Finsternis. Dahinter aber nehmen die Humanisten den Lichtstrahl der Antike wahr, der ein ganz anderes, ursprungliches, ein auf Freiheit und Entfaltung gerichtetes Menschenbild anzeigt. Die Leuchtkraft dieser »klassischen« Werte und Ma?stabe nachzuempfinden und in die Gegenwart zu ubertragen, erleben sie als eine Renaissance, eine Wiedergeburt.

Das neue Denken ging von Nord- und Mittelitalien aus, wo sich Stadtstaaten wie Mailand, Pisa, Venedig und Florenz zu politischen Machtzentren entwickelt hatten. Sie hatten in langen Kampfen mit den deutschen Kaisern ihre Unabhangigkeit erworben und waren durch die Kreuzzuge, ihre Bankgeschafte und ihre intensiven Handelsbeziehungen reich und machtig geworden. Seit dem zwolften Jahrhundert regierten sie sich zumeist selbst. Weder der Papst in Rom noch der Kaiser nordlich der Alpen war noch in der Lage, sie zu kontrollieren. Zunehmend bestimmten entweder die erfolgreichsten und wohlhabendsten Burger - wie die Familie Medici in Florenz -oder die Fursten, etwa in Mailand, die Politik.

Es war eine Politik, die den geistigen Aufbruch der Humanisten unterstutzte und beflugelte. Souveranitat und wirtschaftliche Starke der stadtischen Eliten fuhrten zu einer intensiven, dauerhaften Forderung von Bildung und Kultur. Die alten Leitbilder dafur waren mit der Erosion der mittelalterlichen Standeordnung und dem schwindenden Einfluss der Kirche untergegangen. Die neuen suchte man im Menschenbild und in den Lebensformen der Antike - und fand deren Zeugnisse nicht selten direkt vor der Haustur oder in der naheren Umgebung: Munzen, Graber, Tempel, Plastiken, Fresken, Ruinen von Amphitheatern, verschollene Schriften in Klosterbibliotheken. Alles Dinge, die zuvor keiner Betrachtung wert gewesen waren. Nun wurden sie als Zeugen eines gro?en Zeitalters wiederentdeckt und fast heiliggesprochen.

Einen unerwarteten, eher zwiespaltigen Auftrieb erhielt die Renaissance infolge der Ersturmung von Konstantinopel durch die Turken im Jahr 1453. Viele griechische Gelehrte und Kunstler des Ostromischen Reiches flohen nach Italien und vermehrten die Kenntnis des Altertums durch eine Fulle langst verloren geglaubter Texte und Dokumente.

Einen Widerspruch zur Religion und zum Christentum sahen die Humanisten nicht. Im Gegenteil: War der Mensch wirklich das Ebenbild Gottes, so sollte er auch von seiner Fahigkeit zu denken, zu sehen, zu horen uneingeschrankt Gebrauch machen. Nur so konne er seiner Freiheit gerecht werden. Ein schlichter junger Mann, in Kues an der Mosel geboren und spater Sekretar des papstlichen Legaten in Deutschland, brachte es am besten auf den Punkt: »Der Mensch besitzt eine Stadt mit funf Toren, den funf Sinnen. Durch diese treten Boten ein und bringen Berichte aus der ganzen Welt.« Wer diese Nachrichten empfange, aufzeichne und ordne, werde sich seiner Besonderheit und Begnadung bewusst, »er findet in sich die Zeichen Gottes, in ihm leuchtet die Schopferkraft mehr als in jedem anderen Lebewesen wider«. Erst spat, Ende des zweiten Jahrtausends, erfahrt der gro?e Philosoph Nikolaus von Kues seine Renaissance.

