»Wer nirgendwo beginnt, wird nie ans Ende kommen«, versetzte ihm Andreas. »Konntet Ihr mir diese Akte heraussuchen, wenn ich Euch den Namen des Delinquenten sage?«
»Moglicherweise.« Der Durre wandte den Blick von Andreas ab und blatterte in einigen Akten vor sich, die genauso staubig wie er selbst waren.
»Hattet Ihr die Gute, mir die Akte des Ludwig Leyendecker herauszusuchen?«
»Ah ja, daran erinnere ich mich. Ein eindeutiger Fall, daher konnte sofort ein Urteil gefallt werden. Ganz hinten rechts.« Der Durre deutete auf die Tur ihm gegenuber und versank wieder in seinen Akten.
Andreas querte den Flur und offnete die Tur, die ihm angewiesen worden war. Dunkelheit hockte dahinter. »Habt Ihr ein Licht fur mich?«, fragte er in die Finsternis hinein. Etwas hinter ihm zischte. Er drehte sich rasch um.
Der Durre hatte ihm einen Kienspan angezundet und streckte ihn nun so weit wie moglich von sich ab. Der Geruch der Leuchtquelle war unangenehm. Andreas ergriff den Span, hielt ihn ebenfalls weit von sich und betrat die Gruft der moderigen Schriftstucke.
Die Akten schalten sich aus der Dunkelheit, wenn er mit dem Licht an ihnen vorbeiging. Manche waren so dick, dass sie mit Lederbandern zusammengehalten werden mussten; andere waren dunn, hohlbrustig. Hinter jeder steckte ein Mensch. Ein Schicksal, meist mit ungutem Ausgang. Hier unten, in diesem fensterlosen Gewolbe, lagen die Hoffnungen, Traume und Untaten so vieler Menschen begraben.
Und eines dieser pergamentenen Grabmonumente gehorte seinem Freund Ludwig Leyendecker, der bei Andreas’ Abreise nach Bologna noch so vergnugt und frohlich gewesen war, als konne ihn niemals ein Ungluck treffen.
Ganz hinten rechts, hatte der Archivar gesagt. Tatsachlich fand Andreas die Akte recht schnell. Sie war dunn. Ludwig schien nur ein unwesentlicher Fall gewesen zu sein. Die Ledermappe enthielt einen kurzen Bericht uber die Umstande, unter denen Ludwig Leyendecker aufgefunden worden war, sowie das Urteil der Exkommunikation.
Und dann fielen Andreas im zuckenden Licht des schwelenden Kienspans die beiden Schriftstucke in die Hand, die er so verzweifelt gesucht hatte.
Der Abschiedsbrief und der Teufelspakt.
Das angebliche Bundnis mit den Machten der Holle war in holperigem Latein abgefasst. Der Furst der Finsternis verfugte offenbar nur uber au?erst mangelhafte Lateinkenntnisse. Ludwigs Unterschrift jedoch – rot wie Blut – schien echt zu sein. Er kannte die Signatur seines Freundes, und eine Gansehaut kroch ihm uber den Rucken, als er las, wie Ludwig angeblich seine Seele dem Teufel im Gegenzug fur weltliche Macht und Reichtum verkauft hatte. Bei diesem Vertrag konnte es sich nur um eine Falschung handeln. Das damonische Latein quoll uber vor Fehlern, die Luzifer wohl nie gemacht hatte. So lautete die Uberschrift in Gro?buchstaben: »Pactus cum diabboli«; korrekt hatte es hei?en mussen: »Pactum cum diabolo«. In dieser Art ging es weiter. Andreas hatte nie an einen Teufelspakt geglaubt, und er war froh, seine Vermutung bestatigt zu sehen.
Sehr froh.
Dann nahm er sich den Abschiedsbrief vor. Er las ihn immer wieder. Ludwig legte darin dar, dass er das Wissen um den mit dem Fursten der Holle eingegangenen Pakt nicht mehr ertragen konne und daher freiwillig aus dem Leben scheide. Wenn aber der Pakt eine Falschung war, warum dann dieser Abschiedsbrief, der eindeutig von Ludwig selbst geschrieben war? Etwas stimmte mit dem Schreiben nicht. Andreas sah von dem Text auf und versuchte, die gewolbte Decke zu erkennen. Das Licht des Kienspans reichte nicht bis hinauf, sodass er von korperloser Schwarze umgeben war; nur der Boden wirkte fest. Doch als er den Brief erneut las, wankte auch der Boden unter ihm. Er fuhlte sich, als sturze er ins Nichts.
Er hatte es gefunden.
