Andreas fuhlte sich in Elisabeths Gegenwart stets ein wenig unwohl. Mit vorsichtigen Schritten ging er auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Elisabeth ergriff sie, druckte sie fest, hielt aber gebuhrenden Abstand zu dem Geistlichen. Dann lie? sie die Hand wieder los, strich mit einer mechanischen Bewegung uber die perlenbestickte Haube und wich einen Schritt zuruck. Wie immer trug sie ein hochgeschlossenes Kleid, doch ihrer Zuchtigkeit haftete gleichzeitig etwas Zugelloses an, wie Andreas fand.
Elisabeth betrachtete ihn eine Weile. Ihr Blick war tief, ratselhaft, verschleiert. »Ich habe Euch etwas Schreckliches mitzuteilen«, sagte sie schlie?lich mit ihrer leisen, so sanften Stimme, bei der Andreas immer an die spielerische Beruhrung kostbarer Seide denken musste.
»Ludwig Leyendecker ist tot.«
Andreas fuhlte sich, als habe ihn der Schlag getroffen. Die Beine drohten nachzugeben; er machte ein paar Schritte zur Kastentruhe, in der Hulshout und er die Tischwasche aufbewahrten, und lie? sich schwer darauf nieder.
»Ludwig?« Er schuttelte den Kopf. »Das kann nicht sein.«
Elisabeth Bonenberg setzte sich wieder auf den Dreifu? und hielt die langen, dunnen Hande vor das Gesicht. »Es ist wahr«, sagte sie gepresst. »Man sagt, er habe sich das Leben genommen.«
»Nein. Das ist unmoglich. Nicht Ludwig.«
Elisabeths Bruder Ludwig war ein frohlicher, herzensguter Mann, der nie an boser Galle gelitten hatte. Andreas kannte ihn aus seiner Zeit im Kolner Priesterseminar, wo Ludwig und er so manchen Scholastiker studiert und viele Humpen Bier und Wein geleert hatten. Ludwig hatte nur wenig Freude an der Theologie gehabt, doch Hans Leyendecker, sein einflussreicher Vater, hatte Ludwigs alteren Bruder Georg zur Fortfuhrung des Weinhandelshauses bestimmt, mit dem die Familie Leyendecker viele Generationen hindurch ihr gro?es Vermogen gemacht hatte. Fur Ludwig war wegen eines Gelobnisses seiner fruh verstorbenen Mutter, einen ihrer Sohne Gott zu weihen, nur das Priesteramt geblieben – das Pfaffentum, wie er es immer genannt hatte. Wein, Bier, gelegentlich eine Dirne, aber vor allem die Freundschaft zu Andreas hatten ihm das Studium ertraglich gemacht. Andreas hatte zwar Leib und Seele seinem uber alles verehrten Gott verschrieben, daruber aber die Genusse dieser Welt nicht vergessen. Ludwig war ein guter Theologe und Disputierer gewesen, ja, er ware sogar beinahe zum Doktor promoviert worden. Aber Gott in Gestalt des unabwendbaren Schicksals hatte anderes fur ihn geplant.
Elisabeth schluchzte und nahm die Hande vom Gesicht. Ihre Augen waren verweint. Grune Teiche, in die der Regen fiel. Sie tat Andreas Leid, und zu seinem eigenen Erstaunen verspurte er den Drang, sie in die Arme zu schlie?en und ihr sanft uber das seidige, blonde Haar zu streichen. »Man hat ihn erhangt auf dem Dachspeicher gefunden. Und er hat einen eigenhandigen Abschiedsbrief hinterlassen.«
Erhangt! Was fur ein schmachvoller Tod! Andreas lehnte sich auf der Truhe zuruck, bis er die Wand im Rucken spurte. Er schaute an Elisabeth Bonenberg vorbei aus dem Fenster. Nun war der Schatten von Sankt Kolumba mit seinen machtigen Schiffen, den entstellenden Gerusten und dem Kran kein schlafender Riese mehr, sondern ein sprungbereites Tier aus einer Welt, die unendlich gottesfern war. Aus der Unterwelt. Und vor ihr ragten die alten Grabkreuze aus dem Boden des Kirchhofes. »Wann ist es geschehen?«
»Erst vor knapp zwei Wochen.« Elisabeth senkte den Blick auf ihre breiten Ochsenmaulschuhe. »Dort, auf Eurem Kirchhof, liegt er begraben. In der Selbstmorderecke, in ungeweihter Erde. Er ist verscharrt worden wie ein Hund.« Sie hob den Kopf und deutete in Richtung des Fensters.
Ludwig war erst durch einen schlimmen Unglucksfall von seinem Theologiestudium entbunden worden. Sein Bruder Georg war von einem machtigen Weinfass uberrollt worden, dessen Verladung er beaufsichtigt hatte. Ein Seil war gerissen. »Das Leben hangt immer nur an einem einzigen Faden«, hatte Ludwig damals gesagt und nicht gewusst, ob er sich in all seiner Trauer um den geliebten Bruder freuen durfte, dass nach dem Tod des Vaters nun er das Haupt der Familie war und den Kaufmannsberuf ergreifen konnte, der ihn schon so lange begeistert hatte. Er konnte Frankenwein von Moselwein, Veltliner von Muskateller und Malvasier unterscheiden. Auch wusste er genau um die Qualitaten von Wurz- und Feuerweinen, die immer beliebter wurden. Er kannte die Mischungsverhaltnisse besser als sein Bruder und hatte eine gluckliche Hand bei der Zugabe von Honig, Wacholder, Flieder, Eibisch und anderen Zutaten, mit denen man dem Wein den Geschmack verleihen konnte, den die Kunden so schatzten, auch wenn es manchmal wider das Gesetz war. Ludwig wusste, wo es die besten Lagen an Mosel, Rhein und Ruwer gab und welche Weingarten im Kolner Stadtgebiet zur Herstellung von Branntwein taugten. Er hatte viele von den Winzern gesehen, wenn sie in das stattliche Giebelhaus in der Rheingasse kamen, und hatte schon als Kind zwischen den gewaltigen Fassern im Lagerhaus und Keller des Leyendecker’schen Anwesens gespielt. Seine Familie war seit langer Zeit im Weinhandel tatig; sie hatte seit uber hundert Jahren einen sehr guten Ruf und machte glanzende Geschafte. Welch ein Unterschied zu Ludwigs Vorfahren aus ferner Zeit, die lediglich mit einem Fasschen Wein durch die Lande gezogen waren.
