waren aber wesentlicher Wande und sichernder Begrenzungen beraubt und warteten mit banger Zuversicht auf eine bessere Zukunft.
Nach der Messe, zu der nur drei alte Mutterlein seines Sprengels gekommen waren, versuchte er eine Stunde lang vergeblich, dem Familiaris im Pfarrhaus die Anfangsgrunde des Lateinischen beizubringen. Dann schlich er hinaus auf den Kirchhof und stand lange vor Ludwigs namenlosem Grab. Der Regen hatte sich verzogen, die Wolkendecke war aufgerissen und enthullte den abnehmenden Mond, dessen blasser Glanz durch den fruhen Abend schwebte. Die Apsis der Kirche ragte auf wie eine Drohung.
Da legte sich plotzlich eine Hand auf seinen Arm.
Andreas wirbelte herum und sah in die grunen, tiefen Augen Elisabeths.
»Grete hat mir den Weg zu Euch gewiesen«, sagte sie leise und schaute den traurigen Erdhugel an. »Wart Ihr bei seiner Witwe?«
Andreas nickte und berichtete ihr zunachst nur von dem Zauberbuch. Sie schuttelte den Kopf und sagte: »Naturlich hat diese verfluchte Frau es ihm untergeschoben, oder habt Ihr Anmerkungen von Ludwigs Hand darin bemerkt?«
Andreas schaute sie verblufft an. An das Nachstliegende hatte er nicht gedacht. Seine Abscheu vor dem Buchlein war so gro? gewesen, dass er es nicht eingehender untersucht hatte. »Vielleicht habt Ihr Recht. Es wurde zu einer anderen Beobachtung passen, die ich unter dem Dach des Leyendecker-Hauses gemacht habe.« Nun berichtete er ihr auch von dem zu niedrigen Hocker.
Elisabeth nahm die Hand von seinem Arm und stie? einen Laut aus, in dem tiefe Verzweiflung und ma?lose Wut mitschwangen. Andreas zuckte zusammen und ruckte von ihr ab. In ihrem Gesicht flackerte eine Wildheit, die ihn entsetzte.
Gleichzeitig hatte er sie am liebsten in den Arm genommen.
»Er ist ermordet worden. Ich habe es gewusst! Und Barbara hat ihn auf dem Gewissen!« Sie sank vor dem Grab ihres Bruders nieder und grub die Finger in den vom Regen aufgeweichten Boden. Ihr Korper wurde von Schluchzern geschuttelt.
Andreas rang verzweifelt die Hande. Er kniete sich neben sie und wagte es.
Er nahm sie in den Arm.
Trotz ihrer Gro?e war sie so zart. Er umgriff sie muhelos. Als sie den Druck seiner Finger unter ihrem Busen spurte, rollte sie sich zur Seite und blieb einige Ellen von Andreas entfernt auf dem Bauch liegen. Rasch stand er wieder auf. Er war so verdutzt, dass er ihr nicht einmal die Hand bot, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
Muhelos kam sie auf die Knie und drehte ihm den Kopf zu. In ihrem Blick lag nur noch Angst. Dann richtete sie sich auf. »Wir mussen diese Frau dem Richter ubergeben«, sagte sie hastig und gepresst.
Der Abend stahl sich zwischen den Mauern des Friedhofs und der Kirche heran. Die Farben verblassten zu einem dusteren Grau, uber dem hier und da Tucher aus fahlem Mondlicht lagen, die auch das Gras zu wei?em Bildwerk machten.
Andreas versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte eine Frau beruhrt. Seine Absichten waren rein und lauter gewesen. Doch was er da gespurt hatte… Er begriff nichts. »Barbara Leyendecker…«, stotterte er, »… kann… hat…, es ist nichts bewiesen. Es gibt da auch noch eine andere Moglichkeit.«
Elisabeth sah ihn fragend an. Ihr Kleid war mit Erde beschmiert, und die Haube sa? ihr schief auf dem Kopf. Sie schaute an Andreas vorbei, nach oben, und erstarrte. »Wir werden beobachtet«, flusterte sie.
Andreas drehte sich um. Eine Gestalt verschwand hinter dem erleuchteten Fenster der Wohnstube im Erdgeschoss. Vielleicht war es der erfolglose Schuler, vielleicht auch Grete, die Hausmagd. »Kommt. Ich bringe Euch nach Hause. Es schickt sich nicht fur eine junge Frau, allein durch die abendliche Stadt zu gehen.« Er bot ihr den Arm.
Sie scherte sich nicht darum, dass sie seinen Priesterrock mit Lehm beschmierte, und lachelte ihn zaghaft an. Er fuhrte sie durch die Diele nach drau?en. Niemand begegnete ihnen, doch Elisabeth achtete peinlich genau darauf, dass sie ihm nicht zu nahe kam.