War der Blick des Menschen zuvor fast ausschlie?lich vertikal zum Himmel, zu Gott gerichtet, so eroffnen ihm die funf Stadttore des Cusanus nun die freie Sicht in der Horizontalen, die Wahrnehmung der Welt um ihn herum. Die Landschaft wird entdeckt - wer hatte vor dem »Toroffner« Petrarca etwas fur die Schonheit der unberuhrten, unbezwungenen Natur ubriggehabt? Die neue Weltzuge-wandtheit spiegelt sich auch in der Kunst. Die Portrats werden genauer, authentischer, realistischer, sie zeigen individuelle Gesichts- und Charakterzuge. Wie in der Antike werden die Menschen haufig nackt dargestellt, um die konkrete Korperlichkeit anschaulich zu machen. Die radikalste Veranderung ist der Ubergang zur Zentralperspektive. Die Bilder zeigen jetzt eine Wirklichkeit, die vom Maler geplant und nach einem System mathematisch festgelegter Bezugspunkte konstruiert und gestaltet ist. Die Szenerie prasentiert sich nun genau so, wie das menschliche Auge sie wahrnimmt.

In der Baukunst wird, analog zur veranderten Blickrichtung des Renaissance-Menschen, die eher weltferne Vertikale der Gotik von der erdnahen Horizontalen abgelost. Es ist vor allem der Goldschmied und Bildhauer Filippo Brunelleschi, der der neuen Architektur durch die Anwendung antiker Formen und durch die Ubernahme des Zentralbaus im Gegensatz zur bisher dominierenden Basilika zum Durchbruch verhilft. Als sein Meisterstuck gilt die Domkuppel von Florenz, die zum Vorbild fur die Peterskirche in Rom wurde und zusammen mit Michelangelos Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle zu den beruhmtesten »Wahrzeichen« der Spatrenaissance gehort.

Das gewaltige Spektrum und die Ranghohe der Renaissance-Kultur kunden nicht nur von der Meisterschaft ihrer Kunstler und Autoren. Sie bewahren auch die Erinnerung an die Gonner, Forderer, Stifter und Sponsoren, die aus personlichem Interesse oder aus Prestigegrunden diese schopferische Entfaltung erst moglich machten.

Allen voran hat die Familie Medici, durch Grundbesitz, Wollhandel und Bankgeschafte wohlhabend geworden, uber Generationen hinweg den »Kulturbetrieb« zum Bluhen gebracht und die Kreativitat seiner »Produzenten« - Bildhauer, Architekten, Maler, Dichter - angefacht. Lorenzo de’ Medici, der Florenz nicht nur zur fuhrenden Macht Italiens, sondern auch zu einer Art Kulturhauptstadt der Renaissance machte, hat sich auf diese Weise sogar den Ehrentitel il Magnifico (der Prachtige) erworben. Die Medici stellen in der Folgezeit auch die Papste Leo X. und Clemens VII. Der Name der Familie wird zum Inbegriff herrschaftlicher Lebensfuhrung, politischer Einflussnahme, wirtschaftlicher Potenz und kulturellen Engagements.

Das humane Potenzial, die dem Menschen gegebenen Fahigkeiten und Moglichkeiten voll auszuschopfen ist das Bildungsziel der Renaissance. Die Epoche liefert zwei sehr reale Beispiele, zwei Auspragungen dafur, wie dieses Ideal an Vollkommenheit in Erscheinung treten kann. Extrem unterschiedliche Beispiele, wie Sie gleich sehen werden - die Skala des Humanen umfasst zwei Pole: Der Mensch ist begabt und erfindungsreich nach beiden Seiten, im Aufbauen und im Zerstoren, schlicht gesagt: im Guten wie im Bosen.

