Auch das agyptische Reich gerat in arge Bedrangnis, als die Schiffe unbekannter Aggressoren die nordafrikanischen Kusten erreichen. Aber in zwei siegreichen Schlachten, die die Konige Merenptah und Ramses III. 1208 und 1177 v. Chr. fuhren, gelingt es den Agyptern, die Angreifer aufzuhalten. Das Ende des Neuen Reiches ist dennoch vorprogrammiert.

Da verschiedene antike Quellen erwahnen, dass die Eindringlinge auf dem Seeweg gekommen waren oder sogar »auf Schiffen lebten«, haben die Historiker sie als Seevolker bezeichnet. Und ihre verheerenden Attacken auf die Mittelmeerlander - als handle es sich um ein Naturereignis - als Seevolkersturm. Organisierte Piraterie und Freibeuterei durften allerdings kaum ausgereicht haben, um die gewaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Umwalzungen am Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. hervorzurufen.

Wer also waren, woher kamen die Seevolker?

Eine indogermanische Invasion vom Balkan oder von Mitteleuropa aus, ein Zusammenschluss agaischer, anatolischer und vorderasiatischer Volker, eine von Mykene ausgehende Aggression (womit Homer wieder ins Spiel kame) - die Erklarungen fur den Seevolkersturm fielen bisher eher diffus als konkret aus und haben es schwer gemacht, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen.

Konsens herrscht aber zumindest daruber, dass es sich um Wanderbewegungen hochst unterschiedlich zusammengesetzter bronzezeitlicher Kriegerverbande handelte. Ihre Routen fuhrten auch - aber wahrscheinlich nicht nur - uber das Meer, das Mittelmeer. Der Blick der Historiker richtet sich dabei, was den Ausgangspunkt angeht, zunehmend mehr nach Westen als nach Osten.

So oder so ahnlich konnte es sich abgespielt haben: Im italischen und im agaischen Raum gerieten verschiedene Stamme wahrend des 13. Jahrhunderts v. Chr. in Bewegung und setzten in der Folge die Nachbarvolker unter Druck. Diese waren dann zum Teil wiederum gezwungen, in andere Gebiete auszuwandern - ein Dominoeffekt mit epochalen Auswirkungen, wie die osterreichischen Historiker Reinhard Jung und Mathias Mehofer aufgrund neuer Forschungsansatze bilanzieren: Die Seevolker losten eine dauerhafte Krise im ostlichen Mittelmeerraum aus.

Diesem Modell zufolge nahm der Seevolkersturm seinen Anfang in Italien und griff dann in einem langeren Prozess nach Osten uber, zunachst auf das mykenische Griechenland, dann auf die Imperien Vorderasiens und Afrikas. Wo immer die Seevolker auftauchten, stifteten sie Unruhe, wiegelten sie die Einheimischen auf, provozierten Unruhen und Aufstande. Uberall kam es zu ahnlichen Entwicklungen: Provinzen fielen ab, Stamme erhoben sich, Bevolkerungsgruppen setzten sich in Bewegung, Auflosungsprozesse begannen. Schritt fur Schritt entstand so der Seevolkersturm, der das Gespenst des »dunklen Zeitalters« heraufrief.

Da historische Quellen fur diese Zeitphase fehlen, hat man umso mehr die dichterische Quelle - das Werk Homers, das erste Zeugnis vom Gebrauch der Schrift bei den Griechen - nach Anhaltspunkten durchsucht. Das ist plausibel, denn zwischen dem Fall Trojas um 1200 v. Chr. und der Entstehung von »Ilias« und »Odyssee« im achten Jahrhundert v. Chr. liegen eben jene ominosen und »sprachlosen« Jahrhunderte, an deren Kenntnis es den Historikern mangelt. Und in der Tat lassen sich am Widerschein des brennenden Ilion die bruchigen Konturen der Epoche erkennen. Homer ist deshalb prompt zum Dichter des »dunklen Zeitalters« gekurt worden. Aber ein Dichter ist kein Berichterstatter.

Dennoch gibt sein Werk Hinweise, vor allem im Hinblick auf jene Region, in der fruhzeitig die Dominosteine gefallen waren: auf die sich neu entwickelnde Welt der Griechen. Die alte Palastkultur der Mykener, definiert durch den hohen Rang und die Aura ihrer Krieger, deren Heldentaten es zu ruhmen gilt, schimmert zwar in der »Ilias« noch deutlich durch. Aber in der »Odyssee« darf auch das einfache Volk, vertreten durch Hirten und Bauern, den Lauf der Dinge mitbestimmen. Und die militarischen Fuhrer treffen ihre Entscheidungen nicht mehr selbstherrlich allein, sondern Homer lasst sie Krieger- oder sogar Volksversammlungen einberufen, was im mykenischen Zeitalter nicht moglich war.

