Mann, aber der Schrei in der Nacht, der sie geweckt hatte, war schrecklich gewesen.

Und am anderen Morgen hatte sie gehort, dass einer der Siechen in der Nacht gestorben war.

Andreas kehrte aufgeregt nach Sankt Kolumba zuruck. Er eilte in das Pfarrhaus, hastete die Treppe so schnell hinauf, dass die alte Grete nur den Kopf schuttelte, und polterte in Johannes Hulshouts Studierstube, ohne anzuklopfen. »Ich muss sofort…« Er verstummte.

Der Pastor sa? an seinem Tisch; vor ihm stand ein Mann mit wallenden Haaren und spitzer Nase und redete mit hoher Stimme auf den Geistlichen ein. Als dieser den Eindringling bemerkte, gebot er dem Mann mit einer barschen Handbewegung zu schweigen und fuhr Andreas an: »Siehst du nicht, dass ich mitten in einem wichtigen Gesprach bin? Warte bitte drau?en.«

»Aber… aber ich muss sofort abreisen.«

Hulshout zog die Augenbrauen zusammen. »Abreisen? Wohin?«

»Nach London.«

»Warum?«

»Weil… weil Elisabeth… die Bonenbergerin mit ihrem Mann dorthin…«, stammelte Andreas.

»Es stunde dir gut an, wenn du dich weniger um Weiberrocke und Tote und dafur mehr um unsere Pfarrkinder kummern wurdest«, gab Hulshout kalt zuruck.

»Aber… aber ich muss sie doch begleiten.«

»Ach ja? Glaubst du, sie kann nicht auf sich selbst aufpassen? Ich kenne die Bonenbergerin mindestens so gut wie du, mein Sohn. Sie braucht keinen Wachhund. Ist sie immer noch hinter dem angeblichen Morder ihres Bruders her?«

Andreas nickte.

»Dann lass sie in Ruhe. Du wirst hier gebraucht, denn ich muss mit dem ehrwurdigen Meister des Maleramtes in seine Werkstatt gehen. Unser Hochaltar ist beinahe fertig. Der Meister will noch letzte Pinselstriche an meinem Bildnis ausfuhren, das er darauf verewigen will.« Er stand auf und lachelte dem Mann mit der spitzen Nase dankbar zu. »Wei?t du, ich werde beim Tempelgang Mariens vor den Stufen knien. Und der Evangelist Johannes wird den Rock eines Universitatslehrers tragen, genau wie ich. Und er wird vor seinen Schulern sitzen, wie ich es tue. Unser Meister ist wirklich ein Genie.«

Der Gelobte verneigte sich leicht, und die geckenhafte Feder an seinem Hut tanzte dabei hektisch auf und nieder.

»Ich werde vor morgen fruh nicht zuruck sein. Du musst also alle Messen lesen. Vikar Peters von Sankt Laurentius wird dich ausnahmsweise unterstutzen, doch auf deine Anwesenheit kann Sankt Kolumba nicht verzichten. Gefahrde nicht dein Seelenheil und das deiner Anbefohlenen.« Mit diesen Worten verlie? Hulshout mit dem Meister das Zimmer und lie? Andreas allein zuruck.

Enttauscht ging Andreas in die Kirche und betete vor dem Marienaltar. Warum hatte Elisabeth ihm nichts von ihrer Abreise gesagt? Vertraute sie ihm nicht? Warum hatte er es durch die Magd erfahren mussen? Er fuhlte sich verletzt. Doch noch mehr verwirrte ihn die Existenz dieses Gefuhls. Er gestand sich ein, dass er sich in Elisabeths Gegenwart sehr wohl fuhlte.

Zu wohl fur einen Geistlichen.

Und nun bangte er um sie. Die Reise nach London war nicht ungefahrlich. Er betete ein Ave Maria fur sie.

ELF

Die vier schwer mit Weinfassern beladenen Wagen kamen auf den holperigen Stra?en langsamer voran, als Heinrich Bonenberg geplant hatte. Immer wieder trieb er seine Kutscher zur Eile an, denn wenn er das Rinck’sche Schiff in Antwerpen verpasste, kame das einer Katastrophe gleich. Er hatte den Stauraum bereits bezahlt und wusste nicht, wann sich die nachste Moglichkeit fur eine Uberfahrt bieten wurde. Kolnische Kaufleute waren in den gro?en Kontorstadten wie Brugge und Antwerpen nicht mehr gern gesehen, seit Koln wegen seines Englandhandels vor vier Jahren aus der Hanse ausgeschlossen worden war. Nur der machtige Kolner Kaufmann und Ratsherr Rinck war durch seine hervorragenden Kontakte noch in der Lage, von Antwerpen aus London anzusteuern.

