seit Jahren, doch nie war er so haufig und nah mit ihr zusammen gewesen wie in den letzten Tagen. Etwas Seltsames umwebte sie. Hulshouts dunkle Andeutungen gingen ihm nicht aus dem Kopf. Sie war eine mutige und entschlossene Frau, doch kannte er sie wirklich?
Andreas fragte sich, was sie am Ende ihrer Reise erwarten wurde. Sie waren auf dem Weg nach Melaten, dem Leprosenhaus vor den Toren der Stadt. Ratsherr Krantz hatte ihnen gesagt, Ulrich Heynrici habe sich nach seinem Ruckzug aus der Politik und dem Kaufmannsdasein im Spital von Melaten eingekauft, um den Kranken zu helfen und den Kusterdienst in der dortigen Kapelle zu versehen. Er habe der Welt den Rucken gekehrt und im stetigen Blick auf Gott ein neues Leben begonnen.
Was mochte einen reichen Patrizier dazu bringen, taglich sein Leben im Kampf gegen die Krankheit aufs Spiel zu setzen und allem Wohlstand zu entsagen?
Nach einer Stunde stummen Reitens hatten sie die hohe Bruchsteinmauer erreicht, die das Leprosenhaus, die Nebengebaude, die Kirche und die Garten von der Stra?e und der Welt abschirmte. Am Tor sa?en sie ab. Wehmutig schaute Andreas dem weiteren Verlauf der Stra?e nach. Irgendwo dort hinten, in weiter Ferne, musste die alte Kaiserstadt Aachen liegen und dahinter Paris, Poitiers, Santiago de Compostela. Viel lieber ware er bis ans Ende der Welt geritten, als diesen Ort des Schreckens und des Todes zu betreten. Er sah Elisabeth an, die ihm aufmunternd zulachelte.
Am Tor meldeten sie sich und fragten nach Ulrich Heynrici. Es wurde ihnen sofort aufgeschlossen. Im Innenhof durften sie ihre Reittiere anbinden; dann ging der Pfortner mit ihnen an der Kirche und dem Wirtshaus vorbei, dessen Eingang an der Stra?e nach Aachen lag und das den Reisenden vorbehalten war. Die Siechen durften es bei der Androhung des Verlustes ihrer Pfrunde nicht betreten. Eine dieser armen Kreaturen kam trotzdem uber den Hof gehumpelt, hielt das, was einmal ihre Hande gewesen waren, vor und bettelte um Geld. Der Pfortner scheuchte die zerlumpte Gestalt fort und bekreuzigte sich. Der Aussatzige taumelte zuruck zu den kleinen Unterkunften, die im rechten Winkel zur Kirche standen. Andreas schuttelte sich, doch Elisabeth hatte Bedauern in den Augen. Der Pfortner sah es, zuckte die Schultern und sagte: »Niemand kann diesen armen Geschopfen helfen; es gibt kein Heilmittel gegen den Aussatz. Man kann sie nur von den Gesunden absondern. Sie durfen nichts beruhren, was auch Gesunde beruhren konnten. Wenn sie ein Gelander anfassen, mussen sie Handschuhe tragen. Wenn sie mit einem Gesunden sprechen, mussen sie aus dem Wind gehen, weil man nicht wei?, ob der Wind moglicherweise die Krankheit ubertragt. Und naturlich durfen sie nicht in flie?endem Wasser baden oder sich waschen. Dennoch werden ihrer immer mehr. Keiner wagt sich nahe an sie heran, auch der Arzt nicht. Ich geb zu, auch ich hab Angst vor ihnen. Hab schlie?lich Frau und Kinder. Nur einer hilft ihnen, unser Kuster.«
Er klopfte an die Tur des kleinen Hauschens hinter der Kirche, das wie das Wirtshaus an die Mauer gebaut war. »Unser frommer Herr Ulrich bekommt viel Besuch aus der Stadt«, sagte der Pfortner und zwinkerte stolz. »Er ist wirklich ein Heiliger. Hat man so etwas schon einmal gesehen? Vermacht sein ganzes Geld dem Siechenhaus und legt selbst noch Hand an. Er ist besser als all die gelehrten Pfaffen zusammen.« Er warf Andreas einen scheelen Blick zu, drehte sich um und ging.
Die Tur wurde geoffnet, und im Rahmen stand eine Gestalt, bei deren Anblick Andreas nur die Bezeichnung »alttestamentarisch« einfiel. Der Mann war etwa siebzig Jahre alt, sehr gro?, stammig, ohne dick zu sein, und hatte einen schlohwei?en Haarkranz, der sein kahles Haupt wie ein Heiligenschein umgab, sowie einen langen, ebenso wei?en Bart. Seine Augen waren sehr dunkel, entweder braun oder schwarz. Er sah die junge Frau und den Geistlichen fragend an und lachelte warmherzig.
Es war Elisabeth, die den Grund ihres Besuches erklarte. Nun wurde auch der Blick des beeindruckenden Mannes heller. »Ich habe von dieser schrecklichen Sache gehort«, sagte er mit einer volltonenden Bassstimme. »Kommt doch bitte herein. Entschuldigt, dass es nicht sehr herrschaftlich ist, doch wie Ihr bestimmt schon erfahren habt, hange ich nicht mehr an weltlichen Gutern.« Er geleitete die beiden in eine enge Stube, die mit Buchern gefullt war. Andreas glaubte sich in die Universitat versetzt. Noch nie hatte er so viele Bucher in einem privaten Haushalt gesehen. Heynrici musste seinen erstaunten Blick bemerkt haben und erklarte: »Ein wenig von meinen Schatzen habe ich mitgebracht. Aber es sind geistige Guter.
