Etagen, 1400 Raume, zahlreiche Festraume und Bader, exklusive, ruhige Lage, Baubeginn ab 2000 v. Chr., mehrfach renoviert, ein kleines Konigreich, der Stolz eines jeden Immobilienmaklers.

Sie wollen sich vor Ort informieren? Gern, auch unverbindlich. Ihr neues Heim wird Ihnen gefallen. Aber Vorsicht, seien Sie darauf gefasst, unglaubliche Geschichten zu horen. Von einem Labyrinth zum Beispiel und vom Minotaurus, einem blutrunstigen Monster. Sie brauchen etwas, das Ihnen hilft, solche Geruchte von der Wahrheit zu unterscheiden. Sie brauchen einen Fuhrer. Nicht nur einen Reisefuhrer und ein Geschichtsbuch, Sie brauchen auch einen Mythenfuhrer, damit die Welt, in die Sie eintauchen, nicht zum Irrgarten wird.

Wir empfehlen deshalb nicht den Direktflug nach Kreta. Machen Sie einen Umweg uber die Schwabische Alb. Dort bekommen Sie, was Sie brauchen. Damit konnen Sie trennen, was Dichtung und was Wahrheit ist.

Es war eine Herkules-, manchmal sogar eine Sisyphusarbeit, beschwerlich ohnegleichen und mitunter vergeblich. Nicht selten verspurte er Tantalusqualen, sah das Schwert des Damokles uber sich schweben oder fuhlte sich ins Labyrinth gesperrt wie Theseus, ohne uber den beruhmten Ariadnefaden zu verfugen, der den kuhnen Griechen wieder ans Tageslicht gefuhrt hatte. Immer wieder kam er den Sagenhelden, mit denen er sich beschaftigte, gefahrlich nahe.

Die Rede ist von einem schwabischen Theologen, der in einer Kraftanstrengung ohnegleichen, die getrost auch als Geniestreich bezeichnet werden darf, die griechische Gotterwelt dem Hades, dem Untergang, dem Vergessen entriss.

Sein Name: nun selber fast vergessen, sein Buch: fast noch immer ein Bestseller. Wahrend Schiller, Goethe und ihre Dichterkollegen die griechische Antike vor allem fur die geistige Elite wiederentdeckten, brachte Gustav Schwab die klassische Erbschaft unters Volk, vor allem unters Jungvolk. 1838 erschien die erste Ausgabe seiner »Sagen des klassischen Altertums«, die seither von den Geschenktischen nachfolgender Konfirmandengenerationen nicht mehr wegzudenken waren.

Was der Schwabe Schwab dem lesenden Publikum zuruckschenkte, war weitgehend verschuttet und fast verloren. Zwar hatte Johann Heinrich Vo? ein halbes Jahrhundert zuvor die Offentlichkeit mit der Ubersetzung von Homers »Odyssee« und »Ilias« begluckt, aber der Gesamtkosmos der griechischen Mythologie war nur noch bruchstuckhaft zuganglich und auf eine verwirrende Fulle von Quellen verstreut.

Schwabs muhselige Mosaikarbeit machte es nicht nur moglich, bestimmte Sagen, Sagenkomplexe und ganze Sagenzyklen endlich vollstandig und im Zusammenhang zu lesen. Sie brachte auch den geografisch-historischen Raum, in dem die zeitlos-ewigen Helden ihre Einmischung in irdische Angelegenheiten betrieben, eindrucksvoll in Erinnerung: das Mittelmeer, die mythische und die sehr reale Ursprungslandschaft der europaischen Kultur.

Den mediterranen Himmel uber sich, die Sagen des Altertums im Kopf und im Koffer, folgte Ende des 19. Jahrhunderts der englische Archaologe Arthur Evans der Spur einiger Schmucksteine, die er in Athen erworben hatte und deren Gravuren ihn schlie?lich nach Kreta fuhrten.

In grauer geologischer Vorzeit, vor mehr als zehn Millionen Jahren, hatte sich die Insel vom Festland gelost. In mythischer Fruhzeit soll dann der liebestrunkene Supergott Zeus - in Gestalt eines wei?en Stiers - die schone phonizische Konigstochter Europa nach Kreta entfuhrt und hier seinen Sohn, den legendaren Konig Minos, gezeugt haben. Ihm zu Ehren hat Arthur Evans den Begriff der minoischen Kultur gepragt, wobei »Minos« eher ein Herrschertitel als ein Eigenname ist.

Der britische Archaologe, der einen Teil seiner Ausbildung in Deutschland absolviert hatte, war ein gluhender Verehrer Heinrich Schliemanns. Jetzt stand er dort, wo auch der Troja-Ausgraber noch kurz vor seinem Tod gestanden hatte: auf einem unscheinbaren Stuck Land bei Knossos, das als Spekulationsobjekt allerdings hoch im Kurs stand, weil hier die Ruinen des archaischen Kreta vermutet wurden.

Schliemann war die Zeit weggelaufen. Er hatte sich mit den Eigentumern nicht uber den Preis des ominosen Grundstucks einigen konnen. Arthur Evans kam, kaufte und grub. Was er ab 1900 in Knossos freilegte, war kein Jahrhundert-, eher schon ein Jahrtausendfund. Seine Bedeutung ging uber den monumentalen, freskengeschmuckten Palast, den Evans besagtem Konig Minos zuordnete, weit hinaus.

