Sie war blutig.

»Mein Mond hat gerade eingesetzt.« Sie hielt ihm die rotfeuchte Hand entgegen.

Heinrich erstarrte mitten in der kriechenden, schlangelnden Bewegung. Uber sein breites Gesicht legte sich ein Schatten des Abscheus. »Du Hexe! Du wirst deinen Teil der Abmachung noch einhalten«, brummte er mit einer dusteren Drohung in der Stimme.

»Naturlich. Wenn es wieder ehrsam ist«, flusterte sie mit einem Ausdruck tiefsten Bedauerns und schlug die Augen nieder. Dann ging sie langsam ruckwarts aus dem Zimmer.

Als sie die Tur hinter sich geschlossen hatte und auf dem Korridor stand, atmete sie auf. Sie wollte sich nicht vorstellen, was geschehen ware, wenn sie diesen Einfall nicht gehabt hatte.

Wenn sie sich ihm nicht rechtzeitig hatte entziehen konnen.

Wenn er es bemerkt hatte.

NEUN

Sie hatten Gluck. Die Ratssitzung war gerade voruber, und die Herren kamen in ihren schwarzen, bis zu den Knien reichenden Tabbarden und den steifen, ebenfalls schwarzen Huten nach spanischer Mode aus der dem Rathaus vorgebauten Laube. Majestatisch schritten sie an den mit sagenhaften Lowenkampfen geschmuckten dicken Steinpfeilern vorbei und blinzelten in die Sonne. Einer von ihnen, ein hagerer, gro?er Mann, den die schwarze Kleidung beinahe zu einem Gespenst machte, lief auf Elisabeth zu, als er ihrer gewahr wurde – das hei?t, er lief so schnell, wie es seine spitzen Lederschuhe zulie?en. Er nahm ihre Hand und druckte sie kurz, dann sah er sie traurig an.

»Es tut mir so Leid, dass ich nicht zur Beerdigung Eures Bruders kommen konnte, aber der Rat hatte entschieden, dass wir dem Selbstmorder nicht die letzte Ehre geben durfen, vor allem deshalb nicht, weil er mit dem Teufel im Bunde stand.«

Elisabeth entzog ihre Hand dem Mann mit dem traurigen Blick. »Er war kein Vasall des Bosen, Peter Krantz«, zischte sie. »Ihr wisst es doch besser. Ihr kanntet meinen Bruder.«

Krantz sah von ihr zu dem Geistlichen, der neben ihr stand. Ablehnung schlich sich in seinen Blick. »Ich kannte ihn, wie sich Ratsmanner untereinander eben kennen«, sagte er und fugte leise hinzu: »Und er war ein guter Kerl. Ich begreife nicht, was da geschehen ist.«

»Wer konnte es denn begreifen?«, mischte sich Andreas Bergheim ein. Elisabeth hatte ihm alles berichtet, was ihr Mann ihr gesagt hatte, ohne indes ihre List zu erwahnen.

»Was will dieser Pfaffe?«, fragte Krantz Elisabeth abschatzig, wahrend ihn einige der Ratsherren verabschiedeten, indem sie ihn kurz umarmten.

»Andreas Bergheim ist ein guter Freund von mir und hilft mir, Licht in das Dunkel von Ludwigs Tod zu bringen«, erwiderte Elisabeth kalt.

»Verzeiht, Bonenbergerin. Vielleicht habt Ihr Recht. Doch ich muss fort, die Geschafte rufen.« Krantz versuchte, sich davonzumachen.

»Nicht so schnell, Krantz«, sagte Elisabeth hastig und zupfte ihn am Armel seiner Amtsrobe. »Was wisst Ihr uber die Feinde meines Bruders im Rat?«

Er vermied es, sie anzusehen. »Er hatte keine Feinde.«

»Wirklich nicht?«, warf Andreas ein. »Wir haben da etwas anderes gehort.« Inzwischen hatte sich die Laube geleert, nur noch Krantz, Elisabeth und Andreas standen in der offenen, zugigen Eingangshalle, uber der sich ein holzernes Obergeschoss befand. Die Sonne warf Balken aus Licht auf den gepflasterten Boden. Den Ratsherrn lie? sie im Dunkel; er schien wie zwischen zwei Lichtgittern gefangen.

»Ihr fragt den Falschen. Au?erdem ist der Inquisitionsprozess abgeschlossen. Warum kummert Euch die Sache noch?«

»Habt Ihr schon einmal einen Bruder oder eine Schwester durch ein Verbrechen verloren?«, gab Andreas zuruck.

»War es denn ein Verbrechen? Sind in diesem Falle nicht Verbrecher und Opfer dieselbe Person?«, entgegnete Krantz, schaute den Kaplan herausfordernd an und machte einen Schritt auf ihn zu. Elisabeth stellte sich rasch zwischen die beiden.