DREI
Aufgeregt stand Andreas vor dem gro?en Giebelhaus in der Rheingasse, nicht weit vom Heumarkt entfernt. Einige Hauser weiter rechts erhob sich das prachtige Overstolzenhaus, das gro?e, aber nicht erreichte Vorbild des Bonenberg’schen Anwesens. Elisabeth Leyendecker war von ihrem jungeren Bruder vor mehr als einem Jahr an Heinrich Bonenberg verheiratet worden. Bonenberg handelte hauptsachlich mit Tuchen und Eisenwaren, hatte sich im letzten Jahr aber auch verstarkt mit dem Weinhandel befasst. Fur Ludwig Leyendecker war die Hochzeit eine gute Moglichkeit gewesen, seinen Einfluss in der Stadt auszubauen und einen weiteren Verbundeten im Rat zu haben. Auch half man sich manchmal gegenseitig mit Transportgefahrten und Eskorten aus. Das Leyendecker’sche Kontor setzte seinen Wein, der uberwiegend von der Mosel und aus der Pfalz stammte, zum gro?ten Teil in England ab, wahrend Bonenberg mit seinen Waren den norddeutschen Raum belieferte, inzwischen aber auch versuchte, Wein von Rhein und Mosel in England zu verkaufen. Neben all diesen Interessen zahlte naturlich eine so seltsame Regung wie Liebe nicht.
Andreas wusste, dass Elisabeth ihrem Gatten gegenuber eine gewisse Achtung und Dankbarkeit aufbrachte, die der junge Kaplan nie verstanden hatte, denn Heinrich Bonenberg war ein aufbrausender, jahzorniger und gewaltbereiter Mann. Doch wer verstand schon die Frauen? Er schuttelte den Kopf und betatigte den schweren Klopfer.
Elisabeth empfing ihn in der Wohnstube im Erdgeschoss. Alles hier atmete Reichtum: die Brokatkissen auf den Scherenstuhlen, die Wandbehange aus Flandern, von denen einige sogar als Bodenbelag dienten, die reich geschnitzten Eichentruhen und uberdies ein gewaltiger Stollenschrank, wie ihn sonst nur die Adligen ihr Eigen nannten. Elisabeth sa? auf einem der bequem ausgepolsterten Stuhle. Sie trug wieder ein zuchtig hochgeschlossenes Kleid und begru?te Andreas, der von einer der Magde hereingefuhrt worden war, mit einem Kopfnicken. Sobald die Magd jedoch das Zimmer verlassen hatte, sprang sie auf und lief auf Andreas zu. Er hatte schon befurchtet, sie wurde ihm in die Arme fallen, doch kurz vor ihm blieb sie stehen, offenbar selbst uber ihren Gefuhlsausbruch verwirrt. Wie zur Warnung schlugen aus der Ferne die Glocken von Sankt Maria im Kapitol die dritte Stunde.
»Ich freue mich uber Euren Besuch«, sagte Elisabeth atemlos. »Bringt Ihr Neuigkeiten?«
»Allerdings.« Andreas griff unter seinen schwarzen Priesterrock und zog ein zusammengefaltetes Pergamentblatt hervor. Er ging zu dem kleinen Tisch unter dem Fenster und breitete das Pergament darauf aus. »Das ist der Abschiedsbrief Eures Bruders.«
»Woher habt Ihr ihn?«, fragte Elisabeth erschrocken.
»Ich habe ihn aus dem erzbischoflichen Archiv… entliehen. Es gab keine andere Moglichkeit. Da die Akte geschlossen ist, wird niemand je den Verlust dieses Briefes bemerken. Ich bin in ihm auf etwas gesto?en, das ich Euch unbedingt zeigen wollte.« Er strich den Bogen mit der breiten, ausladenden Handschrift glatt. »Es ist seine Handschrift, nicht wahr?«
Elisabeth stellte sich dicht neben ihn und beugte sich uber den Brief. Beinahe hatte sie Andreas beruhrt. »Ja«, flusterte sie. Sie schien mit den Tranen zu kampfen.
Andreas las vor: »Hiermit bestatige ich, Ludwig Leyendecker, in vollem Besitz meiner geistigen und korperlichen Krafte, dass ich aus dem Leben scheiden werde. Seit ich mit dem Satan ein Verbundnis aufgerichtet habe, bin ich meines Lebens nicht mehr froh geworden. Zwar hat er mir, wie er versprochen hat, weltliche Guter im Uberfluss geschenkt, doch jeden Tag spure ich den Verlust meiner Seele starker. Sic transit gloria mentis.
Der einzige Ausweg, den ich sehe, ist der des Freitodes. Ich bin verloren. Betet fur mich.«
Andreas schaute Elisabeth von der Seite an. Sie starrte noch immer auf das Blatt, als konne sie erst jetzt, da sie diesen Brief mit eigenen Augen sah, begreifen, dass ihr Bruder tot war.
»Fallt Euch an diesem Brief etwas auf?«, fragte er sie leise.
»Nein«, antwortete sie. »Ich kann ihn lesen; ich habe mir das Lesen selbst beigebracht, aber den lateinischen Satz verstehe ich nicht.«
»Ohne es zu wissen, habt Ihr das Wesentliche in diesen Zeilen angesprochen«, meinte Andreas und kratzte sich am glatt rasierten Kinn. »Wie Euch bekannt ist, haben Euer Bruder und ich eine Weile gemeinsam die Lehren der heiligen Mutter Kirche studiert. Dabei haben wir vieles Wichtige und Wertvolle gehort, aber auch viel Unsinn. Immer, wenn es einer unserer Professores gar zu arg trieb und sich in seinen eigenen Argumentationen verhedderte, schrieben wir auf unser Wachstafelchen ebendiesen lateinischen Spruch, der so viel bedeutet wie: So geht der Glanz des Verstandes dahin. Diese Worte standen bei uns fur etwas Unsinniges, Unverstandliches,