ubermitteln. Kann man so viel Fortschritt auf einmal wirklich aushalten?

Die Ubertragung der technischen Naturbeherrschung auf die Arbeitswelt kommt einem gesellschaftlichen Erdrutsch gleich, den man spater als »Industrielle Revolution« bezeichnet hat. Man hat mit diesem Wort nicht ubertrieben. Denn eine vollige Verwandlung, ein Umsturz, findet wirklich statt: In der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts verwandeln sich uber Nacht traditionelle Agrarwirtschaften in Industriegesellschaften. England ist mit seiner machtigen Seeflotte und den uberseeischen Kolonien der gro?te Ex-und Importstaat und marschiert an der Spitze dieser Entwicklung. Das Commonwealth zeichnet den Weg der Zukunft vor. Mit der Einfuhrung von Maschinen, die anfangs grundsatzlich als Gro?gerate daherkommen, stirbt die Manufaktur, das kleine Handwerk. Die alten Zunfte losen sich auf, an ihre Stelle tritt die Macht der Maschinenbesitzer.

Uberhaupt wird jetzt Besitz viel wichtiger als Kenntnis und Fahigkeit. Denn jeder kann eine Maschine auch ohne langwierige Ausbildung und Talent bedienen. Allerdings wird die teure Maschine nun unabdingbare Voraussetzung fur produktive Arbeit. Und eine solche Investition konnen sich nur vermogende Kaufleute leisten. Die Masse der Menschen wird vom Fortschrittsprofit abgehangt.

Kohle und Eisen, bisher eher marginale Rohstoffe, werden zu Schlusselmaterialien der expandierenden Produktion. Der Eisenbahnbau lost einen Boom der Schwerindustrie aus, die es ein paar Jahre zuvor noch gar nicht gab. Das Lohndumping und damit das Elend der Arbeiter sind dabei systemimmanent: Denn der brutalste Lohndrucker hat den gro?ten wirtschaftlichen Erfolg, weil er es doch ist, der seine Produkte am Markt am billigsten anbieten kann. Fur die Arbeiterschaft burgert sich schon Anfang des Jahrhunderts der Begriff Proletariat ein, von lateinisch proles, d. h. »Nachkommen«. Das Wort beschreibt nuchtern und sachlich, was der einzige Besitzstand dieser Menschen ist: ihre Kinder. Sonst nichts. Ein neuer, ein »Vierter Stand« ist geboren.

Wirtschaftliche Mechanismen funktionieren mit der Zwangslaufigkeit einer Rechenmaschine. Der sogenannte Manchester-Kapitalismus ist ein ebenso klassisches wie abschreckendes Beispiel fur die »Freie Marktwirtschaft«: Weil in den Drei?igerjahren des 19. Jahrhunderts die Baumwollindustrie in Manchester die auslandische Konkurrenz zu spuren bekommt, senken die Fabrikbesitzer die ohnehin geringen Lohne. Trotz 15 Stunden taglicher Arbeit konnen Vater ihre Familien von diesem Lohn nicht mehr ausreichend ernahren, Kinder und Frauen mussen mitarbeiten. Das erste staatliche Arbeitsgesetz von 1833 gilt vielen Fabrikbesitzern schon deshalb als allzu arbeiterfreundlich, weil es die Arbeitszeit fur Neunjahrige auf neun Stunden taglich begrenzt und die Altersgrenze fur schwerste Bergwerksarbeit auf zehn Jahre heraufsetzt. Forderungen werden laut, der Staat solle sich grundsatzlich nicht in wirtschaftliche Vorgange einmischen. Vor allem solle er die Schutzzolle fur Lebensmittel aufheben, um so eine billigere Ernahrung der Proletarier zu ermoglichen. 1846 erfolgt tatsachlich die Aufhebung aller Getreidezolle. Doch die Ersparnis kommt bei den Arbeitern nicht an. Stattdessen werden die Produkte verbilligt. Ein neuer Preiskampf ist die unmittelbare Folge, an dessen Ende die Lohne der Arbeiter erneut gedruckt werden. Bald wird klar: Den Proletariern fehlt jede Moglichkeit, auf ihr Schicksal gestaltend einzuwirken. Und indem Hunger und pure Not die Menschen zwingen, gegeneinander um Arbeitsplatze zu konkurrieren, setzt sich die vernichtende Spirale der immer tieferen Lohne in Gang. Das freie Spiel der Wirtschaftskrafte, der totale Wirtschaftsliberalismus lasst die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch auseinanderklaffen.

