Materialismus« ist denn auch der eigentliche Name jener Philosophie, die man heute gewohnlich als Marxismus bezeichnet.

Karl Marx muss eine ebenso faszinierende wie beunruhigende Erscheinung gewesen sein. Temperamentvoll, zupackend, laut, gro? gewachsen, vierschrotig, mit wilder Mahne, langem Rauschebart und schief zugeknopftem Rock sprach er »in Imperativen, die keinen Widerspruch duldeten« - so schildern es Zeitgenossen. Auch er gehort zu den gro?en Gestalten des 19. Jahrhunderts, die gleichsam aus dem Nichts auftauchen, wie Darwin und Napoleon, aber eine Wirkung entfalten, die weit uber ihr Jahrhundert hinauswachst.

Als Sohn eines Rechtsanwalts im provinziellen Trier geboren, studiert er Jura und Philosophie, um schlie?lich bei der Rheinischen Zeitung in Koln als Journalist zu arbeiten. Doch die Zensur in den restaurativen, ruckwartsgewandten 1840er-Jahren treibt ihn in die Emigration. Zuerst nach Paris, wo er den Fabrikantensohn Friedrich Engels (1820 -1895) kennenlernt, jenen vermogenden Mitstreiter, der ihn zeitlebens finanziell unterstutzen wird und der selbst ein aufruttelndes Buch uber das Arbeiterelend in England verfasst hat. Anschlie?end nach Brussel, von wo er, als 1848 die franzosische Februarrevolution ganz Europa erschuttert, ausgewiesen wird. Marx reist als Berufsrevolutionar, wird zuletzt von der preu?ischen Regierung fur staatenlos erklart und ausgewiesen, emigriert erneut nach Paris und wird auch dort mit Verhaftung bedroht. Mit seiner Frau und seiner gro?en Kinderschar (von seinen sieben Kindern uberleben ihn allerdings nur drei Tochter) bleibt ihm nur noch das Exil in London, wo er bis zu seinem Tode 1883 unter oft durftigen Verhaltnissen lebt.

Gemeinsam verfassen Marx und Engels im Revolutionsjahr 1848 eine 23-seitige Flugschrift, die in deutscher Sprache in London gedruckt wird und die heute zu den beruhmtesten Schriftzeugnissen der Weltgeschichte zahlt: das »Manifest der Kommunistischen Partei«.

Die Kommunisten, so hei?t es unverblumt im letzten Absatz der Schrift, »erklaren es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden konnen durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mogen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Lander, vereinigt euch!«

Konnen wir uns heute die radikale Umsturzbegeisterung dieser Zeit annahernd vorstellen? Wohl kaum. Denn den Menschen des 19. Jahrhunderts fehlt unsere relativierende Erfahrung der spateren politischen Katastrophen. Sie sind ganz anders als wir. Von brutaler Technisierung und furchtbarer Vermassung des Mordens ahnen sie noch nichts. Das Grauen von Auschwitz und der Albtraum der Atombombe sind ihnen noch unvorstellbar. Der »Weltenbrand« ist in dieser Zeit immer noch reine Philosophie, mehr geistige Attitude als wirkliche Tat. Und die Vorstellung vom Endkampf, vom endgultig »letzten Gefecht«, zu dem in der »Internationalen« aufgerufen wird, hat fur die Menschen dieser Epoche noch keineswegs etwas Lacherliches. Es ist die Zeit, da sogar ein Schongeist wie Richard Wagner, der in seiner Musik stets den Untergang als asthetisches Erlebnis beschwort, beim Eisengie?er Oehme in Dresden hundert Handgranaten bestellt. Es ist die Zeit, wo mit Pathos alles Alte »hinweggefegt« werden soll und »Gott tot ist«, wie der Altphilologe und Dichter-Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 -1900) kompromisslos behauptet. Aber noch nichts ist passiert. Eine Epoche, die fast hysterisch zwischen dusterer Endzeitfantasie und krassem Zukunftsoptimismus pendelt. In der alles »total« ist oder werden soll: das unuberbietbare »Gesamtkunstwerk« eines Richard Wagners ebenso wie das »letzte Gefecht« der Kommunisten, das unverbruchliche Gottesgnadentum adliger Herrscher oder die idealistische Philosophie eines Hegel, die den krassen Anspruch erhebt, das Weltganze in all seinen Aspekten vollstandig zu erfassen.

Die ungeloste soziale Frage des Vierten Standes hatte zunachst in Frankreich die Februarrevolution von 1848 ausgelost. Die Ideenlosigkeit einer ruckwartsgewandten Politik hatte Philosophen und intellektuelle Revolutionare auf den Plan gerufen. In der allgemeinen Unzufriedenheit gelang der Schulterschluss zwischen Volk, Intelligenz und Burgertum, und zum ersten Mal in der Geschichte sa?en in Frankreich Sozialisten in der Regierung. Aber nur kurz. Denn nun wuchsen wieder die Spannungen zwischen Arbeitern und Burgern, die Ordnung herbeisehnten und sich vor der »roten Gefahr« zu furchten begannen. So kam es, dass man erneut Altbewahrtes suchte. Und das hatte in Frankreich immer noch den gleichen Namen: Napoleon!

