weitere Geschaftsbeziehung und heimste bei der Gelegenheit auch noch Hongkong ein. Das Geschaftsmodell machte halb China suchtig, aber die Dealer aus London wurden keineswegs von Skrupeln gequalt.

Jeder Widerstand der »unzivilisierten Rassen« wurde rucksichtslos gebrochen. Als um 1900 ein Aufstand der traditionellen chinesischen Faustkampfer losbricht, der als »Boxeraufstand« in die Geschichte eingegangen ist, sendet Kaiser Wilhelm II. eine internationale Strafexpedition nach China, der er martialische Worte mit auf den Weg gibt: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht! ... Und so moge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise betatigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.«

Geht man heute am Westwall durch die musealen Reste, die an die erste gro?e industriell gefuhrte Volkerschlacht, den Ersten Weltkrieg, erinnern, dann ist man versucht, in sich selbst nachzuforschen, inwieweit nationales Pathos den eigenen Kopf verdrehen konnte. Aber kann man uberhaupt, wenn man vom Ausgang des Ersten und Zweiten Weltkriegs wei?, der Spur dieses nationalen Taumels noch fuhlend nachgehen und wirklich gerecht urteilen? »Jeder Schuss ein Russ, jeder Tritt ein Brit, jeder Sto? ein Franzos, jeder Klaps ein Japs«, so hatten sie es in geradezu kindlicher Unbe-darftheit gleich zu Kriegsbeginn auf Postkarten und Truppentransporter gekritzelt. Sie wussten nichts und hatten alles noch vor sich. Der Krieg bot ihnen in Zeiten gesellschaftlicher Desorientierung vermutlich eine wohltuende Option auf Klarheit und Durchblick. Wie schon war es doch, genau zu wissen, wo der Feind steht. Wie warmend ist Gewissheit. Wie unertraglich Ziellosigkeit. Die gro?e Erleichterung daruber, endlich ein gemeinsames gesellschaftliches Band knupfen zu konnen, ist auch den Worten Kaiser Wilhelms vor dem Reichstag klar abzulauschen: »Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche!«

Ist es da Zufall, dass ausgerechnet in dieser Epoche die Darmstadter Firma Merck eine Droge auf den Markt bringt, die jedes Gefuhl intensiv verstarkt und den Allmachtstaumel der Menschen rauschhaft befeuert: Kokain. Selbst ein so nuchterner Wissenschaftler wie Sigmund Freud schickt seiner Verlobten eine ganze Menge dieser »Trips«, um ihre Stimmung aufzuheitern, wie er sagt.

Es ist eine Zeit, in der man nach technischen Katapulten sucht, die in eine neue Welt schleudern sollen.

Ob unsere Kopfe und Herzen heute anders denken und fuhlen? Das Bedurfnis nach Gemeinschaft und nationaler Zugehorigkeit scheint zur Grundausstattung aller Menschen zu gehoren. Sich als Gruppe zu definieren hei?t zumeist Gegensatze gegenuber anderen zu konstruieren. Es ist fur Menschen schwer, ohne Krieg zu leben.

Es war ja damals keineswegs so, dass es nur verblendete Politiker waren, die nach den Schussen von Sarajewo, welche den osterreichischen Thronfolger toteten und damit an einem schonen Sommertag Ende Juli 1914 die Kettenreaktion des Untergangs auslosten, die allgemeine Kriegsbegeisterung entfachten. Der Erste Weltkrieg begann in fast allen europaischen Landern als Volksbewegung. Als Volksfest. Man muss sich ins Gedachtnis rufen, dass selbst ein so feinsinniger Lyriker wie Rainer Maria Rilke am Tag der Mobilmachung uber den Munchner Odeonsplatz rannte, laut rufend: »Endlich wieder ein neuer Gott!« Damit meinte er den Krieg, den neuen Krieg, den industriellen Krieg, den selbst die Sozialdemokraten begru?ten, ohne ihn zu kennen. Grobe Fahrlassigkeit oder kollektiver Wahn?

Nationales Gefuhl in Uberdosis wird zur gefahrlichen Droge. Das ist die Erkenntnis, die von dieser Epoche ausgeht. Und es ist wohl nicht falsch, wenn man behauptet, dass damals jeder Politiker, der sich dem nationalen Sturm entgegengestemmt hatte, von der entfesselten Begeisterung des Volkes hinweggefegt worden ware, ob in Deutschland, England oder in Frankreich. Die industrielle Gewalt dieses Krieges hat dann aber gleichwohl alle uberrascht und geschockt. In den Materialschlachten bei Verdun wurde mehrmals an nur einem einzigen Tag so viel Munition verschossen, wie man im gesamten Deutsch-Franzosischen Krieg von 1870/71 verbrauchte.

Am Ende liegen 17 Millionen Tote auf den Schlachtfeldern. Und Deutschland, dem nach Siegermanier die Alleinschuld an diesem europaischen Fiasko zugeschrieben wird, wird mit den Versailler Vertragen eine Reparationslast aufgeburdet, die alle Moglichkeiten des verwundeten Landes ubersteigt. Zu Recht haben die Historiker in Hinblick auf den Ersten Weltkrieg von der »Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts« gesprochen. Denn alles, was folgte, ist Konsequenz dieser Volkerschlacht, die das Ergebnis eines fahrlassigen nationalen Sabelrasselns war: die Oktoberrevolution in Russland, der sowjetische Kommunismus, die Inflation, die Weltwirtschaftskrise, der Aufstieg des Nationalsozialismus, der Faschismus, die strategische Blockbildung von Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg.