Viele Menschen der Zeit erkannten fruh, dass die soziale Frage das bedeutendste Problem des 19. Jahrhunderts werden sollte. Gleichwohl herrschte keine klare Vorstellung daruber, wie der gesellschaftliche Umbruch in den Griff zu bekommen ware. In England waren es nur wenige Vordenker wie der Fabrikbesitzer Robert Owen (1771-1858), die, wie auf dem Kontinent etwa der Firmengrunder Alfred Krupp (1812-1887) mit seiner Idee einer Arbeiter-Krankenversicherung oder Ernst Abbe mit der Verpflichtung einer Arbeiterbeteiligung am Reingewinn der Zeiss-Werke, Losungen ersannen, die der Verelendung des Proletariats entgegenwirkten.

Die Kirchen beider Konfessionen, weitgehend noch von Missionsund Bekehrungsideologie erfullt und viel zu nah an Gro?burgertum und Adel orientiert, verschlafen weitgehend die soziale Frage, was im weiteren Verlauf der Geschichte dazu fuhrt, dass die Arbeiterschaft zur Kirche auf Distanz geht. Im ruckwartsgewandten Ersten Vatikanischen Konzil (1868 -1870) geht es Papst Pius IX., der mit Leidenschaft die Marienverehrung vorantreibt, vor allem um die Zementierung seiner eigenen papstlichen Unfehlbarkeit und die »Abwehr der modernen Irrtumer des Rationalismus«. Gleichwohl gibt es auf regionaler Ebene, bei Katholiken wie Protestanten, zahlreiche Einzelversuche, das Schicksal der Arbeiterschaft zu lindern. Der Bischof von Mainz, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), spricht der Arbeiterschaft sogar das Recht zu, fur gerechte Lohne zu kampfen. Den gro?en Wurf in der sozialen Frage aber uberlassen die Kirchen den Intellektuellen und Agnostikern.

Zum Beispiel dem Schriftsteller Ferdinand Lassalle (1825 -1864). Dessen au?ergewohnlich kampferischer Eifer wird nicht nur durch die Tatsache belegt, dass er bereits als Zwolfjahriger einen Nebenbuhler zum Duell forderte und mit 39 Jahren schlie?lich infolge eines solchen Ehrenhandels auch zu Tode kam; sondern selbst der Kommunist Friedrich Engels, der Lassalle wegen seiner positiven Einstellung zum preu?ischen Staat eher kritisch gegenuberstand, sah in ihm »den einzigen Kerl in Deutschland, vor dem die Fabrikanten und Fortschrittsschweinehunde Angst haben«.

Lassalle ist ein Genie der freien Rede. Er versteht es, die Massen mit Worten zu faszinieren und zu mobilisieren. Mehrfach wandert er dafur ins Gefangnis. Er glaubt nicht an das freie Spiel der Wirtschaftskrafte und sieht nur eine Moglichkeit, »aus der Wuste herauszukommen«: Die Arbeiter mussten sich organisieren. Sie mussten eine eigene Partei bilden, die ihre Interessen politisch zur Geltung bringt. Voraussetzung dafur ist ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht, das nicht wie bisher nach Steuerklassen die jeweiligen Stimmen gewichtet. Dafur kampft Lassalle. Denn seit 1849 gilt in Preu?en das Drei-Klassen-Wahlrecht, das dem Geldadel, der gerade mal vier Prozent der Bevolkerung ausmacht, ein Drittel der Stimmgewalt bei der Besetzung des preu?ischen Abgeordnetenhauses zugesteht.