Was der Englander entdeckt hatte und dann Stuck fur Stuck ans Licht brachte, war nichts anderes als die erste genuin europaische Hochkultur. Wie eine verwunschene Fee tauchte sie nun unvermittelt aus dem Nebel der Geschichte auf, und keiner, der sich auf sie einlie?, konnte sich ihrem Zauber entziehen. Europa, nun hochkulturgekront, gab sich berauscht. Und Evans wurde 1911 zum Ritter geschlagen. Das ermutigte ihn zu weiteren Grabungen, aber auch zu zweifelhaften Rekonstruktionen, die Knossos den Titel »Disneyland der Antike« eingebracht haben.

Die Bilderwelt der minoischen Kultur schwelgt in Farben. Stillstand scheint tabu, alles ist in Bewegung, pulsierende Lebensfreude, wohin man sieht - von den kokett-ungezwungenen kretischen Frauen mit dem offenen Mieder bis zu springenden Delfinen, die eine Schiffsprozession begleiten, oder akrobatischen Turnubungen auf dem Rucken von Stieren, den dominierenden Kultobjekten auf der Insel.

Den Gottern, die solche Lebensfreude ermoglichten, dankte man mit gro?en und reichen Opferritualen, heiligen Spielen und aufwendigen Inszenierungen an besonderen Orten, in Hainen, Kultstatten und Gipfelheiligtumern.

Nimmt man die prachtvollen Villen und vor allem die saulengestutzten, lichtdurchfluteten Palaste hinzu, die wie eine Stadt fur sich die Buhne des politischen, religiosen und gesellschaftlichen Lebens bildeten, Herrschafts- und Wirtschaftszentrum zugleich waren, dann ist das verklarte Ideal einer friedvollen, auf Schonheit, Luxus und Lebenskunst gestimmten Kultur so gut wie vollstandig. Zumal da wehrhafte Bauten mit Befestigungswallen oder Verteidigungsgraben vollig fehlen.

Wer das Meer hat und das Meer beherrscht wie die Kreter, braucht keine Burgen und Mauern. Schwimmender Schutzschild der Insel war die Flotte. Wahrend andere Hochkulturen dieser Zeit, etwa die der Agypter oder der Bewohner Mesopotamiens, nur einfache Flussboote kannten, verfugten die Minoer bereits uber hochseetuchtige Schiffe. Sie waren so schnell, dass sie in anderthalb bis zwei Tagen alle Kusten des ostlichen Mittelmeers erreichen, aber in kurzer Zeit auch weit nach Westen vorsto?en konnten. Ausgangspunkt fur den Warenexport waren insbesondere die beiden Hafen Amnissos und Heraklion, die zu Knossos gehorten.

Dieses Seefahrtsmonopol machte Kreta, das durch seine Lage am Schnittpunkt dreier Kontinente ohnedies eine geopolitische Schlusselposition innehatte, uber ein Jahrtausend lang zur beherrschenden Handelsmacht der Antike. Doch wer sich so nachhaltig mit der Natur verbundet, erfahrt auch ihre Nacht- und Schattenseiten. Immer wieder sollen Feuer und Erdbeben die Blutephasen der minoischen Kultur zerstort haben. Aber immer wieder bauten ihre Bewohner die glanzvollen Palaste erneut auf.

So ist auch der gewaltige Vulkanausbruch, der im spaten 17. Jahrhundert (vermutlich 1628) v. Chr. die Nachbarinsel Thera (heute Santorin), Stutzpunkt und florierende Filiale der minoischen Kultur, buchstablich in die Luft sprengte, von der Forschung lange Zeit uberschatzt worden. Immerhin soll der Explosionsdonner dieser Naturkatastrophe von Zentralafrika bis nach Skandinavien und vom Persischen Golf bis zu den Felsen von Gibraltar zu horen gewesen sein.

Fast noch beeindruckender war das kulturelle Echo, das bis heute nachwirkt, sich angesichts fehlender Augenzeugenberichte und anderer authentischer Uberlieferungen aber ausschlie?lich auf eine, freilich hochst prominente Quelle stutzt: Platons Erzahlung uber das versunkene Inselreich Atlantis.

Beharrlich und in sich wiederholenden Anlaufen von der Antike bis zur Moderne ist dieses Filetstuck abendlandischer Fantasie mit historischen Ereignissen in Verbindung gebracht worden. Fur Kreta indessen gilt: Die Katastrophe von Santorin markierte hochstens einen Einschnitt, nicht aber den beginnenden Untergang der minoischen Kultur. Auf den Fundamenten der alten Palaste wurden neue und gro?ere errichtet. Knossos bluhte wieder auf und wurde endgultig zum religiosen Zentrum der Insel; diese sogenannte zweite Palastzeit wird auf etwa 1625 bis 1400 v. Chr. datiert. Und da wir gerade bei der Faktenprufung sind: War Kreta uberhaupt jemals die Insel der Seligen, der oft berufene Hort ansteckender Friedfertigkeit und Freizugigkeit.

Schon der minoische Haus- und Grundmythos lasst daran zweifeln: die blutrunstige Sage vom Minotaurus, jenem kannibalischen Ungeheuer, das - man nehme den Schwab zur Hand - durch einen sodomitischen Akt der kretischen Konigin Pasiphae zur Welt gekommen war. Der Unhold, halb Mensch, halb Stier, hauste im Labyrinth des Minos.

Es durfte die labrys genannte Doppelaxt gewesen sein - das Symbol der kretischen Kultur schlechthin -, welche dem irrgartenahnlichen Bau den Namen gab. Dem Monster, das darin lauerte, wurden alljahrlich sieben Jungfrauen und sieben Junglinge aus Athen geopfert. Bis es den Athenern zu bunt wurde und sie Theseus gen Kreta in Marsch setzten. Er stoberte den Minotaurus in den Irrgangen des Labyrinths auf und totete ihn. Den Weg zuruck wies ihm der ausgerollte Wollfaden,

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