Reichstag den Bu?gang Kaiser Heinrichs IV. 800 Jahre zuvor wieder in Erinnerung rief, und die Anspielung war durchaus nicht abwegig. Sie war die Reaktion auf die Ablehnung des als deutscher Botschafter benannten Kardinals Hohenlohe durch Papst Pius IX. Aber sie markierte gleichzeitig den Hohepunkt des Kulturkampfes zwischen dem 1871 gegrundeten Deutschen Reich und der katholischen Kirche uber das Schul- und Bildungswesen, der zu einem Grundsatzkonflikt zwischen den Anspruchen des modernen Staates und den kirchlichen Traditionen wurde.

Nach Canossa gehen wir sehr wohl. Doch folgen Sie uns bitte zunachst an einen anderen Ort: nach Speyer. Die Stadt war Sitz der Salier, die hier auch den gro?ten Dom der Welt errichtet hatten - Inbegriff koniglicher Macht und christlichen Kaisertums. Hier wurde Heinrich IV. 1053 schon als Vierjahriger deutscher Konig. Sein Vater litt an Gicht und musste sich beizeiten um seine Nachfolge kummern. Gewahlt wurde der minderjahrige Heinrich von den deutschen Fursten, erst ihr Treueschwur machte ihn zum Herrscher. Und zum ersten Mal passierte etwas, das so niemand erwartete hatte: Die Fursten - unzufrieden mit der Amtsfuhrung Heinrichs III. - banden ihre Unterstutzung fur den noch kleinen Mann an eine Bedingung: Er sollte ein gerechter Konig werden. Hier deutete sich eine Hypothek fur den jungen Herrscher an, die den spateren Investiturstreit nachhaltig beeinflussen sollte.

Heinrich III. starb drei Jahre nach der Kronung seines inzwischen siebenjahrigen Sohnes, der in den nachsten Jahren unter der Vormundschaft seiner Mutter, Konigin Agnes, stand. Die konnte sich der vielen Ratschlage der vielen Manner um sie herum, die sich dazu berufen fuhlten, kaum erwehren. Einer der wichtigsten wollte der papstliche Gesandte Hildebrand werden, indem er durch Besuche am Hof versuchte, den Rechten des Papstes gegenuber dem Konig wieder Geltung zu verschaffen. Ein anderer, der einflussreiche Erzbischof Anno von Koln, griff als Anfuhrer einer Gruppe von Reichsfursten sogar zu illegalen Mitteln, um das salische Konigshaus gefugig zu machen. Er war 1062 Drahtzieher der Entfuhrung Heinrichs bei Kaiserswerth nahe Dusseldorf, mit der er die Herausgabe der Reichsinsignien erpresste. Drei Jahre musste der junge Mann, der nun im Sinne der Fursten erzogen werden sollte, bei dem von ihm gehassten Anno bleiben; drei Jahre stellten die Fursten die Regierung, bis Heinrich durch die zeremonielle Schwertleite am 29. Marz des Jahres 1065 mundig wurde und die Herrschaft wieder bei den Saliern lag. Agnes konnte ihren Sohn gerade noch davon abhalten, einen Feldzug gegen Anno zu organisieren. Die Entfuhrung blieb fur Heinrich das Trauma seines Lebens.

Es gab immer noch keine feste Residenz. Regiert wurde dort, wo der Herrscher sich gerade aufhielt. Wie alle anderen Konige zog Heinrich mit seinem gesamten Hofstaat, also mit bis zu 2000 Menschen, und zur Sicherung der Ernahrung auch mit zahlreichen Tieren - Schafen, Rindern, Huhnern - von Pfalz zu Pfalz. Anstrengende 120 000 Kilometer sollte er auf diese Weise im Laufe seines Lebens zurucklegen, das entspricht einer dreimaligen Erdumrundung. Heinrichs Konstitution kam ihm hier entgegen: Als Kind war er haufig krank, als Erwachsener erfreute er sich allerdings einer stabilen Gesundheit und war fur seine Zeit bei einer Gro?e von einem Meter achtzig au?ergewohnlich athletisch.

