dass wir auf dem Holzweg sind«, brummte er und kratzte sich am Kinn.
Heynrici schuttelte den Kopf. »Nicht unbedingt. Ich glaube jedoch nicht, dass der Mord – wenn es denn wirklich einer war – etwas mit Ludwigs Rolle bei der starren Haltung des Kolner Rates im Englandstreit zu tun hat. Es gibt da noch eine andere Moglichkeit.« Er verstummte und schien in sich hineinzuhoren. Dann umspielte ein feines Lacheln seine Lippen. Inzwischen wurde es drau?en bereits dunkel; die Schatten in dem kleinen, buchervollen Zimmer verdichteten sich. Andreas und Elisabeth schauten ihn erwartungsvoll an und ruhrten sich nicht.
Der alte Mann fuhr fort: »Es ist noch nicht lange her, da war Ludwig hier bei mir. Er begleitete seinen Kutscher, der ein Fass Moselwein als Spende nach Melaten brachte. Ludwig hat nie viel Aufhebens von seinen vielfaltigen Spenden gemacht, doch er hat geholfen, wo er konnte. Sonst war er immer frohlich, aber an jenem Tag wirkte er betrubt. Ich fragte ihn, warum er so schweigsam sei, doch er wollte mir den Grund dafur nicht nennen. Er war kurz vorher wohlbehalten von einer recht gefahrlichen Englandreise zuruckgekehrt und hatte wieder einmal gute Geschafte gemacht, wie er mir sagte, aber Freude daruber wollte bei ihm nicht aufkommen. Er deutete lediglich an, dass er in London Dinge erfahren habe, die ihn entsetzten. Moglicherweise im Stalhof, der dortigen Vertretung der hansischen Kaufleute.«
»Habt Ihr eine Ahnung, worum es sich dabei handeln konnte?«, fragte Elisabeth.
»Nein, er wollte mich nicht ins Vertrauen ziehen. Es muss etwas Schreckliches gewesen sein, denn so hatte ich ihn noch nie gesehen. Vielleicht hatte er sich vorgenommen, mit mir daruber zu sprechen, es dann aber doch nicht getan. Ihr seid doch seine Schwester, Elisabeth Bonenbergerin. Ist Euch nichts an ihm aufgefallen?«
Elisabeth wurde rot. »Ich hatte ihn seit seiner Englandfahrt nicht mehr gesehen. Er und mein Gemahl standen nicht auf gutem Fu? miteinander, sodass unsere Besuche leider nur selten waren. Ich konnte blo? einmal nach der Messe in Sankt Kolumba mit ihm reden, und da machte er auf mich einen gehetzten Eindruck. Wenige Tage spater war er tot.« Sie barg den Kopf in den Handen.
»Ich wei? nicht, was ihm in England widerfahren ist, aber vielleicht hat es etwas mit seinem Tod zu tun«, sagte Heynrici nachdenklich. »Ich hatte ihn zum Reden notigen wollen. Leider ist es mir nicht gelungen. Das werde ich mir nie verzeihen. Vielleicht hatte ich ihn retten konnen. Manchmal verfolgt mich sein verangstigter Blick bis in den Schlaf.«
Andreas schaute aus dem Fenster der Herberge von Melaten. Es war zu spat fur die Ruckreise nach Koln geworden. Er und Elisabeth hatten zwei kleine Zimmer erhalten, denn das Gasthaus war vollig leer. Sonst wurden die Kammern mit mehreren Gasten belegt. Ein wenig hatte Andreas gehofft, das ware auch an diesem Tag so gewesen. Andreas hatte gern ein Gemach mit Elisabeth geteilt, wie er sich selbst eingestehen musste. Er spurte, dass sein Gesicht rot wurde. Seine Hande zitterten. Als Geistlicher durfte er keine fleischlichen Regungen haben; er hatte seinen reinen Korper Gott geweiht. Aber warum hatte Gott dem Menschen den Geschlechtstrieb mitgegeben, wenn er etwas so Schlechtes war, wie es die Gelehrten zu beweisen suchten?
Andreas’ sundige Gedanken wurden abgelenkt, als er plotzlich einen Schatten neben der Kirche in Richtung der Siechenhauser huschen sah. Ganz kurz nur beschien der Mond die nachtliche Gestalt. Ein wei?er Bart blitzte auf.
Was machte Heynrici so spat noch dort drau?en?
Wenige Augenblicke spater horte Andreas einen schrecklichen Schrei, der in ein grassliches Gurgeln uberging. Es horte sich an, als werde einem der armen Siechen eines seiner verfaulenden Glieder bei lebendigem Leibe herausgerissen. Andreas schlug das Herz bis zum Halse. Er lauschte angestrengt, aber nun war wieder alles still. Totenstill.
ZEHN
Heinrich Bonenberg warf ihr von der Seite her merkwurdige Blicke zu, doch er naherte sich ihr nicht. Elisabeth hatte ihm gesagt, sie sei immer noch unrein. Sie hatte keine Ahnung, welche Ausrede sie in einer Woche benutzen sollte, vor allem, weil sie ihrem Gatten dann kaum mehr aus dem Weg gehen konnte.
Sie wurde enger denn je an ihn gekettet sein, denn sie wollte mit ihm nach London reisen.
