SECHS
In der Nacht hatte Andreas schlecht geschlafen. Er war in die Holle hinabgestiegen und hatte dort Johannes Dulcken getroffen. Dieser sa? blutend auf einem langen Sagemesser und wollte keinen Ton sagen. Da kam ihm Barbara Leyendecker entgegen, lachelte ihn an, und aus ihrem Mund kroch eine Schlange. Elisabeth stand neben ihrem Bruder. Beide hatten am ganzen Korper Augen – Augen, die ausnahmslos schreckgeweitet waren. Andreas erwachte mit einem Schrei.
Die Glocken schlugen die funfte Stunde. Rasch zog er sich an und huschte mit einer Laterne in der Hand hinuber in die dunkle Kirche, um die Fruhmesse zu zelebrieren. Deutlicher denn je wurde ihm an diesem Morgen bewusst, dass das Gotteshaus eine riesige Baustelle war. Uberall befanden sich Geruste und Abdeckungen, doch schon seit Wochen arbeitete niemand mehr hier. Es gab Schwierigkeiten mit den Materialien, mit den Knechten und Meistern. Pastor Hulshout hatte neue Meister eingestellt, die aber zunachst die Bauzeichnungen studieren mussten. Vielleicht wurde es ja niemals weitergehen. Vielleicht steckten sie alle in ihrem kleinen Leben fest, das auch eine Baustelle war, an der oft niemand zu arbeiten schien – nicht einmal Gott, von dem Andreas manchmal befurchtete, er interessiere sich nicht sehr fur die kleinen Belange seiner Kinder.
Nach der gut besuchten Fruhmesse machte sich Andreas Bergheim auf den Weg in die Vorholle.
Elisabeth hatte ihm auf seine Nachfrage hin erklart, Johannes Dulcken habe sein Handelshaus und damit auch seine Wohnstatt verloren und friste sein Dasein nun als fliegender Kramer am Neumarkt. Sie hatte ihn Andreas kurz beschrieben – klein, sehr dick, wulstige Lippen, das rechte Bein nachziehend.
Andreas nahm den Weg durch die Herzogstra?e zur Schildergasse und folgte ihr, bis er auf den Neumarkt stie?. Die gro?en Linden warfen grune Schatten auf das Vieh, das heute hier zum Verkauf angeboten wurde. Er ging am Rande des Platzes vorbei. Ihm reichte schon das Bloken, Meckern, Gackern, Wiehern und Schnauben. Mit den Urhebern dieser Laute wollte er keinesfalls nahere Bekanntschaft machen; au?erdem war der Platz an Markttagen nicht unbedingt ein Ort angenehmer Geruche. Es widerte Andreas an, die vielen Schweine sich in den Gassen und auf den Stra?en suhlen zu sehen. Zwar war es verboten, dieses Vieh durch die Stra?en zu treiben, doch kaum jemand hielt sich daran. So kam ihm auf der Hohe der Fleischmengergasse, in der sich Kleinhandler mit geringwertigen Fleischwaren angesiedelt hatten, eine wild gewordene, wie der Teufel quiekende Sau entgegen, der er nur durch einen beherzten Sprung in den Kot auf der Stra?e ausweichen konnte. Dem armen, verangstigten Tier setzte eine groteske Gestalt nach. Zuerst glaubte Andreas, es sei eine laufende Vogelscheuche, doch es schien tatsachlich ein Mensch zu sein. Er trug Fetzen am ganzen Korper, und auch seine Kopfbedeckung bestand aus nichts als Stoffresten, die von einer einheitlich braunen Lehmschicht uberzogen waren. Der kleine Mann zog das rechte Bein nach, sodass er an den Gottseibeiuns erinnerte. Doch trotz seiner Behinderung war er unglaublich schnell. Er warf sich von einer Seite auf die andere; sein Lauf erinnerte an ein schlingerndes Schiff. Aus dem schiefen Mund mit den aufgequollenen Lippen troff Speichel. Vor dem Bauch baumelte ein Kastchen, das von einem Lederriemen um den Hals gehalten wurde. Unzahlige Amulette baumelten von seiner fadenscheinigen Kleidung; sie klingelten wie ein Wald kleiner Glocken. Andreas trat beiseite, um dem seltsamen Genossen aus dem Weg zu gehen. Der Mann beachtete ihn nicht, sondern rannte mit seltsam grunzenden Lauten hinter der Sau her.
Als Andreas den beiden nachsah, kam ihm plotzlich ein Gedanke. Er zog die Stiefel aus dem Schlamm, raffte seinen Priesterrock und eilte dem Mann nach.
Er entsprach Elisabeths Beschreibung von Johannes Dulcken. Der Schlamm spritzte unter Andreas’ Schuhen hoch, wahrend er quer uber den Neumarkt hastete. Einige Viehhandler sahen ihn verstandnislos an; er benahm sich nicht gerade wie ein Stellvertreter Gottes auf Erden. Der Verfolgte humpelte zwischen Kuhen und Pferden hindurch, die scheuten und sich wiehernd aufbaumten; die Entfernung zu seiner Beute wurde indes immer gro?er. Als er schon beinahe an der alten Mauer war, rief Andreas ihm nach: »Johannes Dulcken! Bleibt stehen! Ich muss mit Euch reden!«
Die Gestalt drehte sich im Laufen um, rutschte auf einem Kothaufen aus, ruderte mit den Armen, verlor das Gleichgewicht und sturzte fluchend. Das Kastchen sprang auf, und Gewurze, Steine und Krauter verteilten sich uber das schmutzige Pflaster. Rasch raffte der Mann seine Habseligkeiten zusammen. Das Schwein entkam indes quiekend hinter einen Pferch und war nicht mehr zu sehen. Nach ein paar Schritten war Andreas bei dem Gesturzten und reichte ihm die Hand.
