ubersteigt. Einen auch nur annahernd vergleichbaren Entwicklungsschub innerhalb von zwei, drei Generationen hat es niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte gegeben. Und ganz gewiss mussen wir erst lernen, mit der tagtaglichen Neuerung, mit dem schnellen Ablegen uberkommener Vorstellungen und Gewohnheiten und der Akzeptanz neuer Denkmodelle umzugehen. Wie schnell konnen wir uns verandern und anpassen, ohne dass es zur individuellen und gesellschaftlichen Havarie kommt?

»Bereitschaft zum Paradigmenwechsel« nennen die Wissenschaftler diese neue, von der Moderne geforderte Uberlebensformel, die die alten festen Gewissheiten oft beunruhigend erschuttert und ein neues hohes Ma? an Toleranz und Flexibilitat verlangt - auch in Hinblick auf die neue Zumutung, dass selbst die gro?ten Wahrheiten offenbar ein Verfallsdatum haben. Unsere Welt ist geistig, moralisch, ethisch unsicherer geworden. Was gestern unmoglich erschien, ist heute bereits gro?e Mode. Alle Gewissheiten mussen in unserer globalisierten Welt tagtaglich neu ausgehandelt werden. In dem Rucksack, den der moderne Mensch auf seinen Schultern tragt, wiegt nicht allein die Geschichte schwer oder die Gegenwart mit ihren taglichen Problemen, sondern vor allem die Ungewissheit uber ein Morgen, das vielleicht so ganz anders wird, als es das Heute ist.

Konstruktiv ertragen lasst sich diese neue existenzielle Unsicherheit nur auf dem Fundament solider Information, Bildung und halbwegs ausgeglichener Wirtschaftsstrukturen. Aber weltweit gelten immer noch nahezu eine Milliarde Menschen als Analphabeten. Und nach Zahlen der Welternahrungsorganisation FAO leiden derzeit 925 Millionen taglich an Hunger und Unterernahrung. Die Ohren dieser Menschen sind besonders offen fur die Einflusterungen fanatischer Hassprediger. Die Hauptaufgabe der Zukunft muss es sein, Armut zu beseitigen und Bildung zu schaffen. Demokratie gedeiht nur auf dem Fundament einer aufgeklarten Aufklarung.

Vor allem eines gehort ganz an die Spitze der To-do-Liste unserer Zukunft: Wir mussen uns selbst neu denken. Uns selbst mussen wir nachhaltig verandern, weniger die Welt, bei der es uns eher um Bewahrung gehen muss.

Einer radikalen Veranderung des Lebens geht meistens eine tief greifende Krankung voraus. So hat es schon Sigmund Freud gewusst, der diesen Beichtstuhl der Moderne, seine »Couch«, auf der wir immer noch liegen, erfand, um ins Unbewusste vorzudringen und in das Dunkel unseres Seins zu leuchten.

Freud erkennt - fast bedauernd - an, dass die Neuzeit uns Menschen eine schwere, kaum zu bewaltigende Last auf die Schultern gelegt hat:    die tiefgreifende »Krankung des Menschengeschlechts«. Der moderne Mensch, der selbst ernannte Chef-Erdenburger gewisserma?en, musse sich, so Freud, bereits seit Galileo Galilei damit abfinden, dass er und sein Erdkreis nicht mehr im Mittelpunkt des Universums stunden. Das sei eine fundamental neue Erfahrung, die mit der beruhigenden Welt- und Gottesgewissheit unserer Vorfahren schmerzlich aufraumt. Damit aber nicht genug: Seit Darwin mussen wir au?erdem zur Kenntnis nehmen, dass wir vom Affen abstammen. Wermutstropfen auf Wermutstropfen, Enttauschung auf Enttauschung. Eine noch tiefere Krankung aber sei es endlich, dass »der Mensch noch nicht einmal Herr in seinem eigenen Hause« sei, sondern dass unter der Oberflache seiner Vernunft und Kultur unbeherrschbar das Unbewusste brodelt, wie die Psychoanalyse zeige.

Freud demontierte mit seiner Analyse das stolze Selbstbild seiner Zeitgenossen und provozierte damit heftigen Widerspruch. Die furchtbaren Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit ihren barbarischen, kulturspottenden Exzessen aber lieferten prompt den Praxisbeweis fur den freudschen Skeptizismus, sein »Unbehagen an der Kultur«. Spatestens jetzt musste die Menschheit sich endgultig von der alten, lieb gewordenen Vorstellung verabschieden, sie sei die Krone der Schopfung, habe ihre Triebe und Emotionen im Griff und stunde intelligent und souveran im Zentrum des Kosmos.

Hat Freud schon geahnt, wie sehr die allerneueste wissenschaftliche Forschung seinen Ansatz vertiefen und sogar noch radikalisier-en wurde? Etwa durch die Erkenntnisse der modernen Biogenetik? Da wird die Frage, wer wir eigentlich sind, zu einer immer schwerer losbaren Ratselaufgabe.

Nur ein Beispiel: Die Molekularbiologen rechnen uns heute vor, dass unser Korper aus etwa 1013 - also 10 Billionen - Korperzellen besteht. Ist nun damit unsere Identitat medizinisch ausreichend beschrieben? Ist dieser Zellbestand unser materiell definierbarer Besitz? Sind wir das?

Nicht nur, sagt die moderne Biologie. Und uns wird dann erklart, dass in und auf unserem Korper etwa zehnmal so viele Bakterienzellen, also 100 Billionen korperfremde Lebewesen, siedeln. Zwar sind sie viel kleiner und mit einem Gesamtgewicht von etwa einem Kilo pro Mensch auch viel leichtgewichtiger als unsere Korperzellen -aber doch zahlenma?ig deutlich in der zehnfachen Uberlegenheit.

