Kernkraft die Buchse der Pandora weit geoffnet, deren todbringender Inhalt das baldige Ende der Menschheit heraufbeschwort, und die Katastrophe von Fukushima im Marz 2011 scheint ihnen recht zu geben. Selbst was die rein kriegerische Nutzung der Atomkraft angeht, so sind die Ansichten durchaus geteilt. Nicht wenige behaupten, dass die Menschheit in den letzten sechzig Jahren nur deswegen einem Dritten Weltkrieg entging, weil die Atommachte, die sich lange Zeit als waffenstarrende Machtblocke namens NATO und Warschauer Pakt lebensbedrohlich gegenuberstanden, mit ihren Tausenden von Atombomben ein »Gleichgewicht des Schreckens« errichtet hatten. Und selbst fur die beiden Bombenabwurfe auf Hiroshima und Nagasaki, fur die es allen Grund gabe, sie nachtraglich als Massenmord an Zivilisten zu brandmarken und die Verantwortlichen vor ein Weltkriegsgericht zu bringen, fanden und finden sich Verteidiger.

Die Sache ist eben alles andere als eindeutig. Niemals haben sich die USA bei den zivilen Opfern des Angriffs auch nur entschuldigt. US-Politiker und Abschreckungstheoretiker gehen bis heute offiziell davon aus, dass die zwei Atombomben Menschenleben »gerettet« haben, indem sie es waren, die das schnelle Kriegsende mit dem kampfbesessenen Japan herbeifuhrten. Bereits nach dem Erfolg des Trinity-Tests, des ersten Atombombenversuchs in der Wuste Nevadas, hatte der englische Premier Winston Churchill angesichts des Albtraums bevorstehender, extrem verlustreicher Landschlachten gegen die zu allem entschlossenen Japaner erleichtert notiert: »Jetzt ist mit einem Mal dieser Alb vorbei, und an seine Stelle tritt die helle und trostliche Aussicht, ein oder zwei zerschmetternde Schlage konnten den Krieg beenden.«

Statt der erwarteten sieben bis acht Millionen Opfer, mit denen man nach den ersten schweren Inselkampfen und den traumatisier-enden Erfahrungen mit den selbstmorderischen Kamikaze-Fliegern rechnete, hatte dieser Krieg schlie?lich »nur« eine halbe Million Opfer gekostet. So glaubten und glauben heute viele, nicht nur in den USA, von einem »Verdienst« der furchtbarsten Waffe aller Zeiten sprechen zu durfen.

Am 17. Juni 1967 versammeln sich begeisterte Chinesen vor einem gewaltigen Atompilz und recken euphorisch ihre Hande mit Mao-Bibeln in den Himmel. Sie bejubeln die erste gegluckte chinesische Wasserstoffbomben-Explosion. Gleiches geschah Jahrzehnte spater auch in Indien und Pakistan. Die Wasserstoffbombe galt und gilt vielen als Fortschritts-Symbol fur nationale Kraft und Starke. Aktuell bastelt das Terrorregime des Iran an einer praktischen Umsetzung dieses perversen Fortschrittsdenkens.

Das revolutionare Rot-China, das Anfang der Sechzigerjahre mit gut 800 Millionen Einwohnern das bevolkerungsreichste Land der Erde war, rechnete bereits damals bei der Zahl von Kriegsopfern nicht mehr in Hunderten wie bei Schlachten in antiken Zeiten; auch nicht mehr in Tausenden wie im Mittelalter oder in Zehntausenden wie in der fruhen Neuzeit. Nein, jetzt waren es Millionen und gar Milliarden von Menschen, die zu kriegspolitischer Manovriermasse erklart wurden. Wie hatte der »gro?e Vorsitzende« Mao Tse-tung seinen Volksgenossen seinerzeit geradezu trostlich vorgerechnet: »Kann man denn voraussehen, wie viele Menschenopfer ein kunftiger Krieg fordern wurde? Moglicherweise wird es ein Drittel von 2,7 Milliarden Erdbewohnern sein, also nur 900 Millionen Menschen. Falls die Halfte der Menschheit vernichtet wird, bliebe ja noch eine Halfte ubrig, dafur aber wurde der Imperialismus vollstandig vernichtet.«

Absurd erscheinen solche Bilanzierungen von ideologisch vernagelten Diktatoren im 20. Jahrhundert, dem aufgeklartesten und zugleich blutigsten und auch lebensgefahrlichsten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte. Ahnliche Visionen wie Mao hat auch Stalin verfolgt. Sogar ein kleiner Insel-Revolutionar wie Fidel Castro hatte noch in den Sechzigerjahren Weltrevolutionsfantasien, fur die er bereit war, Atomwaffen wirklich einzusetzen, wenn ihm die Sowjets nur den Finger am Abzug dieser Massenmordwaffen gelassen hatten. Die Geschichtsschreiber der Zukunft werden in ihrer Ruckschau als besonderes Kennzeichen des 20. Jahrhunderts herausheben, dass es jenes Jahrhundert war, in dem einzelne Machthaber zum ersten Mal unter Einsatz all ihrer technischen Moglichkeiten bereit waren, fur ihre politischen Utopien mindestens die halbe Menschheit zu opfern. Ideologien reifen in dieser Epoche der technischen Rationalitat besser heran als schlichte menschliche Gefuhle. Das ist vielleicht die dunkelste Frucht der Aufklarung, die dazu neigt, sich selbst zu uberschatzen. Der Philosoph Jurgen Habermas hat einmal zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, dass die Aufklarung allmahlich uber sich selbst aufgeklart werde.