Als Ludwig Leyendecker die Leitung des Handelshauses ubernommen hatte, war ihm gewesen, als sei er ins Paradies eingeruckt. Das war fur ihn besser als staubige Folianten. Er starkte vor allem den Handel mit England und fuhr Gewinne ein, die alles ubertrafen, was sein Bruder je erreicht hatte. Als er im Jahre des Herrn 1470, also vor knapp drei Jahren, in den Rat der Stadt Koln gewahlt wurde, war er auf dem Hohepunkt seiner Macht.
Und nun war er tot.
Gestorben durch eigene Hand.
Angeblich.
»Ich mochte sein Grab sehen«, sagte Andreas und stand auf. Seine Beine trugen ihn wieder; das erste Entsetzen war uberwunden.
Auch Elisabeth erhob sich, und gemeinsam gingen sie nach drau?en auf den Kirchhof, zu dem es vom Pfarrhaus einen Zugang gab. Bald standen sie unmittelbar an der Friedhofsmauer vor dem kleinen Grabhugel, den kein Kreuz und keine Platte schmuckte. Eigentlich hatte die Familie Leyendecker ein Erbbegrabnis in Sankt Kolumba, unweit des Hochaltars, in dem auch Ludwigs Vater, seine Mutter und sein Bruder schliefen, doch fur einen Selbstmorder war dort kein Platz.
Die Erde wirkte noch aufgewuhlt, beinahe, als habe der Tote versucht, aus seinem dunklen Gefangnis zu entkommen. Andreas betete ein Vaterunser und ein Ave Maria fur seinen Freund und musste die Tranen zuruckhalten. Gestern noch hatte er sich auf der anstrengenden Heimreise befunden, hatte den schrecklichen Wagen ertragen, war bei jedem Schlagloch durcheinander gewirbelt worden und hatte sich doch so auf die Heimatstadt und den Freund gefreut. Und jetzt stand er an seinem Grab.
»Warum?«, murmelte er. »Warum nur?«
Elisabeth beugte sich zu ihm heruber und flusterte ihm ins Ohr: »Fur mich war es kein Selbstmord.«
Andreas zuckte zusammen, ob wegen Elisabeths verwirrender Worte oder ihrer korperlichen Nahe, wusste er nicht zu sagen.
»Ich verstehe das nicht«, gab er zuruck und sah sie an. Ihre Augen befanden sich nur eine Handspanne von seinen entfernt. Die Sonne senkte sich hinter dem Turm von Sankt Kolumba, der einen langen Schatten warf. Ein Rabe flog aus einem der alten Apfelbaume auf, die hinter der Mauer des Kirchhofs standen, und krachzte seinen Abendgru? uber die Stadt.
»Ich auch nicht. Deshalb bin ich zu Euch gekommen. Ich wei?, wie gute Freunde Ihr und Ludwig wart. Und ich wei?, dass Ihr alles tun werdet, um herauszufinden, was diese Tragodie verursacht hat.«
Andreas schlang die Arme um sein schwarzes Priestergewand. Ihn frostelte. Der Turm von Sankt Kolumba, schwarz vor der untergehenden Sonne, erschien ihm wie ein Finger, der geradewegs in den Himmel wies.
Oder vor der Holle warnte.
»Wie geht es seiner Frau?«, fragte Andreas nach einer Weile, wahrend der beide schweigend vor dem Grab gestanden hatten.
Elisabeth warf den Kopf in den Nacken. »Barbara? Was erwartet Ihr? Eine trauernde Witwe? Sie ist fur mich der einzige Grund, aus dem mein Bruder hatte Selbstmord begehen konnen.«
Andreas nickte gedankenverloren. Er teilte Elisabeths heftige Abneigung gegen ihre Schwagerin nicht, doch auch er hatte sich immer gefragt, was Ludwig an dieser Frau fand. Sie war sehr lebenslustig, aber auf eine andere Art als ihr Gatte. Auf eine dunklere, wildere, gierigere Art. Vier Jahre waren sie verheiratet gewesen, aber ihre Verbindung war nicht mit einem Kind gesegnet worden. Barbara Leyendecker hatte das viele Geld genossen, das ihr Gemahl erwirtschaftete. Und manchmal hatte sich Andreas gefragt, ob es stimmte, dass sie neben den materiellen Freuden auch andere, korperliche, verbotene genossen hatte, die sie sich fern von ihrem Mann verschaffte.
»Sie hat es nicht verdient, dass Ihr so uber sie redet«, entgegnete er Elisabeth.
Deren grune Augen blitzten ihn an. Sie zog ihr hochgeschlossenes Kleid am Kragen noch etwas enger und