Seine geliebte Stadt Speyer lie? Heinrich planma?ig ausbauen, sie wurde Vorbild fur andere auf dem Rei?brett entstandene Stadte wie Leipzig oder Freiburg. Aber auch aus anderen Siedlungen entwickelten sich in dieser Zeit kleine und gro?ere Stadte, es war eine Zeit des Aufbruchs und der Innovationen. Das betraf ebenfalls die Kloster, deren Zahl wuchs und die gro?en Zulauf hatten. Die Menschen sollten sich wieder mehr an den Regeln der Kirche als an den weltlichen Vorgaben orientieren. Das forderte vor allen Dingen ein neuer Papst in Rom, und diese Botschaft machte auch vor dem Konig nicht halt. 1073 hatte Gregor VII. die Stellvertretung Christi auf Erden ubernommen. Es war der inzwischen avancierte Monch Hildebrand, den der siebenjahrige Heinrich schon als papstlichen Gesandten kennengelernt hatte. Libertas ecclesiae, »Freiheit der Kirche«, war die Losung des neuen Papstes, der die Ruckkehr zu den Prinzipien des heiligen Benedikt von Nursia (480 - 548) durchsetzen wollte. Der hatte fur Monchsgemeinschaften ein Regelwerk entwickelt, das sich an Zucht und Ma? orientierte und spater in der Formel ora et labora (bete und arbeite) zusammengefasst wurde. Es sollte auch Schluss sein mit der Einmischung durch die weltliche Macht, insbesondere mit der Vergabe der Bischofsamter durch den Konig.

Fur germanisches Rechtsempfinden war es aber traditionsgema? keineswegs klar, was fur das kanonische Recht, also die eigene Gerichtsbarkeit der romisch-katholischen Kirche, selbstverstandlich schien. Die Grundherren, die auf ihrem Territorium ein Kirchengebaude besa?en, hatten seit jeher das Recht, die Angelegenheiten ihrer Gemeinde zu regeln und auch bei der Besetzung von Stellen und Pfrunden ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Das galt vor allem fur die hoheren Ebenen: die Amter von Bischofen und Abten. Denn der Konig verstand sich als Eigentumer aller Kirchen und Kloster in seinem Herrschaftsgebiet. Er hatte das Recht, die Gebaude und die dazugehorenden Versorgungseinheiten (Pfrunden) zu verwalten, aber auch zu verkaufen, zu tauschen oder zu vererben. Die Amter von Bischofen, Erzbischofen oder Abten konnte er wie einen Besitz behandeln. So schaffte er sich Verbundete und sicherte sich die Rekrutierung von Soldaten.

Diese Handhabung - genannt »Laieninvestitur« - wurde von den Vertretern des Klerus nun als unangemessene Einmischung in kirchliche Angelegenheiten empfunden. Denn es ging - wie meistens - nicht nur um Macht, sondern auch um Geld, viel Geld. Kirchenamter wurden gekauft und verkauft. Der Konig entschied, wer den Zuschlag erhielt. Gregor VII. brandmarkte dies jetzt als Simonie, als eine nach Simon dem Magier benannte missbrauchliche Vermischung von geistlichen und weltlichen Gutern (Apostelgeschichte 8, 5 - 24). Beide Schwerter, das weltliche und das geistliche, seien dem Papst verliehen worden, der das eine weitergeben konne. Gregor sah sich sogar in der Position, als Einziger den Kaiser ins Amt zu rufen und wieder abzusetzen. Im Klartext: Auch die Fursten durften nur dem Papst die Fu?e kussen.