  

36. Der gro?e Knall und die Kraniche

Diese herzzerrei?ende Geschichte kennt in Japan jedes Kind: Als die zehnjahrige Sadako Sasaki im Jahre 1955 an Leukamie starb, hatte sie uber 1600 Papier-Kraniche nach der japanischen Origami-Tradition gefaltet. Ihre beste Freundin hatte ihr zuvor davon erzahlt, dass die Gotter demjenigen seinen sehnlichsten Wunsch erfullen wurden, der es schaffe, mindestens tausend Kraniche zu basteln. Aber Sadakos Wunsch, einfach weiterleben zu durfen, wurde ihr dennoch nicht erfullt. Sie starb 1955 an den schrecklichen Spatfolgen eines Knopfdrucks, der nicht nur ihr Leben und das hunderttausend anderer vernichtete, sondern die Welt im Ganzen vollig veranderte.

Es war der Knopfdruck des amerikanischen Piloten Oberst Paul Tibbets, der am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 an einem schwulhei?en Sommertag in 9450 Metern Hohe uber den Dachern Hiroshimas eine drei Meter lange Atombombe ausklinkte. Nach 45-sekundigem freiem Fall explodierte der 4000 Kilogramm schwere Stahlzylinder in 580 Metern Hohe. Ein Feuerball von uber einer Million Grad Celsius lie? die Menschen und die traditionellen Holzhauser im Umkreis eines Kilometers gleichsam verdampfen. Die nachfolgende Druckwelle machte innerhalb von einer Minute achtzig Prozent der Stadtflache Hiroshimas dem Erdboden gleich. Noch in zehn Kilometern Entfernung vom Detonationszentrum setzten Temperaturen von 6000 Grad Celsius ganze Walder in Brand. 92 000 Menschen starben sofort. Am Jahresende zahlte man 130 000 Tote, zumeist Zivilisten, darunter zehn Prozent koreanische und chinesische Zwangsarbeiter. Aberzehntausende wurden wie Sadako Sasaki noch Jahrzehnte spater Opfer des radioaktiven Fallouts, der sich zwanzig Minuten nach der Explosion als staubiges Leichentuch uber Stadt und Umland legte.

Die psychologische Wirkung dieses Bombenabwurfs von nie zuvor gesehener Wirkung zusammen mit dem zweiten, ahnlichen Schreckensereignis drei Tage spater in Nagasaki veranlasste den japanischen Kaiser zur bedingungslosen Kapitulation im Kampf mit den Alliierten. Am 2. September war der verlustreichste Krieg aller Zeiten, der Zweite Weltkrieg, damit endgultig beendet.

Durchstreifen Sie heute die zentrale Insel im Fluss Ota, die in der wiederaufgebauten Stadt Hiroshima als Peace Memorial Park ausgestaltet wurde, dann begegnet Ihnen gleich neben dem Kinderfrieden-Denkmal der Sadako Sasaki, an dem Abertausende von Papier-Kranichen von Kindergruppen aus aller Welt lagern, die sogenannte Atombombenkuppel, jenes ausgebrannte Stahlgerippe, das einstmals die stolze Handelskammer von Vorkriegs-Japan darstellte. In einiger Entfernung davon brennt noch eine Flamme, die man freilich lieber heute als morgen gerne ausloschen wurde. Denn dieses Feuer soll so lange weiterbrennen, wie es noch Atombomben auf der Welt gibt. Die solide Umfassung des Mahnmals macht aber deutlich, dass man sich angesichts der politischen Realitaten auf eine lange Brenndauer eingestellt hat.

Es ist ein schauerlicher Kontrast, der sich auftut zwischen den erschutternden Ausstellungsbildern im »Friedenspark«, die entstellte und verwustete Menschenleiber zeigen, und den beruhmten Fotografien vom Atompilz, der wie ein gewaltiges kosmisches Naturereignis anmutet und geradezu asthetische Gefuhle wachrufen kann.

Ist dieser Kontrast nicht wie ein Symbol fur die besondere Gefahrlichkeit dieser allerneuesten Errungenschaft der Menschheit? Fur ihre Zwiespaltigkeit und Doppelbodigkeit? Die Kraft der Sonne zu beherrschen - gereicht das der Menschheit nun zum Fluch oder zum Segen? Uber die Antwort wird seit jenem Augusttag des Jahres 1945 heftig gestritten. Wohl keine andere Erfindung der Geschichte hat so unterschiedliche Reaktionen und Meinungen hervorgerufen wie die im 20. Jahrhundert erworbene Fahigkeit von uns Menschen, Atome zu spalten.

Fur die einen lag und liegt heute in der Atomkraft der Schlussel zum Fortschritt und zur Losung all unserer Energieprobleme, selbst wenn die Atomeuphorie der Sechziger- und Siebzigerjahre einen schweren Knacks bekam, als die Welt 1986 den Ortsnamen Tschernobyl buchstabieren lernen musste. Fur die anderen scheint mit der

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