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7. Ein Gespenst kommt selten allein

Sie zieht sich wie ein Schatten, ein dusterer Nebel durch die Geschichtsbucher - jene Epoche zwischen 1200 und 800 v. Chr., die man das »dunkle Zeitalter« nennt. Man konnte auch von einem Bermuda-Dreieck der Geschichte sprechen, da es nur sparliche schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeitphase gibt. Ihr Merkzeichen: Volkerwanderungen, Machtverschiebungen, kriegerische Auseinandersetzungen und Umwalzungen vor allem im ostlichen Mittelmeerraum, die auch die gewaltigen Imperien des Nahen Ostens erschuttern.

Das Beziehungsgeflecht der bronzezeitlichen Weltordnung, die auf gesicherten diplomatischen Kontakten und weitgespannten Handelsbeziehungen zwischen den verschiedenen Staaten beruhte, wird zerrissen. Es ist eine unheimliche, gespenstische Epoche.

Und ein Gespenst gibt es auch.

Immer wieder ist die Szenerie beschrieben worden, immer von Neuem beruhrt sie jeden, der sich auf sie einlasst. Am besten, Sie mischen sich unter die trojanischen Krieger, die in der Morgendammerung auf den Wehrgangen der Stadtmauer ihren Dienst tun, und betrachten das Geschehen von dort.

Die Wachen auf den hohen Befestigungsmauern Trojas trauen bei Tagesanbruch ihren Augen nicht: Der Strand, an dem gestern noch die Zelte der griechischen Armee standen, ist leer, und auch die feindlichen Schiffe sind offensichtlich verschwunden. Stattdessen blickt ein merkwurdiges Ungetum, das bei Sonnenaufgang als ein riesiges Holzpferd erkennbar wird, von dort, wo sich das langjahrige Kriegslager der Griechen befand, in Richtung Stadt.

Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und Sie sollten die trojanische Stadtmauer jetzt wieder verlassen, denn dort wird es bald ungemutlich. Allen Warnungen, Befurchtungen, Prophezeiungen zum Trotz und obwohl sie allen Grund haben, eine griechische Tauschung zu vermuten, ziehen die Trojaner das verdachtig aussehende Monstrum, eine Erfindung des listenreichen Odysseus, in die Stadt. Die im Bauch des Pferdes verborgenen Soldaten klettern, als die Nacht kommt, aus ihrem Versteck und offnen das Stadttor. Der Zorn der griechischen Truppen, die ihren Ruckzug nur vorgetauscht hatten und nun - nach zehnjahriger Belagerung - uber die Trojaner herfallen, entladt sich in einem Blutrausch ohnegleichen.

Blutrausch hin, Blutrausch her. Der Trojanische Krieg - ein Gemeinschaftswerk von Menschen und Gottern, mit einer Teilnehmerliste klingender Namen von Achilles und Agamemnon bis zu Hektor und Paris - ist nicht nur zentrales Ereignis der griechischen Mythologie. Er wurde durch die beiden gro?en Versepen »Ilias« und »Odyssee«, in denen der Dichter Homer seine entscheidenden Phasen und sein Ende schildert, auch so etwas wie die Grundungsurkunde der europaischen Kultur. Das holzerne Ross, das zum beruhmtesten Pferd der Geschichte, aber auch zum Paradebeispiel fur die »Torheit der Regierenden« (Barbara Tuchman) geworden ist, gehort ebenso zum allgemeinen Bildungsgut wie die Irrfahrten des Odysseus. Die Sensationsfunde Heinrich Schliemanns in den 1870er-Jahren taten ein Ubriges, um den Mythos Troja stark und schillernd zu machen.

Versuchen wir zu sortieren und schieben dabei eine der verzwicktesten Fragen der abendlandischen Philologie - ob es denn den blinden Dichter Homer als den gemeinsamen Autor von »Ilias« und »Odyssee« wirklich gegeben hat - gleich mal beiseite.

Homers Troja aber hat es, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls, wirklich gegeben. Schliemann fand seine Uberreste - darin ist sich die Fachwelt mittlerweile einig - in dem 15 Meter hohen Hugel Hisarlik, der strategisch gunstig an der Nordwestspitze Kleinasiens nahe dem Eingang der Dardanellen liegt. Erwiesen ist damit auch, dass es nicht nur das eine Troja gab, dem das Pferd den Untergang brachte, sondern dass der Ort in vielen verschiedenen Epochen der Geschichte prasent war, mehrfach erobert, durch Feuer und Erdbeben beschadigt, von seinen Bewohnern verlassen und immer wieder neu aufgebaut wurde. Zehn Siedlungsschichten wurden bisher nachgewiesen, die bis ins dritte, nach jungsten Funden vielleicht sogar bis ins funfte Jahrtausend v. Chr. zuruckreichen.

