in pharaon-ischer Zeit (ebenso wie im heutigen Agypten) gab, beeinflussten die Herausbildung typischer Bestandteile der altagyptischen Kultur. Die weite Wuste, in der die gefahrlichen Tiere dominierten, war die Heimat vieler Tiergottheiten. Der mediterrane Kustenstreifen vermittelte Agypten Anschluss an die Welt der Mittelmeerlander in wirtschaftlicher und geistiger Hinsicht. Das fruchtbare Niltal erhielt und regenerierte das Leben jedes Jahr und pragte die Vorstellungen von der Wiedergeburt.

Im Gegensatz zur mesopotamischen Geschichte, die aus lauter Episoden bestehe, so befand der geniale Kulturhistoriker Egon Friedell, gehore zur agyptischen Geschichte das Gleichma?, das Modell der Stromlinie, die sich in der Wiederkehr findet und erneuert.

So entstand aus der verlasslichen Wiederkehr der Nilschwemme nach ungefahr 365 Tagen der agyptische Sonnenkalender, der auf die Einteilung des Monats in rund 30 Tage hinauslauft und auch die Schalttage berucksichtigt, die am Jahresende platziert wurden. Er konnte noch vor den Hieroglyphen entstanden sein, wurde im Romischen Reich ubernommen und bestimmt weltweit auch das heutige kalendarische System.

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