Franzosen findet er rasch viele Anhanger, die den glorreichen Zeiten glanzender Siege nachtraumen. Doch in der Schlacht bei Waterloo unterliegt Napoleon den Englandern unter Wellington im Verbund mit den preu?ischen Truppen der Generale Blucher und Gneisenau. Um nicht in die Hande der Preu?en zu fallen, die nach dieser neuerlichen Attacke mit dem unbequemen Korsen wohl kurzen Prozess machen wurden, fluchtet Napoleon zu den Englandern. Die finden mit der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena einen sicheren und endgultigen Verbannungsort. Hier wird er sechs Jahre spater auf einem alten Feldbett sterben.
Wenn Sie heute im Pariser Invalidendom vor dem gigantischen Quarzit-Sarkophag stehen, in dem Napoleon erst vierzig Jahre nach seinem Tod zur Ruhe kam, dann werden Sie vielleicht einen starken Widerspruch empfinden: den Widerspruch zwischen dem riesigen, unbeweglichen Super-Size-Sarg in Mammutgro?e und dem unruhigen Leben des doch so kleinen, quirligen Selfmade-Mannes, der ganz Europa aufmischte und doch niemals Erfullung fand. Und bedenken Sie dann bitte, was uberma?ige Selbstliebe in Verbindung mit Minderwertigkeitsgefuhlen alles anrichten kann. Und wagen Sie in Ihrem Geiste jenes Urteil Napoleons uber sich selbst, das er nach der Volkerschlacht zu Leipzig in tiefer Resignation gegenuber Metternich bekannte. Es war sein lebenslanges, furchtbares Mantra: »Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, konnen sich zwanzigmal schlagen lassen und doch immer wieder in ihre Residenzen zuruckkehren. Das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glucks! Meine Herrschaft uberdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehort habe, stark und gefurchtet zu sein.«
33. Fahrstuhl in eine neue Welt
Genau so sieht ein kunstvoller Dom der Neuzeit aus. Eine Kirche des Fortschritts. Ein technisches Heiligtum mit elektrischem Fahrstuhl. Fur die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts versammelt sich in diesem ursprunglich rotbraunen Gittergerust des Eiffelturms alles, was den festen Glauben an die Moderne reprasentiert: das Machbare, das Industrielle, die technische Verlasslichkeit, der Vorrang von Mathematik und physikalischer Berechenbarkeit, der Triumph des Fortschritts, der himmelsturmende Glaube an eine bessere Zukunft.
Wir haben es auf unserer Zeitreise andauernd gesehen: Politik verandert die Welt. Aber Wissenschaft und Erkenntnis verandern die Welt noch mehr. Doch fragt man, was im 19. Jahrhundert die Verhaltnisse am nachhaltigsten durcheinandergewirbelt hat, dann lasst sich darauf kurz und knapp antworten: die technische Beherrschung der Natur.
Es war ein Paukenschlag der Geschichte: Zum ersten Mal gelang es der Menschheit, die Naturkrafte in umfassender Weise in den Dienst der eigenen Sache zu stellen. Den Dampf arbeiten zu lassen, anstatt die eigenen Muskeln gebrauchen zu mussen. Elektrische Strome sprechen zu lassen, statt muhsam selbst Botschaften von Ort zu Ort zu transportieren. Mit hei?er Luft zu fliegen. Auf Stahlbandern sich pfeilschnell durch die Welt zu bewegen. Die eigene Stimme, Musik und Bilder konservierbar und jederzeit abrufbar zu machen. Mit Chemikalien uber das Wachstum der Pflanzen zu herrschen. Den Lebensrhythmus ganz nach Wunsch zu beschleunigen. Mit der Technik alle alten Grenzen, auch die des Denkens, aufzubrechen.
Wir mussen gar nicht weit in der Weltgeschichte zuruckreisen, um diese folgenschwerste aller Revolutionen live mitzuerleben. Unsere Ururgro?vater konnten tatsachlich noch Augenzeugen dieses gewaltigen Umbruchs gewesen sein.
Im Jahr 1802 zum Beispiel. Da machen die Englander erste Versuche mit Dampfschiffen, nachdem sich bereits 1769 der englische Arbeiter James Watt die Dampfmaschine hatte patentieren lassen. Und im November 1783 waren die ersten Flugpioniere der Weltgeschichte in einem Ballon der Gebruder Montgolfier uber Paris aufgestiegen. Fast zeitgleich mit dem ersten Raddampfer des amerikanischen Malers und Technikpioniers Robert Fulton macht 1804 die erste Lokomotive des Erfinders Richard Trevithick ihre ersten Fahrversuche. 1821 wird dann in England eine Eisenbahnlinie eroffnet.
Seit 1825 befreien Spinnmaschine und mechanischer Webstuhl von der Muhsal der Handarbeit. In das Jahr 1837 fallen gleich zwei weltbewegende Erfindungen: Der amerikanische Maler Samuel Morse entwickelt den Telegrafen, und der Franzose Louis Daguerre schie?t das erste brauchbare Foto, die »Daguerreotypie«. Die Entwicklung von Kunstdunger durch Justus von Liebig revolutioniert die Landwirtschaft. Das leichteste Metall der Welt, Aluminium, wird durch Elektrolyse aus Bauxit gewonnen, und in Bochum erfindet Jacob Meyer das Stahlgussverfahren. 1853 rattert die erste U-Bahn unter den Hausern Londons hindurch. Die Entdeckung der Bakterien durch Robert Koch weckt Hoffnungen, die gro?ten Gei?eln der Menschheit endlich zu besiegen. Die mendelschen Gesetze des osterreichischen Abts Gregor Mendel schaffen die Grundlage fur systematische Tier- und Pflanzenzucht.
