37. Wer oder was sind wir?

Das Beste kommt zum Schluss, hei?t es. Das wird auch bei uns so sein, im letzten Kapitel. Aber wir sind noch nicht fertig mit dem Absurden. Und schon gar nicht mit dem Furchtbaren. Dafur versprechen wir Ihnen anschlie?end - ganz individuell, ganz exklusiv -einen Raumflug ins All, um aus gro?er Entfernung auf die Erde zuruckzublicken. Es gilt Distanz zu gewinnen, die Voraussetzung aller Erkenntnis.

Es war Georg Wilhelm Friedrich Hegel - Sie sind ihm bereits mehrfach begegnet -, der in der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1821) die Mythologie und die Ornithologie zu Hilfe nahm, um in einem gro?artigen Bild zu verankern, dass Einsicht und Erkenntnis erst mit einem gewissen Abstand zu den Ereignissen moglich ist. »Die Eule der Minerva«, der Vogel der Einsicht und der Weisheit, so Hegel, beginne »erst mit der einbrechenden Dammerung ihren Flug«, wenn die gro?te Sehscharfe zu erzielen sei. Das vergangene Jahrhundert, auf das noch einmal zuruckzukommen ist, war so reich an Weltuntergangsszenarien, so gesattigt mit Dusterkeit und »Menschheitsdammerung«, dass vielleicht auch hier Hoffnung auf Klarsicht gegeben ist, wenn wir entsprechende Distanz gewinnen.

Rufen wir uns deshalb die Bilder des 20. Jahrhunderts mit ihren himmelschreienden Absurditaten noch einmal ins Gedachtnis. Darunter auffallend viele deutsche Bilder.

Und wenn es ein besonders uberraschendes Verdienst der neu erfundenen psychoanalytischen Forschung des Wiener Doktors Sigmund Freud gibt, dann doch dieses: dass Freud schon vor der gro?en Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erkannt hat, wie gefahrlich dunn der Boden der menschlichen Kultur ist, auf dem wir scheinbar so selbstsicher wandeln. Und dass unter dieser zivilisatorischen Eierschale die Bilder des Grauens und der triebhaften Niedrigkeit lauern, vor denen zu warnen und zu schutzen man nicht mude werden darf.

Betreten wir also die Wohnung des von den Nazis aus Wien vertriebenen Sigmund Freud im Londoner Stadtteil Hampstead, Maresfield Gardens 20, heute ein Museum. Alles sieht noch genauso aus, als ware der 1939 verstorbene Psychoanalytiker nur gerade mal eben au?er Haus gegangen. Nutzen wir die Gelegenheit. Legen wir uns schnell mal auf seine beruhmte Couch. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, um sich die Bilder wachzurufen, mit denen wir den Absurditaten und Widerspruchlichkeiten des gerade vergangenen Jahrhunderts nachspuren. Bilder, mit denen wir an die Hasslichkeit menschlicher Existenz ruhren. Und immer wieder nach dem »Warum« oder dem tieferen Sinn unserer jungsten Geschichte fragen mussen.

Ein pfauenartig herausgeputzter Kaiser und Senfgaswolken uber den elenden Schutzengraben von Verdun zum Beispiel. Oder: Die Druckmaschine wahrend der Inflation von 1923, die kaum noch die vielen Nullen auf den Geldscheinen unterbringen kann. Die vermeintlich »Goldenen Zwanziger«, ein Jahrzehnt, in dem Hungerelend, politisches Chaos, Weltwirtschaftskrise, Demokratieverwirrung und Josephine Bakers Bananentanz zu einer merkwurdig beklemmenden Melange zusammenflie?en. Der Expressionismus hat in kantiger Frechheit und provokativer Aufgekratztheit die schroffen Widerspruche dieser Epoche kunstlerisch verschmolzen.

Und dann die Dokumentarbilder des sogenannten Dritten Reiches: Parteitags-Tableaus der Vermassung. Tausende von Menschen, degradiert zur geometrischen Figur: Der Einzelne ist nichts, die Volksgemeinschaft alles. Die »Herrenrasse« und der Judenstern - welch haarstraubender Zynismus steckt darin, wenn ausgerechnet eines der schonsten Symbole der Menschheit, der Stern, dazu dient, Menschen als unwert auszusondern? Die Industrialisierung des Mordens in den Konzentrationslagern, die schon am Eingang ihre Opfer mit dem Spruch verhohnten: »Arbeit macht frei«, markiert den absoluten moralischen Tiefpunkt des 20. Jahrhunderts, der in der Weltgeschichte keine Parallele kennt.