Der beruhmte (sogenannte) »Schatz des Priamos«, den Schliemann als Indiz und Zeitzeichen fur den Trojanischen Krieg betrachtete, wird heute der Siedlungsschicht II (2600 - 2300 v. Chr.) zugeordnet. Damit ist er ein Jahrtausend alter als die offenbar von gravierenden Zerstorungen betroffene Schicht Troja VII b, die nach Meinung der meisten Experten den historischen Hintergrund fur Homers Dichtungen abgeben konnte. Sie wird auf ungefahr 1200 v. Chr. datiert.

Das westlich zentrierte Troja-Bild Heinrich Schliemanns, der den Trojanischen Krieg fast fur eine Art innergriechischer Angelegenheit hielt, ist inzwischen grundlich korrigiert worden. Stattdessen richtete sich der Blick der Forscher nach Osten: auf die Hethiter, neben Assyrern und Agyptern die dritte Gro?macht der Bronzezeit, die den gro?ten Teil Anatoliens beherrschte und fruhzeitig uber Eisenwaffen verfugte.

In hethitischen Texten ist mehrfach von einer Stadt namens Wilusa die Rede. Wilusa aber, folgt man den Sprachwissenschaftlern, ist identisch mit Troja, das die Griechen zeitweise auch Wilios, Ilios oder Ilion nannten, woraus wiederum der Titel von Homers »Ilias« abgeleitet ist. Au?erdem wurde 1995 am Hugel Hisarlik ein Siegel in luwischer Sprache gefunden, die auch bei den Hethitern ublich war.

Das Ilion der spaten Bronzezeit, so lasst sich schlussfolgern, lag also in direkter Nahe, genauer gesagt am Westrand des hethitischen Reiches. Moglicherweise war Wilusa ein vom starken Nachbarn abhangiger Vasallenstaat oder ein kleines autonomes Konigtum. Auf jeden Fall befand es sich in der Einflusssphare der Hethiter und gehorte eher dem anatolischen als dem mediterranen Kulturkreis an.

Gegen die verheerende und diesmal endgultige Zerstorung Trojas war das kein Schutz. Im Ruckblick zeigt sich eher eine Schicksalsgemeinschaft. Die Ausloschung des kleinen, aber wehrhaften Ilion und der Untergang des gro?en Hethiterreiches gehoren beide zu jenem umfassenden Katastrophenszenario, das die ominosen »dunklen Jahrhunderte« einleitet. Die Welt des ostlichen Mittelmeerraums gerat aus den Fugen. Und der Name Troja wird spater - durch die Epen Homers - zur markantesten Chiffre fur eine Welt, die sich in Auflosung befindet.

Die Bosewichte, die dieses Chaos zu verantworten haben, gelten seit Langem als ausgemacht. Es sind die »Seevolker«. Aber da sie schwer zu identifizieren und eher ein »Phanomen«, um nicht zu sagen ein Seegespenst, geblieben sind, ist der Steckbrief unvollstandig geblieben.

Auf jeden Fall leisten sie ganze Arbeit, auch wenn nicht alles, was umsturzt oder auseinanderbricht, auf ihr Konto geht. Oft wirken mehrere Faktoren zusammen, aber stets stehen sie mit auf der Taterliste. Und es geht Schlag auf Schlag.

Um 1200 v. Chr. wird das hethitische Hattusa, die Hauptstadt mit dem Lowentor, von seinen Bewohnern verlassen. Das Reich Hatti, wie sie es nannten, geht unter. Mit grandiosen Bildwerken, einer fortschrittlichen Rechtsprechung, einem ma?vollen Umgang mit fremden Menschen und Gottern sowie einer Reihe lautmalerischzungenbrechender Herrschernamen wie Hattusili, Mursili, Telipinu, Tudhalija oder Suppiluliuma, die - zugegeben - immer schon schwer zu behalten waren. Schon in der griechischen Antike sind die Hethiter vergessen. Ihre Konigsgraber harren immer noch der Entdeckung. Die Debatte uber innere und au?ere Bedrohungen als Ursache des Untergangs halt an.

Ungefahr zur selben Zeit beginnt auch die mykenische Kultur, deren Kriegsherren Homer nach Troja schickt, zu verfallen: Uberfalle, Plunderungen und Brande zerstoren ihre wichtigsten Zentren auf dem griechischen Festland und auf Kreta. Andere Statten erleiden einen langeren, qualvollen, glanzlosen Niedergang. Die letzten mykenischen Palaste werden 1070 v. Chr. aufgegeben.

Die kassitische Dynastie, deren Konige seit uber vier Jahrhunderten in Babylon regiert haben, erlischt 1154 v. Chr.

Das assyrische Reich in Mesopotamien, das vom Kupferhandel mit Anatolien profitierte und um 2000 v. Chr. zur Gro?macht aufgestiegen war, leidet unter zermurbenden Kleinkriegen. Erst spater, im ersten Jahrtausend v. Chr., werden die Assyrer wieder an Macht und Einfluss gewinnen.

Die indogermanischen Philister, seit der Bibel bis heute schlecht beleumdet, fallen in - das spater nach ihnen benannte - Palastina ein und setzen sich dort fest.

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