1870 wird im Schlachthaus von Chicago das erste Flie?band montiert, eine Neuerung, die bald die gesamte Arbeitswelt revolutionieren wird und den Begriff der »Effizienz« in die Welt bringt. Thomas Alva Edison zeigt 1880 den Menschen, was Elektrizitat alles leisten kann, und erleuchtet ihre Raume ganzlich ru?frei mit einem strahlenden Glaskolben. Zu dieser Zeit schaffen es die Gleisbauer bereits, das europaische Schienennetz pro Jahr um 10 000 Kilometer zu erweitern. Die raumliche Entfernung zwischen den Menschen schrumpft schneller, als es die mentale Distanz zwischen den Nationen vermag. Ganz am Ende des Jahrhunderts lernen dann auch noch die fotografischen Bilder laufen, die Kutschen ohne Pferde zu fahren, und man kann sich jetzt sogar uber riesige Entfernungen unterhalten, ohne sich dabei sehen zu mussen. Die verruckte Erfindung von Philipp Reis und Graham Bell, das Telefon, funktioniert tatsachlich. Und sogar der Himmel gehort seit Otto Lilienthal nicht nur Gott und den Engeln, sondern jetzt auch den Piloten.
Gibt es ein treffenderes Symbol fur diese Zeit, in der die Sterne zum Greifen nahe scheinen, als das Stahlgerippe, das Gustave Eiffel 1889 in Erinnerung an die Franzosische Revolution auf dem Pariser Marsfeld errichtete? Mit nur 10 000 Tonnen Gewicht und einer Hohe von 300 Metern, die allerdings bei Winterkalte um bis zu 15 Zentimeter schrumpfen, ist diese Fachwerkkonstruktion das leichteste Bauwerk dieser Gro?e, das je gebaut wurde. Und - im wahrsten Sinne des Wortes - das Zeugnis einer veranderten WeltAnschauung.
Probieren Sie es doch selbst einmal aus: In den alten gotischen Kathedralen geht Ihr Besucherblick bestimmt von unten nach oben. Kaum, dass Sie das Kirchenschiff betreten haben, schauen Sie mehr oder weniger ehrfurchtig Richtung Decke, wie die Menschen vor Ihnen auch, die sich so ihrer Kleinheit vor Gott bewusst werden sollten. Bei den modernen Bauwerken wie dem Eiffelturm geht der Blick andersherum: Mit dem elektrischen Fahrstuhl saust man zugig an den hochsten Punkt, um von dort aus mit Munzfernglasern, die sich nur nach unten neigen lassen, auf die Menschen in den Stra?en zu blicken, also auf sein eigenes Dasein. Man blickt nicht in den Himmel. Die Dinge, die man jetzt sieht, sind konkret, diesseitig und materiell. Nichts ist da spirituell, esoterisch oder religios.
Der traditionelle Gottesglaube wird fur den, der so auf seine Welt schaut, immer hinfalliger. Priester und Theologen bekommen jetzt starke Konkurrenz von neu erfundenen »Dolmetschern des Lebens«, von Psychologen, Psychotherapeuten, Psychoanalytikern, Soziologen, Sozialarbeitern, die es alle in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor nicht gab. Die diffusen religiosen Begriffe von einst werden nun ersetzt durch fachliche Definitionen mit wissenschaftlichem Gutesiegel: Moderne Menschen sind nicht einfach »gut« oder »bose«, sondern »gesund« oder »krank«. Und die Ausgegrenzten hei?en nicht mehr Ketzer, Hexen und Teufel, sondern Staatsfeinde, Asoziale und Terroristen.
Es ist auch die Zeit ganz neuer Helden. Gustave Eiffel hat in der Balustrade der ersten Plattform 72 Namen in Goldschrift eingravieren lassen, die allerdings durch spatere Anstriche ubermalt wurden und deshalb heute fast vergessen sind. Eiffel tat damals das, was bereits die Romer bei ihren Triumphbogen in Hinblick auf erfolgreiche Feldherrn taten: Er ehrte mit den Inschriften die Helden seiner Epoche, und die Helden seiner Zeit waren nun nicht Feldherrn oder Glaubenskampfer, sondern allesamt Wissenschaftler.
So gewinnt man von diesem Turm aus den Uberblick uber die gewaltigen Leistungen der menschlichen Schopfung. Und staunt. Stolz zu sein auf sich selbst und seinen Fortschritt - das ist eine wesentliche Errungenschaft der burgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts.
Was fur ein Welten-Wechsel innerhalb von drei Generationen! Als im Jahre 1814 die Preu?en nach dem Sieg uber Napoleon in Paris einritten, brauchte es noch ganze neun Tage, bevor die Berliner diese Top-Nachricht erfuhren. Hundert Jahre spater vergehen nur noch 0,025 Sekunden, um eine Nachricht von Amerika nach England zu