Sie mussten sich beeilen. Die Nacht ubergoss die Stadt rasch mit ihrer Schwarze, welche die schmale Mondsichel nur mit schwachen wei?en Strichen zu durchbrechen vermochte, und die wenigen Kerzen vor den Heiligenbildern an den Hausern waren kaum mehr als blinde Spiegel der Finsternis. Andreas fuhrte Elisabeth durch die Bruckenstra?e, die Obenmarspforten entlang, an der dusteren kleinen Michaelskapelle vorbei, die fruher die Kapelle des Kolner Rates gewesen war und seit dem Neubau des Rathauses nicht mehr benutzt wurde. Schlie?lich kamen sie zum Alten Markt, der tagsuber vor Standen mit Gemuse, Obst, Gewurzen, Drugwaren, Lederwaren, Geschirr und Kurzwaren uberquoll, doch nun verlassen und still dalag.
Alle Kaufleute hatten noch vor der letzten Messe ihre Stande abgebaut, waren in die Kirchen gestromt und hatten sich danach auf den Heimweg begeben. Ein offensichtlich sehr reicher Kaufmann im kostbaren Wams und mit edlen Lederschuhen kam hinter einem Lichttrager uber den Markt, obwohl es noch gar nicht so dunkel war, dass man unbedingt eine Laterne benotigt hatte.
Andreas sah den beiden nach, wie sie in Richtung Rathaus verschwanden, und meinte dann zu Elisabeth: »Wir sollten uns nicht zu sicher sein, dass die Witwe Eures Bruders etwas mit seinem Tod zu tun hat. Beim Gesprach mit ihr ist mir noch eine andere Idee gekommen.«
Elisabeth blieb stehen. Sie hielt sich so weit von ihm entfernt wie moglich, ohne ihn loslassen zu mussen, und sah ihn fragend an.
Er betrachtete sie kurz. Der getrocknete Lehm hatte ihrem schonen grunen Kleid hassliche Schlieren aufgedruckt. Nun war sie ein Kind der Erde und des Himmels zugleich. Andreas wunderte sich uber seine seltsamen Gedanken. Rasch sagte er: »Es ware doch moglich, dass der Mord an Ludwig geschaftliche Hintergrunde hat.«
»Warum?«, wollte Elisabeth wissen, der sein inniger Blick wohl nicht entgangen war, denn sie machte sich von ihm los.
»Hatte Ludwig Feinde? Gab es Leute, die ihm sein kaufmannisches Geschick neideten? Vielleicht wisst Ihr, dass Koln im Augenblick unter der Verhansung, also dem Ausschluss aus dem Bund der Hanse, leidet – mit Ausnahme jener Kaufleute, die gute Geschafte mit England machen. Als Weinhandler war Ludwig einer der Gewinner; Barbara Leyendecker hat von uberall her die letzten Weinreserven aufgekauft, um sie in England zu vergolden. Vielleicht gibt es in dieser Richtung ein Motiv?«
Elisabeth offnete den Mund; es hatte den Anschein, als wolle sie Andreas vehement widersprechen. Doch sie sagte nichts, sondern setzte den Weg fort. Schweigend gingen sie uber den Heumarkt, kamen an der verwaisten erzbischoflichen Munze vorbei und naherten sich dem Rhein. Als sie in die Rheingasse einbogen, brach Elisabeth endlich das Schweigen.
»Ja, da gibt es eine Sache, die Ihr vielleicht wissen solltet«, sagte sie zogerlich. »Es fallt mir nicht leicht, daruber zu sprechen, denn ich will das Andenken meines Bruders nicht in den Schmutz ziehen.«
Nun war es an Andreas, ihr einen fragenden Blick zuzuwerfen.
Sie fuhr fort: »Es gibt einen Weinhandler namens Johannes Dulcken, den Ludwig aus dem Englandhandel gedrangt und der ihm deshalb ewige Feindschaft geschworen hat.«
»Und das sagt Ihr mir erst jetzt?«, rief Andreas barscher, als er gewollt hatte. »Ihr habt mich moglicherweise auf eine falsche Fahrte angesetzt.«
»Bitte regt Euch nicht auf. Ich bin immer noch der Meinung, dass Ludwigs Frau schuld an seinem Tod ist: Dieser Dulcken hatte schlechten Wein verkauft, und das zu uberhohten Preisen. Also hat er sich sein Elend selbst zugefugt. Ludwig erzahlte mir einmal, dass Dulcken, der sein argster Konkurrent war, zu gierig geworden sei und gepanschten Wein angeboten habe, um seinen Gewinn zu vergro?ern. Er hatte guten mit schlechtem Wein versetzt, Alaunsteine in die Fasser gehangt, Blut oder Eiwei? hinzugefugt, wenn die Farbe nicht nach seinem Willen war, und manchmal Zucker oder Rosinen beigegeben.«
»Es ist doch ublich, den Wein zu wurzen«, meinte Andreas.
»Nicht, wenn man ihn verkauft. Nach dem eigenen Geschmack bereitet ihn erst der Kunde in seiner eigenen Kuche zu. Bei der Lieferung aber muss er rein und vollkommen sein. Dulcken hat sich daran nicht gehalten und ist Opfer seiner Habgier geworden.«
»Wo finde ich diesen Dulcken?«, fragte Andreas, als sie bereits vor dem Bonenberger Haus mit seinen gro?en Blendarkaden und dem hohen Backsteingiebel standen.
»In der Vorholle«, flusterte Elisabeth, bevor sie die Stufen hinaufschritt.