Lassalle geht den »parlamentarischen Weg«, nicht den einer »APO«, einer »au?erparlamentarischen Opposition«, oder gar den einer blutigen Revolution, wie sie die radikaleren Sozialreformer, zu denen etwa auch der Komponist Richard Wagner (1813 -1883) zeitweise gehort, herbeisehnen. Das tragt ihm zwar die Gegnerschaft der Kommunisten ein, aber er erreicht in mehreren Gesprachen mit Bismarck Zugestandnisse. Das Verbot, sich als Arbeiter gewerkschaftlich zu organisieren, wird in Preu?en freilich erst 1869 aufgehoben. Und das preu?ische Drei- Klassen-Wahlrecht wird erst 1919 fallen.

1863, ein knappes Jahr bevor Lassalle wegen eines abgewiesenen Heiratswunsches im Duell stirbt, grundet er den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein«. Es ist die erste politische Arbeiterpartei, die spater als SPD firmieren wird und heute die alteste im Bundestag vertretene Partei Deutschlands ist. Der fruhe Tod aus Liebesleidenschaft verhinderte die Entfaltung seiner anderen gro?en Passion: des Kampfes fur die soziale Gerechtigkeit. Aber die »Inventur meines Lebens«, die der 39-Jahrige wenige Tage vor dem todlichen Duell vornahm, fiel dennoch recht trostlich aus: »Mein Leben war gro?, brav, wacker, tapfer und glanzend genug!« Ein anderer Zeitgenosse hat noch weit mehr die Weltgeschichte beeinflusst. Und bis heute ist nicht entschieden, ob sein Vermachtnis eher ein Fluch oder ein Segen fur die Menschheit ist: Karl Marx (1818 -1883), der mit seinem schwer lesbaren, dreibandigen Buch »Das Kapital« zur Ikone aller Weltverbesserer wurde. Vergeblich versuchte ubrigens Marx sein gro?es Werk dem Evolutionsforscher Charles Darwin zu widmen, der diese Ehre dankend ablehnte.

Marx selbst hat sich die epochale Wirkung, die von seiner Lehre ausging, durchaus theoretisch ausgemalt, denn er war ein Anhanger jenes Philosophen, der das 19. Jahrhundert beherrschte und damals schwer in Mode war: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 -1831). Hegel wiederum vertrat die Vorstellung, die Geschichte schreite »dialektisch« voran, d. h. die Weltgeschichte sei ein Kampf von Gegensatzen, der sich stufenweise vollziehe, mit dem Endzweck der Versohnung von Natur und Geist. Die »Herstellung universaler Freiheit«, das Ende der Geschichte stehe bevor.

Karl Marx hat diese Vorstellung gleichsam materialisiert. In seiner Gesellschaftstheorie wird die Weltgeschichte als Abfolge von Klassenkampfen gedeutet. Und der letzte Kampf sei unmittelbar zu erwarten: zwischen der herrschenden Klasse der Bourgeoisie (des Burgertums) und dem Proletariat. Erst der Triumph der Arbeiterklasse werde in einer »klassenlosen Gesellschaft« den »ewigen Frieden« bringen. Und es konne keinen Zweifel geben: Nach dem dialektischen Gesetz der Geschichte werde das Proletariat das Burgertum besiegen. Der Kommunismus sei »das aufgeloste Ratsel der Geschichte«.

Marx stellt die Ideenwelt Hegels, wie Engels sagte, »vom Kopf auf die Fu?e«. In seiner Philosophie ist es nicht unser Bewusstsein, das unsere Existenz gestaltet, wie bei Hegel, sondern es sind andersherum die materiellen Verhaltnisse, die unser Bewusstsein pragen. Bei Marx tritt das Materielle in den bestimmenden Vordergrund der Existenz, den Himmel mitsamt der Religion will er getrost den Engeln uberlassen. »Historischer und dialektischer

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