Diese Anspruche Gregors, zudem formuliert als politisches Programm, waren in ihrer Absolutheit neu und einzigartig. Die Botschaft gelangte naturlich auch zu Heinrich; der war mehr als emport und verstand die Nachrichten - durchaus zu Recht - als Kampfansage. Sah er sich doch als designierter Kaiser der romischen Christenheit und Nachfolger Karls des Gro?en, als Herrscher auch uber Burgund und Teile Italiens von Gott berufen - wie der Papst. Er lie? einen Brief schreiben, in dem er und seine Bischofe Gregor aufforderten »herabzusteigen«, also sein Amt niederzulegen und einem anderen Papst Platz zu machen. Man kann sich vorstellen: Die Eskalation war nicht mehr aufzuhalten.

Gregor antwortete prompt - wie seine Prinzipien es forderten -mit dem Kirchenbann. Das hei?t, er setzte den Konig kurzerhand ab und entband die Untertanen vom Treueid (1076). Das bedeutete im Mittelalter den vollkommenen Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft. Zudem hatte Heinrich nun keinen Zugang mehr zu den kirchlichen Sakramenten, namentlich zum Abendmahl, der Eucharistie. Die erschutternde Nachricht erreichte in wenigen Wochen das Volk, die Bischofe und auch die Fursten. Die waren im Zweifel, ob sie sich hinter ihren Konig stellen sollten, ob Heinrich uberhaupt noch ihr Konig sein konnte, und berieten sich 1076 bei der Reichsversammlung in Trebur.

Hier zeigte sich, dass die Verquickung von Interessen diesem Konflikt noch eine andere Farbe gab: Er war auch ein Meilenstein in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung zwischen Zentralgewalt und den »zentrifugalen Kraften«, das hei?t dem Adel, der beharrlich daran arbeitete, sich in den ihm vom Konig zu Lehen gegebenen -also auf Zeit uberlassenen, »geliehenen« - Furstentumern dauerhaft festzusetzen, um so die Herrschaft des Konigs zu vermindern oder abzuschutteln. Die deutschen Fursten entschieden also mit uber Niederlage oder Sieg. Und sie lie?en Heinrich als Bedingung fur ihre Loyalitat eine Botschaft uberbringen: Er hatte ein Jahr Zeit, um sich vom Bann des Papstes zu befreien.

Heinrich war unter Druck, es drohte der Verlust der Krone, und er musste handeln. Schlie?lich stand sein Entschluss fest: Im Winter 1076/77 brach er auf und machte sich auf den beschwerlichen Weg uber die Alpen Richtung Italien. Er musste den Papst treffen, der angeblich dabei war, sich mit den Fursten zu verbunden. Gregor war auf dem Weg nach Augsburg, erfuhr vom Vorhaben Heinrichs und furchtete einen Angriff. Er suchte Schutz und fand Unterschlupf bei der papsttreuen Markgrafin Mathilde von Tuszien auf deren Felsenburg Canossa im Apennin, 18 Kilometer sudwestlich von Reggio nell’ Emilia. Hier kam es am 25. Januar 1077 zu dem weltgeschichtlich bedeutsamen Bu?gang, bei dem sich erstmals ein Konig der kirchlichen Macht unterwarf.

Jetzt geriet Gregor seinerseits unter Druck. Er hatte einen Angriff Heinrichs erwartet - und gekommen war ein Mann ohne konigliche Insignien, im Bu?ergewand, der drei Tage lang barfu? kniend in Eis und Schnee um Vergebung flehte. Gregor war klar, dass er sich als Seelsorger auf Dauer einem so vorgetragenen Bu?ansinnen nicht verschlie?en konnte. Am 27. Januar 1077 entlie? er Heinrich IV. aus dem Kirchenbann und hob die Exkommunikation auf.

Wie ist dieser Gang nach Canossa, der sich in unserem Sprachgebrauch immer noch als Inbegriff fur demutigende oder beschwerliche Bittgange wiederfindet, zu bewerten?

»The Winner Takes It All« galt fur dieses Szenario jedenfalls nicht. Beide Seiten interpretierten die Angelegenheit auf ihre Weise: Fur die Kirche war es der gro?artigste Machtbeweis, den je ein Kirchenfurst zustande

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