Ich ziehe meinen Frieden und mein Heil aus ihnen – und aus Gott.« Er bot Elisabeth einen bequemen Stuhl mit zwei dicken Polsterkissen an und ruckte Andreas einen Dreifu? zurecht. Er selbst setzte sich im Schneidersitz auf den blank gescheuerten Holzfu?boden.
Die Kammer war nicht gro?. Schatten klebten uberall. Das einzige Fenster steckte neben der Tur und ma? kaum eine Elle im Quadrat. Eine Stiege im hinteren Teil fuhrte in den ersten Stock, wahrscheinlich zum Schlafraum des seltsamen Kusters.
Heynrici sagte: »Verzeiht, dass ich Euch weder Wein noch Bier anbieten kann. Ich trinke keinen Alkohol und habe daher auch keinen im Hause. Wollt Ihr einen Becher Wasser haben?«
Andreas und Elisabeth lehnten ab. Sie sahen sich erstaunt um und wahnten sich in einer anderen Welt. Der Kaplan sagte schlie?lich: »Ihr habt den Ruf eines Heiligen, Heynrici. Darf ich fragen, wieso Ihr Euch hierher zuruckgezogen habt?«
»Seid Ihr hergekommen, um mich das zu fragen?«, meinte er. Seine dunklen Augen glitzerten belustigt. »Ich will Euch aber gern antworten. Nachdem ich meinen Sitz im Rat der Stadt aufgegeben hatte, starb meine liebe Frau, und ich hatte keine Freude mehr am Leben. Ich wollte etwas tun, das den Armsten der Armen zugute kommt. Daher habe ich all mein Geld Melaten vermacht und bin hergezogen, um mich um die Aussatzigen zu kummern, vor denen jedermann eine so gro?e Furcht hat. Ich versehe Kusterdienste, mache Besorgungen fur die Kranken und helfe bei der Lepraschau, wenn sich die Arzte nicht bereit erklaren, die Aussatzigen anzufassen.«
»Ihr setzt dabei Euer Leben aufs Spiel«, bemerkte Elisabeth beeindruckt. Andreas sah, wie sie an den Lippen des alten Mannes hing. Nichts anderes schien fur sie mehr zu existieren. Er hatte sie ganz in seinen Bann gezogen.
»Ja, aber ich bin schon alt und habe mein Leben gelebt. Was soll mir denn noch passieren?«, sagte Heynrici langsam. »Endlich kann ich einmal etwas tun, was den Menschen unmittelbar zugute kommt.«
Andreas gefiel nicht, wie Elisabeth den alten Mann ansah. Er rausperte sich und fragte: »Was habt Ihr uber den Tod Ludwig Leyendeckers gehort?«
Heynrici richtete den Blick auf ihn. Er zog die wei?en, buschigen Brauen zusammen. »Eine furchtbare Sache. Stimmt es, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben soll?«
»Es geht das Gerucht um, aber wir glauben es nicht«, sagte Andreas und stutzte die Hande auf die Knie.
»Es ist gut, dass Ihr es nicht glaubt«, pflichtete Heynrici ihm bei. »Dass Ludwig Leyendecker ein Bundnis mit dem Widersacher Christi eingegangen sein soll, ist lacherlich. Das hatte er gar nicht notig. Er war ein gewitzter Kaufmann. Immer, wenn es gunstige Ernten an Mosel, Rhein oder Nahe gab, war er zur Stelle. Er kannte den Wein besser als jeder andere. Manchmal glaube ich, er brauchte nur die Fasser anzuschauen, um zu wissen, wie viel Fruchtzucker der Wein hat und von welchen Lagen er kam. Warum sollte so jemand, der uberdies noch ausgezeichnete Kontakte vor allem nach London hatte, den Teufel zu Hilfe rufen?«
»Ganz meine Meinung«, stimmte Elisabeth eifrig zu. »Es muss um etwas vollig anderes gegangen sein.« Sie berichtete ihm alles, was Andreas und sie bisher herausgefunden hatten. Heynrici horte schweigend zu, nickte manchmal, sagte aber nichts. Schlie?lich sagte Elisabeth: »Aus diesen Grunden glauben wir an einen Mord. Konnte er etwas mit der Verhansung Kolns zu tun haben?«
»Mit dem Hinauswurf Kolns aus dem hansischen Bund?« Heynrici fuhr sich mit der langgliedrigen Hand durch den Bart. »Schwer zu sagen.«
»Wir haben gehort, dass er Feinde im Rat hatte«, warf Andreas ein.
Heynrici erhob sich so muhelos aus dem Schneidersitz, als wurde er von einem hohen Stuhl aufstehen, und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. »Jedermann im Rat hat Feinde, das ist ganz naturlich. Es stimmt, dass Leyendecker damals entschlossen fur den Englandhandel gestimmt hat – genau wie ich ubrigens. Wir waren der Meinung, dass wir diese alte Tradition nicht der Hanse opfern durfen. Naturlich gab es auch Gegenstimmen. Sie kamen vor allem von jenen Kaufleuten, denen die Verhansung schwere Schaden zugefugt hatte, was dann ja auch geschehen ist.«
»Konnte einer der Verlierer meinen Bruder umgebracht haben?«, fragte Elisabeth, die jeder Bewegung Heynricis mit den Augen folgte.
Der alte Mann blieb stehen und sah sie nachdenklich an. »Ja, das ware moglich. Aber warum hat dieser Mord dann erst vier Jahre nach der Verhansung stattgefunden?«
Andreas nickte. Das war ein gutes Argument, das ihm noch nicht eingefallen war. »Das wurde bedeuten,