Ist diese »fremde« Mehrheit, die im Ubrigen ja auch eine viel gro?ere Anzahl an Genen beinhaltet, als es unser eigenes Erbgut tut, nun Bestandteil unserer Identitat? Sind wir diese Fremden? Die Biologen wurden sagen: Ja! Denn ohne die Bakterien wurden wir nicht uberleben konnen. Sie ubernehmen wichtige Arbeiten in und an uns, die unser genetisches Programm gar nicht leisten kann. Etwa in der Darmflora die Zerlegung der aufgenommenen Nahrung in Eiwei?-, Zucker- und Fettmolekule, die Voraussetzung fur unseren Stoffwechsel. So ist jeder Einzelne von uns genetisch gesehen eine Ansammlung von vielen. Bedenkt man weiter, dass etwa neunzig Prozent unserer gesamten Korperzellen innerhalb eines Jahres absterben und immer wieder erneuert werden, wir uns also in einem steten Prozess der Verwandlung befinden, dann wird die Frage, wer wir sind, aus biologischer Sicht jede Minute neu zu stellen sein.

Neueste Erkenntnisse der Psychologie unterstutzen diese Vorstellung von einem steten »Wandel-Wesen Mensch« auch inner-psychologisch: Ging die Menschheit jahrtausendelang davon aus, dass die Identitat jedes Wesens als kontinuierlich aufsteigende Entwicklungslinie zu verstehen sei, so wird heute von einer eher punktuellen, lebensgeschichtlich standig wechselnden Identitat gesprochen. Offenbar sind wir in unseren Entscheidungen und Vorlieben viel weniger von objektiven Einsichten geleitet als vielmehr von biografischen Zustanden, die sich fortwahrend andern. Unser wechselhaftes Schicksal verurteilt uns zu jeweiligen Meinungen und Taten, die wir gleichwohl fur souverane Entscheidungen halten. Wir agieren aber viel weniger vernunftig, als wir denken. Wir handeln hauptsachlich biografisch determiniert. Und so kommt es, dass wir in der Jugend ganz andere Interessen haben als im Alter. Dass Selbstmordattentater zu 99 Prozent junger sind als 23 Jahre und neunzig Prozent der alten Menschen gerne Mozart horen. Oder dass man viel mehr Zeit mit der Auswahl seines Rasierwassers zubringt als mit der viel sinnvolleren Planung der Altersversorgung. Unvernunftig ist das, aber zutiefst menschlich.

Wo beginnen wir zu sein? Wo enden wir? Die neue Offenheit dieser Fragen schafft zweifellos gewaltige Freiheiten. Aber Freiheiten sind immer auch Zumutungen. Denn sie verunsichern. Sie ziehen den festen Boden unter den Fu?en weg. Das 20. Jahrhundert lehrt uns jedoch, dass wir den Umgang mit dem schwer zu tragenden, gro?en Fragezeichen lernen mussen. Und wie steht es mit der seit Urzeiten postulierten Uberlegenheit des Menschengeschlechts?

Die alten Volker hegten die Vorstellung, mit Erschaffung des Menschen sei Gott sein Meisterstuck gegluckt. Dieser Gedanke pragte das menschliche Denken uber Jahrtausende hinweg, in fast allen Kulturen und im europaischen Raum ma?geblich noch bis ins 19. Jahrhundert hinein. Mit der Erschutterung der alten gro?en Religionswahrheiten im 19. und 20. Jahrhundert war dann aber plotzlich der Startschuss gegeben fur die absonderlichsten, oft auch vulgar-biologistischen Erklarmodelle, die sich als schneller Ersatz anboten in dem Moment, da die alten Wahrheiten wegbrachen.

Insbesondere der Nationalsozialismus predigte eine Rassenideologie, die den »Wettkampf des Erbguts« zum gesellschaftlichen Programm erhob und skurrile Erkenntnisse aus der Geflugelzucht auf die menschliche Gemeinschaft ubertrug. Auch der Kommunismus unter Lenin und Stalin sprach von »der Erschaffung des Neuen Menschen« und glaubte innerhalb von zwei bis drei Generationen durch Umerziehung eine Art neuer, dauerhafter genetischer Disposition des Menschengeschlechts zu schaffen. Alle Nachgeborenen wurden automatisch Kommunisten werden, so die sozialoptimistische Vorstellung. »Selektion« war dabei das aus der darwinschen Biologie gerne ubernommene Wort. In seiner politischen Auslegung meinte es aber zunachst einmal die Massenvernichtung aller Andersdenkenden.

Doch die moderne Evolutionsbiologie muss alle dogmatischen Weltverbesserer, die so wie einst Darwin der Natur »ewige Gesetze« ablauschen wollen, enttauschen. Es gibt kein Gesetz, das da lautet: »Das Leben ist Kampf, und der Starkste wird siegen!«

Naturliche Selektion schert sich in keiner Weise um Qualitat, so lehren uns heute die Erkenntnisse der Biologie. Alle Lebensformen kommen zustande durch Variabilitat, also die Fahigkeit, sich selbst standig zu verandern. Dabei treten genetische Variationen bei uns und bei allen anderen Lebewesen ganz unabhangig davon auf, ob sie die Uberlebenschancen des Individuums erhohen, vermindern oder uberhaupt nicht tangieren. Die Uberlebensfahigkeit hangt davon ab, wie weit die Anpassung an die sich standig verandernde Umwelt gelingt. Wer heute existiert, der existiert nicht, weil er intelligenter, kraftiger, geschickter oder gar umweltschonender ist, sondern einzig und allein, weil er von den derzeit herrschenden Zustanden nicht verdrangt wurde. Er lebt in einer

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