»Begreift Ihr denn nicht das Leid einer Schwester?«, sagte sie zu Krantz und schenkte ihm einen schmerzerfullten Blick. »Wir wollen doch nur etwas uber Ludwigs Stellung im Rat und seine Beziehungen zu den anderen Ratsherren erfahren.«

»Vielleicht hattet Ihr Euch fruher dafur interessieren sollen«, meinte Krantz. »Ich erinnere mich nicht, dass Ihr je fur Euren Bruder so viel Aufmerksamkeit ubrig hattet wie nach seinem Tode.« Elisabeth traten Tranen in die Augen. Sie schluckte.

Mit zwei Schritten umrundete Andreas Elisabeth und versetzte Krantz eine Maulschelle. Es klatschte wie ein Peitschenhieb.

Als er die schmerzende Hand zuruckzog, blieb ihm das Herz vor Schrecken uber seine Tat fast stehen. Er kannte sich selbst kaum noch.

Einen Augenblick lang standen alle drei wie versteinert da. Auf Krantz’ Gesicht wechselten sich Zorn, Verwunderung und Scham ab. Die Luft knisterte. Die Gerausche der Stadt, das Wagenklappern, Hufgetrappel, Rufen, Hammern, waren wie durch ein dickes Tuch erstickt.

Krantz war der Erste, der die Worte wieder fand. »Ich entschuldige mich fur meine Au?erung«, sagte er leise. »Aber ich kann Euch nicht viel uber das sagen, was Ihr wissen wollt.«

»Gibt es denn jemanden, den wir fragen konnen?«, wollte Elisabeth wissen. Sie entspannte sich und trat neben Andreas, der sich nun die immer noch schmerzende Hand rieb.

Krantz konnte sich ein Lacheln nicht verkneifen, als er Andreas ansah. Dieser spurte, wie wieder der Zorn in ihm hochstieg, doch er riss sich zusammen.

»Wenn Ihr es wagt, konnt Ihr Ulrich Heynrici aufsuchen. Er hat damals die Position der Stadt Koln vor dem Hansetag vertreten und dabei eng mit Ludwig Leyendecker zusammengearbeitet. Wenn jemand etwas uber Euren Bruder wei?, so ist er es.«

»Wo konnen wir ihn finden?«, fragte Andreas.

»Bei den Toten und den Sterbenden.«

Aus dem Stall des Pastorats hatte Andreas zwei Apfelschimmel ausgeborgt. Pastor Hulshout war zwar zuerst nicht einverstanden gewesen, aber als Andreas ihm erklart hatte, wen sie besuchen wollten, hatte sich Hulshouts Miene aufgehellt.

»Ulrich Heynrici, den Heiligen?«, hatte er erfreut gesagt, wahrend er sich in der Sakristei das Messgewand uberzog. »Das ist naturlich etwas anderes. Uberbringe ihm meine besten Wunsche. Und nimm die Pferde, mein Junge. Rede mit diesem heiligsamen Mann, und versuche, dir an ihm ein Vorbild zu nehmen.« Hulshout entband ihn sogar von der Messverpflichtung fur diesen Tag, falls Andreas es auf dem Ruckweg nicht mehr schaffte, die Stadttore vor dem Schlie?en zu erreichen.

Elisabeth hatte unbedingt mitkommen wollen. »Es ist gut, wenn ich eine Weile aus dem Haus bin«, hatte sie gesagt. »Je langer die Reise dauert, desto besser. Und in Begleitung eines Geistlichen darf ich wohl fort.«

Nun naherten sie sich zu Pferd der Ehrenpforte. Es war ein kalter Fruhlingstag. Der Wind hatte auf Ost gedreht und trieb wei?e Schafchenwolken uber den stahlblauen Himmel. Am Tor wollten sie absteigen, doch die Torwachter winkten sie durch. Ein geistliches Gewand bewirkte so manches.

Unmittelbar hinter dem Tor begannen die Felder und Wiesen. Die Weite der Acker, der fernen Waldstucke, des endlosen Himmels beangstigte Andreas. Auf Reisen uber Land, unter dem freien Himmel, schien es kaum mehr Begrenzungen zu geben. In der Stadt wusste man, wohin man sich zu wenden hatte; man kannte die Wege, die Gefahren und die Annehmlichkeiten. Doch hier drau?en lag eine andere Welt.

In der Ferne sah er eine aufgeregte Schafherde und einen gro?en schwarzen Hund, der die Tiere zusammentrieb.

Er schaute hinuber zu Elisabeth, die schweigend neben ihm ritt und tief in Gedanken versunken schien. Sie hatte die dunnen Lippen zusammengekniffen, sodass sie nur mehr einen Strich bildeten. Andreas kannte Elisabeth

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