Aber noch viele andere irritierende Fotografien gehen uns durch den Kopf, wenn wir gedanklich durch die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts wandern: Hingemeuchelte Schwarzafrikaner, die wie Jagdtrophaen neben belgischen Soldaten aufgereiht liegen. Inder in pomposen englischen Uniformen und gleich daneben ein entsagungsvoller Prediger des Friedens, den ein religioser Fanatiker ermorden wird: Mahatma Gandhi. Dokumentarbilder stalinistischer Schauprozesse in den Drei?igerjahren, in denen sich verdiente Kommunisten auf Befehl Stalins selbst als Staatsverbrecher bezichtigen mussen und fur sich die Todesstrafe fordern. Der Horror des Archipels Gulag, der russischen Arbeitslager, wie ihn Alexander Solschenizyn oder zuletzt Herta Muller plastisch beschrieben haben. Fleischerhaken im Nazi-Gefangnis Berlin-Plotzensee, an die die Widerstandler gegen Hitler gehangt wurden. Mittelalterlich verhullte Ku-Klux-Klan-Fanatiker in den Sudstaaten der USA, die Menschen ermorden, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Eine Mauer mit Schie?befehl, die mitten durch Deutschland geht und angeblich dem Frieden dient. Atomraketen auf Kuba, die um ein Haar den atomaren Holocaust ausgelost hatten. Sowjetische Panzer, die Prager Fruhlingstraume uberrollen. Ein schreiendes nacktes Kind aus Vietnam, das vor Napalm-Feuer flieht. Fanatische Steinzeit-Kommunisten, die Roten Khmer in Kambodscha, die jeden Brillentrager als Intellektuellen identifizieren und ihn deswegen sogleich auf offener Stra?e mit Kopfschuss toten. Maoistische Funktionare, die begeistert die gro?en Traditionszeugnisse chinesischer Kultur zerschlagen und diese Revolution den »gro?en Sprung nach vorne« nennen. Sud- und mittelamerikanische Militarjuntas, die unliebsame Kritiker massenhaft in Folterkellern verschwinden lassen. Die einstige »Perle des Orients«, Beirut, in Trummern. Blutige Konflikte zwischen Israelis und Palastinensern. Oder zwischen afrikanischen Hutus und Tutsis, die im vermeintlichen Musterland Ruanda plotzlich beginnen, sich gegenseitig mit Macheten die Kopfe abzuschlagen. Schwarze Sudafrikaner, denen man brennende Autoreifen um den Hals gehangt hat. Taliban, die in Fu?ballstadien offentlich »ungehorsame« Frauen hinrichten und Kunstschatze von welthistorischer Bedeutung in die Luft jagen. Hungernde Kinder in der sogenannten »Dritten Welt«. Notschreiende Gesichter, herausgegriffen aus der unvorstellbaren Masse jener zwei Milliarden Menschen, die auf unserer Welt noch nicht einmal Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, obwohl doch weltweit taglich Lebensmittel fur 14 Milliarden Menschen produziert werden. Riesige Bagger, die Gemuseberge der europaischen Agrar-Uberproduktion zermalmen. Die Flugzeugtrummerteile von Lockerbie. Im ehemaligen Jugoslawien »ethnische Sauberungen« - ein Wort, das allein deswegen die Menschheit beschamen musste, weil es nach den Graueln des Zweiten Weltkriegs uberhaupt noch existiert und tatsachlich in den Mund genommen wird. Brennende, einsturzende Twin Towers in New York. Das geplunderte Museum von Bagdad. Humoristische Mohammed-Zeichnungen, die mit Mordaufrufen und blutigen Anschlagen quittiert werden. Radikale Islamisten, die als Selbstmordattentater nicht nur in Bagdad oder Alexandria christliche Kirchen in die Luft jagen.

Diese Bilder sind nicht nur geschichtliche Zeugnisse, sondern sie ragen direkt in unsere Gegenwart hinein. Sie sind nicht blo? Geschichte. Sie sind Aufgabe und Auftrag. Wegweiser fur unsere Zukunft. Hinweis auf das, was zu tun ist.

Viel Unversohnlichkeit, viel Hass, viel Fanatismus und bodenlose Brutalitat haben das 20. Jahrhundert gepragt. Aber auch zahllose Ansatze und Impulse gibt es, die unsere Welt schoner, ertraglicher, freundlicher machen konnten. Das 20. Jahrhundert ist zweischneidig: Gro?e technische, zivilisatorische und humanitare Fortschritte gibt es da; gleich daneben aber die gewaltigen Storfeuer schrecklicher Kriege, die in diesem Jahrhundert die unvorstellbare Zahl von mindestens 185 Millionen Gewaltopfern gekostet haben, wie es der ehemalige US-Prasident Jimmy Carter einmal hat hochrechnen lassen.

Wie enttauschend musste trotz aller Fortschritte das 20. Jahrhundert auf die fruhen Aufklarer wirken, wenn sie heute, nach uber 200 Jahren, zuruck auf die Erde kamen. Auf den Philosophen Immanuel Kant etwa, der noch optimistisch erfullt war von der Vision, dass die Menschheit mit der Entdeckung der Vernunft endlich allen Aberglauben und allen dummen Fanatismus abschutteln konnte. Dass Hexenwahn, Religionskriege und politischer Wahnsinn nach Jahrtausenden menschlicher Verirrung nun ihr Ende fanden und endlich der Verstand die Welt regieren wurde. Wie absurd musste es ihm erscheinen, dass ausgerechnet mit der vernunftgesteuerten Revision einer von schwersten Irrtumern geplagten Geschichte das blutigste Jahrhundert der gesamten Historie anbrechen sollte. Dass die Menschenverachtung vielerorts zum gesellschaftlichen Programm heranreifen wurde. Und dass der religiose Glaubensfanatismus in manchen Teilen der Welt so sehr erstarken wurde wie im tiefsten Mittelalter. Wie konnte es dahin kommen? Wer sind wir, und warum sind wir so, wie wir sind? Das ist die Schlusselfrage, die uns Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts vielleicht am nachhaltigsten beschaftigt und beschaftigen muss.

Man kann auch anders fragen: Wie viel Veranderung ertragt der Mensch? Vermag die Menschheit uberhaupt mit der rasanten Entwicklung der letzten hundert Jahre Schritt zu halten, ohne dass es zu heftigen Verwerfungen kommt? Denn was uns Menschen im letzten Jahrhundert an revolutionaren Erkenntnissen und Veranderungen geradezu uberrollt hat, das spottet im Vergleich zu den vergangenen Epochen jeder Beschreibung.

Gesellschaftswissenschaftler haben einmal grob ausgerechnet, dass die Zahl der menschlichen Erfindungen in den vergangenen hundert Jahren den Gesamtbestand solcher Innovationen in den davor liegenden 40 000 Jahren

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