Die Vogelscheuche ergriff sie – und riss den Priester zu sich hinab in den Schlamm. »Du verdammter Pfaffe!«, keifte sie. »Du hast mich um meine Sau gebracht.« Sie versetzte dem Geistlichen harte Knuffe und Puffe. Die Amulette an seinem Korper vollfuhrten einen irrsinnigen Tanz.
Andreas versuchte, sich zu wehren und sich dem Griff der Vogelscheuche zu entwinden, was ihm nur mit gro?ter Muhe gelang. »Verzeiht bitte«, stammelte er. »War das Euer Tier?«
»Es hatte mir gehort, wenn du nicht dazwischengekommen warest«, zischte der am Boden Liegende.
Andreas rappelte sich auf. Sein Priesterrock war uber und uber mit Kot beschmiert, und er stank erbarmlich. Angewidert schaute er zuerst an sich herab und dann auf den zerlumpten Mann. »Ihr seid Johannes Dulcken?«
»Warum willst du das wissen, Pfaffe?«
»Kennt Ihr Ludwig Leyendecker?« In den Augen des Gesturzten funkelte es bose. »Lass ihn in Unfrieden ruhen!«
»Ihr wisst, dass er tot ist?«
»Hab es mit Freuden vernommen«, brummte Dulcken, stand auf und ruckte sein holzernes Kastchen vor dem Bauch zurecht. »Was willst du von mir?«
Andreas wich einen Schritt zuruck, weil er befurchtete, Dulcken konne sich auf ihn sturzen. Der Blick des Mannes war irr vor Hass. »Nur einige Auskunfte«, beeilte sich Andreas zu sagen, griff an den Gurtel unter seinem Rock und zog einen kleinen Geldbeutel hervor. Er nahm einen Schilling heraus und zeigte ihn Dulcken. Eigentlich durfte sich Andreas ein solch wertvolles Geschenk gar nicht leisten, denn dafur hatte er einen ganzen Mantel kaufen konnen. Doch einerseits tat ihm die Gestalt vor ihm Leid, andererseits fuhlte er sich dafur verantwortlich, dass Dulcken die Sau entwischt war, auch wenn es sich bei dem Tier wohl um Diebesgut gehandelt hatte. So wie Dulcken aussah, hatte er sie allerdings nicht um den Gewinn, sondern zum schieren Uberleben gebraucht.
Dulcken sah das Geldstuck gierig an. »Was sollen das fur Auskunfte sein? Soll ich dir fur so viel Geld verraten, wo Gott wohnt?« Er grinste und entblo?te dabei wunderbar wei?e, ebenma?ige Zahne.
Andreas gab ihm den Schilling und band seinen schlecht gefullten Geldsack wieder an den Gurtel.
Dulcken betrachtete die Munze; es wirkte, als wolle er sie einstecken und verschwinden. Doch er blieb stehen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er den Geistlichen an. »Nun?« Die frischen grunen Blatter der Linden warfen seltsame Schatten auf die zerlumpte Gestalt. Sie schien im Licht des Fruhlings zu schwimmen.
»Ihr wart Weinhandler?«
Dulcken steckte die Munze schnell wie ein Taschenspieler weg und lachelte wehmutig. Er wurde freundlicher. »Ich danke Euch vielmals. Ja, ich war Weinhandler. Einer der bedeutendsten sogar. Meine Weine waren im ganzen Norden beruhmt, und ich habe halb England beliefert.« Er richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrucken uber den Mund. In seine Augen kam ein Funkeln, das von vergangener Gro?e zeugte. »Man wusste, dass man Qualitat kaufte, wenn man mich als Lieferanten hatte.« Seine Stimme ging beinahe im Bloken einer Schafherde unter, die soeben an ihnen vorbeigetrieben wurde.
»Kommt«, meinte Andreas. »Wir gehen zur alten Mauer. Dort ist es ruhiger.«
Sie schlenderten nebeneinanderher: der Geistliche und der Bettler, beide bespritzt mit Schlamm und Kot. Die Gassenjungen und Treiber riefen hinter ihnen her, und einer warf sogar eine verfaulte Rube nach ihnen. Sie fiel neben den beiden auf das Pflaster und zerplatzte mit einem dumpfen, hasslichen Gerausch.
Wie ein Symbol fur etwas, das auf mich zufliegt und mir gar nicht gefallen wird, dachte Andreas plotzlich. Er zog Dulcken in die kleine Gasse; Larm und Aufruhr des Viehmarktes blieben hinter ihnen zuruck.
»Was wisst Ihr uber Ludwig Leyendeckers Tod?«, fragte Andreas ohne Umschweife.
»Er hat sich umgebracht, weil er die Qualen des Teufelspaktes nicht mehr ertragen konnte«, antwortete Dulcken sofort und setzte einen Ausdruck des Ekels auf.
»Glaubt Ihr an diesen Pakt mit dem Bosen?«
»Ihr etwa nicht? Ihr Pfaffen seid es doch, die uns andauernd mit der Holle drohen, sobald uns etwas auf Erden Spa? machen konnte«, hohnte Dulcken und grinste Andreas frech an.
»Lenkt nicht ab«, sagte der Kaplan, dem dieses Gesprach zunehmend unangenehm wurde. Der Kot auf seinem Rock sandte ihm fette, bei?ende Dufte in die Nase. »Ich will nur wissen, ob Ihr der Meinung seid, dass