Der furchtbarste und radikalste unter den ehrgeizigen Menschheitsschlachtern des 20. Jahrhunderts aber war der Sohn eines gewissen Alois Schicklgruber aus dem niederosterreichischen Dollersheim, der sich in »Hitler« umbenannt hatte und in dritter Ehe mit seiner 23 Jahre jungeren Cousine Klara Polzl sein funftes Kind zeugte: Adolf Hitler, ein selbst ernannter »Kunstmaler«, der schon fruh mit der Polizei Schwierigkeiten bekommt, weil er sich hochstapelnd als »akademischen Maler« ausgibt, aber in Wirklichkeit niemals auch nur irgendeinen Beruf erlernt hat, niemals einer regelma?igen Arbeit nachgegangen ist und sich seiner osterreichischen Wehrpflicht durch Flucht nach Munchen entzogen hat; der als 25-Jahriger im Februar 1914 zur Musterung in Salzburg zwangs-vorgefuhrt wird und als »schwachlich« und »waffenunfahig« gilt, seine osterreichische Staatsburgerschaft aufgibt und mehrere Jahre durch Mannerwohnheime und billige Absteigen vagabundiert; ein Staatenloser ohne jeden Schulabschluss, der sich zuerst mit seiner Waisenrente und spater dann mit Zeichnungen popularer Gebaude finanziell uber Wasser halt, die er, menschenscheu und eigenbrotlerisch, wie er ist, von seinem judischen Spezi Siegfried Loffner verkaufen lasst; der aber nach etlichen Jahren der Erfolglosigkeit mit seinen hervorstechendsten Eigenschaften, seiner Egozentrik, seinem Rednertalent und seinem erwachenden wahnhaften Machtwillen zur einflussreichsten und folgenschwersten Personlichkeit des 20. Jahrhunderts aufsteigt: zum Reichskanzler, »Fuhrer des Deutschen Volkes« und Begrunder des »Dritten Reiches«.

Seine deutsche Staatsburgerschaft erreicht der vorbestrafte Staatenlose ubrigens erst 1932 in einem dubiosen Hauruck-Verfahren: Der Innenminister des Freistaates Braunschweig Dietrich Klagges, neben Wilhelm Frick in Thuringen damals der einzige NSDAP-Landesinnenminister in Deutschland, ernennt den vollig unqualifizierten »Schriftsteller« kurzerhand zum Regierungsrat der Braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin, mit dem diffusen Auftrag, die Braunschweiger Wirtschaftskontakte zu verbessern; einer Aufgabe, der Hitler naturlich keinen einzigen Tag nachkommt und die er auch schon einige Monate spater wieder offiziell aufgibt, die ihn aber als Beamten zum deutschen Staatsburger macht.

Die Biografie Adolf Hitlers zerfallt in zwei Teile, die so gegensatzlich verlaufen sind, wie es sich in der Ruckschau kaum begreifen lasst. Er ist der Mann, von dem Historiker gesagt haben, dass erst der Erste Weltkrieg und seine Folgen ihn eigentlich gemacht hatten. Oder wie es der gro?e Publizist Sebastian Haffner einmal geschrieben hat: Hitlers Fronterfahrung als Freiwilliger und Gefreiter im Ersten Weltkrieg war sein bestimmendes Bildungserlebnis, allerdings auch sein einziges.

Es ist der Mann, der vor 1919 weder durch besondere politische Ambitionen noch durch antijudische Einstellungen, noch durch eine besondere Lust an Gewalt aufgefallen ware - uber fast die gesamte Zeit des Ersten Weltkriegs ist er Meldeganger, also ein Soldat, der sich durch feindliche Linien schleichen muss und dabei weniger schie?t, als dass vielmehr auf ihn geschossen wird. Eher passiv, einzelgangerisch und abgesondert als aktiv und anfuhrend. Es ist nicht uberliefert, dass Hitler sich jemals geprugelt hatte oder im personlichen Gegenuber einen Menschen geschlagen oder gar getotet hat. Es ist aber derselbe Mann, der nach 1920 einen Machthunger und rabiaten Politwillen entwickelt, fur dessen Starke es in der Geschichte wohl kaum eine Parallele gibt; der ohne jeden Skrupel die industrielle, massenhafte Ermordung der europaischen Juden initiiert, ebenso die Vernichtung Hunderttausender Oppositioneller, Homosexueller, Sinti und Roma, geistig und korperlich Behinderter in sogenannten Konzentrationslagern. Der Mann, der den Zweiten Weltkrieg mit seinen uber sechzig Millionen Opfern auslost und am 16. Juli 1941 seinen Generalen den ultimativen Befehl gibt, »alles auszurotten, was sich gegen uns stellt« und »jeden, der nur schief schaue, tot(zu)schie?en«. Der an seinen Sieg nachweislich bereits 1943 selbst nicht mehr glaubte, aber dann noch zwei Jahre lang den Untergang der Welt inszenierte, inklusive der volligen Zerstorung wunderbarer Stadte und bedeutender Kulturguter. Derselbe Mann, der romantische Opern liebte, angeblich aus Respekt vor Tieren fleischlose Kost bevorzugte, nicht rauchte, nicht trank, sexuelle Ausschweifungen verabscheute und von dem seine Privatsekretarin Traudl Junge spater zu Protokoll gegeben hat, dass in seiner Umgebung niemals Schnittblumen stehen durften, weil er »nichts Totes um sich haben wollte«.

Absurd und furchtbar war dieses Leben. Aber noch absurder und noch furchtbarer ist ein anderes Phanomen, uber das nachzugrubeln wir wohl niemals fertig werden: Wie konnte es sein, dass Millionen von Menschen den Visionen und Befehlen dieses Mannes folgten?

  

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