Elisabeth sa? auf dem Wagen, der hinter jenem ihres Gemahls fuhr. Sie sah, wie Heinrich sich immer wieder umdrehte, ungeduldige Gesten machte und bisweilen selbst die Peitsche schwang. Sie hoffte genau wie er, dass die Kolonne das Schiff noch rechtzeitig erreichte, doch sie hatte andere Grunde. Ihr war nur wichtig, nach London zu kommen und dort Licht in das Dunkel um den Tod ihres Bruders zu bringen.

Die Kolonne fuhr noch, als die Dunkelheit sich schon uber das weite Land zwischen Koln und Aachen gelegt hatte. Fackeln steckten in seitlichen Halterungen an den Wagen, doch die zuckenden Flammenzungen vermochten die Finsternis kaum zu durchdringen. Das mahlende Rumpeln der Rader, das gleichma?ige Hufgetrappel und das gelegentliche Schnauben der erschopften Pferde wirkten einschlafernd auf Elisabeth. Immer wieder sank ihr der Kopf auf die Brust. Sie hoffte, dass sie bald zu einer Herberge kamen, wo die erschopften Menschen und Tiere wenigstens eine kurze Ruhepause einlegen konnten. Doch Heinrich war wie besessen. Elisabeth sah, wie sein dunkler Umriss auf dem vorderen Wagen unruhig hin und her schwankte. Immer wieder knallte dort vorn die Peitsche.

Etwa auf halber Strecke zwischen Aachen und Koln erbarmte sich Heinrich schlie?lich und lie? die Kolonne bei einem kleinen, windschiefen Gasthaus an der zerfurchten Stra?e anhalten. Nur Elisabeth und einem der Kutscher wurde erlaubt, das Innere zu betreten und sich dort auf der harten Ofenbank ein Lager fur die Nacht zu suchen. Heinrich selbst und die anderen Kutscher und Knechte mussten bei der wertvollen Wagenladung bleiben. Ihnen wurde ein wenig Suppe und Bier hinausgereicht, und es wurden Wachen eingeteilt, damit sich niemand an dem Wein zu schaffen machen konnte.

Elisabeth war es recht so. Wenigstens brauchte sie nun nicht die Gegenwart ihres Gemahls zu ertragen. Sie nahm sich eine der harten Decken, die ihnen der murrische Wirt gereicht hatte, und wickelte sich darin ein. So vieles ging ihr durch den Kopf, dass sie trotz ihrer Mudigkeit nicht einschlafen konnte. Sie lauschte den gleichma?igen Atemzugen der wenigen Reisenden, die so weit wie moglich voneinander entfernt in der Schankstube lagen, und uberlegte, wie sie nach ihrer Ankunft in London vorgehen sollte. Heynrici hatte gesagt, ihr Bruder habe vermutlich im Stalhof etwas Schlimmes entdeckt. Also lag es nahe, dort mit den Nachforschungen zu beginnen.

Unruhig walzte sie sich auf der harten Holzbank hin und her. Was war, wenn sie in ein Wespennest stach? Wenn sie sich zufallig an jene Manner wandte, die Ludwigs Feinde gewesen waren? Wenn sie seinen Mordern gegenuberstand, ohne es zu wissen? Nein, der Stalhof war fur sie zu gefahrlich. Zunachst durfte dort niemand den wahren Grund ihrer Anwesenheit erfahren. Sie brauchte unbedingt einen Vertrauten. Aber sie kannte niemanden in London. Sie sprach nicht einmal Englisch. War diese ganze Reise blo? eine unuberlegte Narretei? Doch ihr blieb nichts anderes ubrig. Sie hatte ihren Bruder so sehr geliebt, dass sie alles tun wurde, um seinen Morder zu finden.

Am Morgen erwachte sie erst, als Albert, der Kutscher, sie bei der Schulter packte. Sie riss die Augen auf und blickte in das bartige Gesicht des alten Mannes, der offenbar eine bessere Nacht hinter sich hatte als sie selbst. »Kommt, Bonenbergerin, Euer Gemahl wartet schon auf Euch. Er ist sehr unleidlich.«

Elisabeth stand auf und rieb sich die steif gewordenen Glieder. Noch ein wenig benommen setzte sie sich auf den Wagen. Sofort rollte die Kolonne los. Heinrich hatte seiner Frau nur einen bosen Blick zugeworfen und sie keines Wortes gewurdigt. Wahrscheinlich wurde er mich liebend gern zuruckschicken, dachte sie. Oder mich wilden Tieren zum Fra? vorwerfen. Sie kicherte leise.

Wahrend der ereignislosen Fahrt kehrten ihre Gedanken zu der Frage zuruck, wie sie in London vorgehen sollte. Sie brauchte wirklich unbedingt einen Verbundeten. Lange steckten ihre Gedanken in einer Sackgasse. Sie dachte daran, was Ludwig ihr von der gro?en Stadt an der Themse erzahlt hatte.

Eine Erinnerung durchfuhr sie. Es war ein Name, den Ludwig ihr einige Male genannt hatte. Der Name eines englischen Tuche- und Weinhandlers, mit dem er viele Geschafte getatigt hatte: Edwyn Palmer.

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