Heinrich musste etliche Fasser Wein nach England bringen und von dort Tuche holen, die er mit hohen Gewinnen in Koln zu verau?ern hoffte. Er hatte sich einen Platz auf dem Schiff des Kolner Handelsherrn Hermann Rinck erkauft, das in zwei Wochen von Antwerpen aus nach London in See stechen wurde. Also war Eile angebracht.
Heinrich stand im Hof des Bonenberg-Hauses und uberprufte die Anzahl der Fasser auf den Wagen, die erst kurz zuvor vom Rheinhafen ausgeladen worden waren. Er nahm hauptsachlich Rheinwein mit, den er vor kurzem noch von einem Winzer geliefert bekommen hatte, der die Fasser eigentlich fur den eigenen Gebrauch hatte lagern wollen, doch Bonenberg hatte ihm einen so guten Preis gemacht, dass der Mann nicht hatte ablehnen konnen. Es war ein gro?es Risiko fur Heinrich, denn wenn er im Stalhof auf seinen Fassern sitzen blieb, war er ruiniert.
Gleichzeitig hatte Bonenberg dem Winzer schon die nachste Ernte vollstandig abgekauft und auch dafur eine gro?e Summe Geldes bezahlt. Kein Wunder, dass er nun nervos war und das Verladen der Fasser personlich beaufsichtigte. Wenn auch nur eines zerschellte oder auslief, konnte das seinen Untergang bedeuten.
Er lief wie ein tollwutiger Hund zwischen Wagen umher, prufte nochmals die Fasser und zahlte sie immer wieder durch.
Elisabeth schaute ihm zu und versuchte sich ein Lacheln zu verkneifen.
»Funf Fasser fehlen!«, schrie er plotzlich und rannte noch einmal los, um die Anzahl zu uberprufen.
Es blieb dabei.
»Frantzens Georg ist mit seinem Fuhrwerk an der Salzpforte aufgehalten worden. Der Weinakzisemeister wollte den Wein probieren und danach die Steuer festsetzen, wahrend er uns andere durchgelassen hat«, rief einer der Kutscher vom Bock aus.
»Was fallt diesem Verruckten ein!«, erboste sich Heinrich. »Wir mussen aufbrechen, wenn wir das Schiff in Antwerpen erreichen wollen.«
Da ertonte Hufgetrappel von der Rheingasse her, und endlich bog auch der letzte Wagen durch die gro?e Einfahrt in den Hof ein. Rasch uberprufte Heinrich die Ladung und war endlich zufrieden. Sie sa?en auf. Elisabeth winkte kurz ihren Magden zu, die sich im Hof versammelt hatten, und verlie? das Bonenberg’sche Anwesen zum ersten Mal seit ihrer Eheschlie?ung fur eine wirklich lange Zeit. Sie sehnte sich nach dem Neuen – und nach der Wahrheit uber den Tod ihres Bruders.
Laut rumpelten die Fuhrwerke durch die Rheingasse, vorbei an Sankt Martin mit seinen machtigen Turmen und der gewaltigen Apsis, durch kleine Stra?en voller Menschen und Karren, durch stille Gassen, in denen nur Hunde und Ganse vor den niedrigen Fachwerkhausern umherstreiften, bis die Karawane die Minoritenstra?e erreicht hatte. Elisabeth sah den Turm und den Kran von Sankt Kolumba und dachte an Andreas.
Auf der Breiten Stra?e kamen sie schneller voran, alle machten dem Kaufmannszug Platz. Elisabeth lie? die Blicke schweifen. Uberall stachen die Kirchturme in den Himmel, als wollten sie ihn durchlochern. Vereinzelte Rauchfahnen stiegen aus hohen Kaminen auf und wirkten wie gespenstische wei?e Schatten der Glockenturme. In der Ferne wurde die gro?e Ehrenpforte, das westliche Stadttor, sichtbar. Schnell hatten sie es erreicht. Die Torwachter kannten Heinrich Bonenberg gut und lie?en ihn rasch durch.
Als Elisabeth die freien Felder und Wiesen sah, erinnerte sie sich an den Ausflug nach Melaten. Als sie am Morgen nach Hause zuruckgekommen war, hatte ihr Mann sie zwar streng angeschaut, aber nichts uber ihre nachtliche Abwesenheit gesagt. Er hatte ihr einfach mitgeteilt, dass er noch heute nach London aufbrechen werde, da gestern Abend sein jungst eingekaufter Wein im Hafen eingetroffen sei. Elisabeth hatte sofort gefragt, ob sie mitkommen durfe, und Heinrich war sehr erstaunt uber ihre Bitte gewesen, denn sie hatte ihn noch nie auf einer Reise begleitet, aber schlie?lich hatte er zugestimmt. Sie war voller Zuversicht. In London musste sie etwas erfahren. Der alte Heynrici hatte gesagt, Ludwig habe dort Schreckliches gehort. Elisabeth wollte jede Gelegenheit wahrnehmen. Sie hatte zwar keine Zeit mehr gehabt, Andreas von ihrer Abreise in Kenntnis zu setzen, aber die Magde und Diener wurden ihm schon von ihrer Englandfahrt erzahlen.
Hoffentlich hatte sie richtig gehandelt. Nun war sie auf ihren Gatten angewiesen. Sie war ihm ausgeliefert. Und das fur die ungewisse Aussicht auf einige Informationen in einem fremden Land, unter fremden Menschen.
Als sie an Melaten vorbeifuhren, durchlief Elisabeth ein Schauer. Sie erinnerte sich gern an den alten, heiligen