Das Griechenland Homers ist zwar in kleine Konigreiche eingeteilt. Aber deren Herrscher sind eher Grundbesitzer als Machttrager, und der Alltag der Konige verlauft kaum anders als der ihrer Untertanen: »Fur Odysseus ist es selbstverstandlich, sein Feld zu bestellen, Nausikaa, Tochter des Konigs der Phaaken, wascht gemeinsam mit den Sklavinnen die Wasche der Familie, und die Koniginnen verbringen den Tag mit dem Spinnen von Wolle« (Catherine Salles).

»Ilias« und »Odyssee« sind als ein Gemisch aus sehr unterschiedlichen Epochen zu lesen. Homer beschreibt Ereignisse, die er im 12. Jahrhundert ansiedelt, und lasst dabei Brauche seiner Zeit wie auch sehr viel altere Wirklichkeiten einflie?en. Die beiden Versepen tragen die Erinnerung an das heroische Zeitalter der mykenischen Kultur in diese neue Zeit einer sich festigenden Welt des Griechentums hinuber. Eine Welt, in der die Machtstellung der Konige allmahlich schwindet. An ihre Stelle tritt eine Art Selbstverwaltung der Burger in kleinen autonomen Gemeinschaften, die durch den Adel und durch Grundeigentumer gelenkt werden. Das System der Polis entwickelt sich.

Und die griechische Glaubens- und Gotterwelt gewinnt ihre endgultige Gestalt. Auf dem Olymp nehmen, um Vater Zeus herum, die einschlagigen mythologischen Verdachtigen Platz, denen Homer das Spielfeld zuweist: Sie sind weder allmachtig noch allwissend, denn auch die Gotter bleiben - wie die Menschen - der Moira, der Allgewalt des Schicksals, unterworfen.

Und das Trojanische Pferd? Vielleicht ist es ja gut, dass es in der Mythologie geblieben und nicht in die reale Geschichte galoppiert ist. Dort hatte es seinen Ruhm ein knappes Jahrtausend spater an einem hochkaratigen Konkurrenten messen mussen: an Bukeph-alos, dem Pferd Alexanders des Gro?en.

  

8. Die Frosche am Teich und die Demokratie

Schoner, heiterer, anmutiger als auf dieser idealen Ansicht des Malers und Architekten Leo von Klenze aus dem Jahr 1846 ist die Akropolis, Wahrzeichen und einst auch religioses Zentrum der Stadt Athen, wahrscheinlich nie portratiert worden. Dem Hofbauintendanten des bayerischen Konigs Ludwig I. wird nicht umsonst nachgesagt, er habe nicht nur Munchen in ein Athen des 19. Jahrhunderts verwandeln, sondern anschlie?end wiederum Athen in ein zweites Munchen verwandeln wollen.

Als Ludwigs Sohn Otto 1832 den Thron Griechenlands bestieg, war diese Chance da. Aber die stadtebauliche Umgestaltung Athens blieb weitgehend Vision. Wegweisend waren dagegen Leo von Klen-zes Plane fur den Schutz und die Restaurierung der Akropolis, die er denn auch so liebevoll malte, dass der Betrachter unmittelbar in das Gemalde und damit zugleich in die griechische Geschichte eintreten mochte.

Sie beginnt nicht hier, diese Geschichte, sie kommt, wie Sie sehen werden, eher hierher zuruck. Aber der Blick auf die alles dominierende Burg und die hoch aufragenden Tempel, Standbilder und Saulenhallen ruft schon jetzt die Frage in Erinnerung, die es so lange nicht gab, bis die Griechen sie endlich und erstmals in der Geschichte stellten: die Frage, wer eigentlich herrschen soll und darf - ein Konig, ein Monarch, der Adel oder vielleicht sogar das Volk?

Aber zuvor musste erst einmal jemand zu fragen anfangen.

Er kam aus der Hafenstadt Milet im sudwestlichen Kleinasien, Zentrum altgriechischer Kultur und wichtigster Umschlagplatz fur den Handel mit dem Orient. Er liebte die zerkluftete, buchtenreiche Kuste seiner ionischen Heimat und den Blick uber das Meer nach Westen, aber ebenso vertraut war ihm der Fluss aus dem Osten, der Maander, der allen Stromschleifen der Welt den Namen geben sollte und nach windungsreichen 584 Kilometern hier bei Milet sein Ziel fand: die Agais.

Er war der Erste, der nach der Ordnung der Dinge, nach dem gro?en Ganzen und seinen Teilen fragte. Er war der Erste, der uberhaupt Fragen stellte. Nach der dichterischen Grundungsurkunde der abendlandischen Kultur, die um 750 v. Chr. durch Homers Versepen »Ilias« und »Odyssee« geschaffen worden war, stiftete er fast 200 Jahre spater ihr philosophisches und wissenschaftliches Fundament.

Allen, die nach ihm kamen, gab er die Frage nach dem Urstoff mit auf den Weg. Dabei hatte er sie langst - und sehr plausibel - beantwortet: Das Wasser ist es, aus dem alles andere hervorgeht. So leuchtete Thales von Milet (um 600 v. Chr.), mit dem das Denken beginnt, allen voraus, die ihm folgten und an ihm Ma? genommen haben, ob in der griechischen Philosophie oder in der Moderne.

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