»Napoleon« klang in vielen Ohren immer noch wie das Qualitatsversprechen schlechthin. Louis-Napoleon, ein Neffe des Kaisers, nutzte die Gunst der Stunde und lie? sich zum Prasidenten der Zweiten Republik wahlen. Beim Volk beliebt, gelang ihm 1851 der Staatsstreich: Zunachst riss er, mit Zustimmung des Volkes, die parlamentarische Macht an sich und mit dem Versprechen »Das Kaiserreich ist der Friede!« dann noch die Kaiserkrone. Frankreich war wieder da, wo es schon unter Napoleon I. war. Die Franzosen lebten seit 1853, nunmehr unter Napoleon III., wieder in einer vom Volk gestutzten Diktatur.

Gleichwohl durchschuttelt das franzosische Aufbruchssignal von 1848 zunachst ganz Europa, zumal da der restaurative Ausgang der Geschichte anfangs noch nicht abzusehen ist. Europa sturzt in einen nationalen Revolutionstaumel: In Suddeutschland folgen viele Menschen schon wenige Tage nach der Februarrevolution dem franzosischen Vorbild. In Osterreich muss Metternich, die verponte Symbolfigur der Monarchie, im Schutz der Dunkelheit Wien verlassen. Der Vielvolkerstaat ist drauf und dran auseinanderzubrechen, weil auch Tschechen, Italiener, Ungarn ihr Nationalgefuhl entdecken. In Preu?en kommt es zu Barrikadenkampfen, die den Konig Friedrich Wilhelm IV. zwingen, eine demokratische Verfassung zu versprechen. In Frankfurt, wo die schwarz-rotgoldene Fahne zur Bundesflagge erklart wird, versammeln sich frei gewahlte Liberale aus allen deutschen Gebieten, um in der Paulskirche uber eine gesamtdeutsche Bundesverfassung zu beraten. Eine vorlaufige Zentralregierung unter Leitung eines habsburgischen »Reichsverwesers« wird eingesetzt.

Das schwerwiegende Problem: Die gro?en Einzelstaaten scheren sich wenig um die Beschlusse der verfassunggebenden Nationalversammlung. Und der preu?ische Konig lehnt die Kaiserkrone, die man ihm von Frankfurt aus andient, rundheraus ab. Fur ihn, der aus innerer Uberzeugung noch an das Gottesgnadentum seiner Herrschaft glaubt, sei eine Krone aus der Hand des Volkes »aus Dreck und Letten gebacken«, wie er schreibt. Als legitimer Konig von Preu?en wurde er sich beschmutzen mit einer Kaiserkrone, an der »der Ludergeruch der Revolution« klebe.

Damit ist die Revolution in Europa vorerst abgesagt. Die Scherben, die jetzt noch aufzusammeln sind, kehren Adel und Militar mit der Macht ihrer Waffen weg.

  

34. Freiheitsfackel im Sturm

Wenn Sie mit einem der gro?en Ozeanliner uber den Atlan tik nach New York schippern und endlich in die Hudson Bay vor New York einbiegen, dann bekommen Sie eine gute Portion Frankreich zu sehen. Linker Hand erblicken Sie auf der kleinen Liberty-Insel 204 Tonnen Kupfer, die sich 93 Meter hoch in den Himmel recken: die Freiheitsstatue, die Frankreich 1886 der amerikanischen Nation als Sinnbild der Freiheit zum Geschenk machte.

Der franzosische Kunstler Frederic Bartholdi hat die Figur entworfen, und Gustave Eiffel, das Eiffelturm-Genie, zeichnet mit seiner eisernen Innenkonstruktion dafur verantwortlich, dass Miss Liberty’s Freiheitsfackel selbst bei kraftigem Sturm um nie mehr als acht Zentimeter hin- und herschwankt. Und wenn Sie jetzt vom Schiff aus noch lesen konnten, was auf der Bronzetafel zu Fu?en der Statue eingraviert ist, dann wurden Sie sich hier sehr willkommen fuhlen: »Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturm Getriebenen, / Hoch halt ich mein Licht am goldenen Tore«.

Dabei war die Freiheitsstatue ursprunglich gar nicht dazu gedacht, Sie und andere Reisende so freundlich zu begru?en. Wenn Sie genauer hinsehen wurden, dann entdeckten Sie unter ihrem Fu? eine zerbrochene Kette, die die Uberwindung der Sklaverei symbolisieren soll. Das war es eigentlich, was mit diesem Werk gewurdigt werden sollte: die Befreiung vom Joch der Sklaverei, die den Amerikanern 1865 mit dem Ende ihres Burgerkriegs gelungen war.

Au?erdem wollten die stolzen Franzosen mit diesem Geschenk daran erinnern, dass sie es doch eigentlich gewesen waren, die im 18. Jahrhundert den Unabhangigkeitskampf der dreizehn Ostkustenstaaten unterstutzt hatten. Das stimmte zwar, war aber bei genauerer historischer Prufung alles andere als eine selbstlose Tat gewesen. Frankreich war in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts ja noch ein absolutistisches Konigreich und alles andere als republikanisch gesonnen. Die Hoffnungen der Franzosen richteten sich damals hauptsachlich darauf,

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