Auf der einen Seite steht der Uomo universale, der »komplette« Mensch sozusagen, das Universalgenie, wie es Leonardo da Vinci bis heute exemplarisch verkorpert. Der Sohn einer Bauernmagd ist nicht nur Maler, Architekt und Bildhauer, sondern auch Naturforscher und Ingenieur. Vorrang hatte fur ihn die eigene Beobachtung. Es zahlte nicht das uberlieferte Wissen, sondern nur das, was er selbst in Augenschein genommen und dann mit dem Verstand uberpruft hatte. Gegen das Verbot der Kirche sezierte er in Florenz mehr als drei?ig menschliche Leichen, um anatomische Studien zu betreiben und das Zusammenspiel von Knochen, Nerven und Muskeln so genau wie moglich zu untersuchen. Nach seiner Uberzeugung konnte ein Kunstler nur dann einen Menschen richtig darstellen, wenn er dessen Korperbau intensiv erforscht hatte. Zu den ernuchternden Tatsachen der Wissenschaftsgeschichte gehort allerdings, dass seine hochst exakten Zeichnungen von den Medizinern kaum zur Kenntnis genommen wurden. Nach wie vor grundet sich sein Weltruhm vor allem auf die »Mona Lisa« und das »Abendmahl«.

Fur das gro?e, das echte Genie ist nichts zu klein, zu gering, wenn es darum geht, der Natur auf die Schliche zu kommen und ihre Gesetze zu ergrunden. Leonardo untersucht auch das Verhalten von stromenden Flussigkeiten und die Entstehung von Strudeln, studiert den Flug und die Schwingen der Vogel, entwickelt Modelle von Flugmaschinen und Unterwasserbooten, die nachfolgende Generationen von Ingenieuren inspirieren. Seiner Auffassung nach musse der Kunstler sich mit der Natur auseinandersetzen, mit ihr wetteifern. Dann konne es ihm gelingen, den gottlichen Schopfungsprozess nachzuvollziehen.

Mit ihm selbst wollte allerdings niemand wetteifern. Wer konnte gegen dieses Prachtexemplar eines Renaissance-Menschen schon bestehen! Ein normaler Sterblicher, werden Sie zu Recht sagen, jedenfalls nicht. Der, von dem jetzt die Rede ist, hat es deshalb auch gar nicht erst versucht. Er hat sich auf die andere Seite des menschlichen Spektrums geschlagen und sich dort ebenfalls extrem positioniert.

Es handelt sich um Cesare Borgia, den unehelichen Sohn Papst Alexanders VI., dessen Biografie am besten in Form eines Steckbriefs abgefasst werden kann, in den man aber die monstrose Karriere seines Vaters gleich mit einflechten sollte. Alexander VI., der 1492 durch Stimmenkauf auf den papstlichen Stuhl kam, gehort zur skrupellosen Spezies der Renaissance-Menschen. Er begriff das Papsttum, das unter seinem Pontifikat ein Hochstma? an »Verweltlichung«, Korruption und Dekadenz erreichte, als politische Institution, als durchaus diesseitigen Machtfaktor im italienischen und europaischen Kraftespiel. Um diese Macht zu sichern, war ihm jedes Mittel recht. Mit Hilfe seines Sohnes vergiftete er politische Gegner, kaufte Kurtisanen, kassierte Fremdvermogen und lie? den Nepotismus, die Vetternwirtschaft, hochleben.

In Kenntnis dieser Karriere konnen wir mit Cesare kurzen Prozess machen und der Einfachheit halber die volle Skala der sieben Todsunden, angefuhrt von der Ermordung des Schwagers und Bruders, pauschal fur ihn in Anspruch nehmen. Mit 18 Jahren wurde er Kardinal, was seinen Ehrgeiz und seine Gier nach Ruhm aber nicht befriedigte. Im Zuge seiner politisch-militarischen Laufbahn unterwarf er mit gro?ter Brutalitat die kleineren Feudal- und Stadtherrschaften im Gebiet des Kirchenstaates, scheiterte aber mit seinem Plan, sich ein eigenes Konigreich in Mittelitalien einzurichten.

Fur den gro?artigen Renaissance-Kenner Jacob Burckhardt war Cesare Borgia der »gro?e Verbrecher«, Urbild des vitalen, lebensund machthungrigen Gewaltmenschen. Mittlerweile aber zeigt sich, dass zumindest ein kleiner

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