verblufft.
Barbara schaute sich kurz um. »Hier sind zu viele Leute. Kommt mit ins Haus.« Sie trat auf die Glockengasse, nahm das Hauptportal des Leyendecker-Hauses, gab in der Diele einem Diener das Wachstafelchen und den Griffel und geleitete ihren Gast in das elegante Wohnzimmer im Erdgeschoss.
Hier lagen keine Gewebe auf dem Boden, der noch nicht ausgekehrt worden war; feiner, hellgelber Sand bedeckte in einer dunnen Schicht die Dielen. Doch ansonsten glich diese gute Stube der im Bonenberger Haus beinahe wie ein Ei dem anderen. Stuhle, ein Stollenschrank, Truhen. Zeichen des Reichtums und der Macht.
Barbara Leyendecker setzte sich in geziemender Entfernung von Andreas auf einen der mit Kissen gepolsterten Dreifu?e und legte die Hande in den Scho?. Von Sankt Kolumba drohnte die vierte Stunde heruber und erinnerte Andreas an die Seelenmesse, die er noch zu lesen hatte, sowie an den Unterricht, den er dem Familiaris erteilen musste, der mit im Pastorat wohnte und auf die Universitat vorbereitet wurde. Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, endlich mehr uber den Tod seines Freundes zu erfahren, und dem, zu seinen wichtigeren Verpflichtungen Gott gegenuber zuruckkehren zu konnen.
»Ich begreife es nicht«, sagte Andreas in dem Versuch, das Gesprach rasch auf den Punkt zu bringen. »Warum hat sich Ludwig umgebracht?« Er wagte noch nicht, Barbara von seinen Schlussfolgerungen zu berichten; erst wollte er horen, was sie zu sagen hatte.
»Weil er im Bund mit dem Teufel stand«, antwortete Barbara mit einem Tonfall, der von gro?em Ekel zeugte. »Bestimmt habt Ihr schon davon gehort.«
»In der Tat«, gab Andreas zu. »Glaubt Ihr daran?«
»Woran? An den Teufel? Jeder gute Christenmensch muss an ihn glauben«, meinte Barbara und schenkte ihm einen gluhenden Blick. »Ich glaube, dass Ludwig mit dem Bosen im Bunde war. Ich habe es schon immer geahnt.«
»Warum?«, wollte Andreas wissen und zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
»Er war so seltsam geworden. Und sein Erfolg war geradezu ungeheuerlich.«
»Konnte daran nicht auch die Verhansung Kolns schuld gewesen sein?«, gab Andreas zu bedenken. »Was dem einen das Geschaft zerstort, ist manchmal der Segen des anderen.«
»Dessen bedarf man nicht, wenn man einen Pakt mit dem Verfuhrer der Menschheit eingegangen ist«, erwiderte Barbara und sah Andreas herausfordernd an.
»Habt Ihr diesen Pakt mit eigenen Augen gesehen?«, fragte der junge Kaplan.
»Ja.«
»Ist Euch nichts daran aufgefallen?«
»Was sollte mir daran aufgefallen sein? Ich empfand gro?en Abscheu vor ihm, denn schlie?lich kommt er aus der Holle.«
»Seid Ihr des Lateinischen machtig?« Andreas beugte sich erwartungsvoll vor, wahrend er auf die Antwort wartete.
»Ein wenig, denn ich bin im Beginenkonvent ›Zum Hollander‹ in der Romergasse erzogen worden. Schwester Mildredis hat mir nicht nur Nahen und Sticken beigebracht.« Barbara warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin ihr unendlich dankbar, denn was sollte ich ohne ihre Ausbildung nun tun?«
Andreas machte sich eine geistige Notiz: Barbara Leyendecker kann ein wenig Latein – vielleicht ausreichend, um einfache Texte zu lesen, aber bestimmt nicht genug, um sie selbst fehlerfrei zu verfassen. Zumindest schienen ihr die vielen Fehler in dem angeblichen Teufelspakt nicht aufgefallen zu sein. »Habt Ihr den ganzen Text des Paktes gelesen?«, fragte er und bemuhte sich, recht beilaufig zu klingen.
»Ja, und ich habe durchaus verstanden, was ich gelesen habe«, gab sie mit einer gewissen Scharfe in der Stimme zuruck. »Ich habe genug begriffen, um mich innerlich endgultig von meinem Gemahl zu losen. Er hat es verdient, in der Holle zu schmoren.« Als sie Andreas’ gequalten Blick sah, stand sie auf. »Ich wei?, dass Ihr gro?e Stucke auf Ludwig gehalten habt, aber vielleicht wird Euch das, was ich Euch gleich zeigen werde, die Augen offnen.« Sie verlie? die Stube.
Andreas hoffte, dass sie bald zuruckkehrte. Er wollte Gott nicht warten lassen. Schon schlug Sankt Kolumba von fern die halbe Stunde.
Die Tur flog knarrend auf, Barbara Leyendecker kam mit schnellem Schritt herein, eine Saule aus schwarzer Starre und Entschlossenheit, und hielt Andreas ein kleines, ubel riechendes Buch unter die Nase. Andreas nahm es in die Hand und schlug die Titelseite auf.
»De Potestate super spiritibus malignis« stand da in handgeschriebenen Lettern; die Angabe des Autors und des Jahres, in dem das Oktavbandchen geschrieben worden war, fehlten. »Die Macht uber die bosen Geister«, murmelte Andreas. »Was fur ein bezeichnender Titel. Wo habt Ihr es gefunden?«
»In Ludwigs Truhe, ganz unten, zwischen der Leibwasche.«
Andreas blatterte das Buch kurz durch. Es enthielt Beschworungen, Zauberdiagramme und Anleitungen fur schreckliche, blasphemische Rituale. Angewidert warf er das Buch von sich. Es fiel vor Barbaras Fu?en auf den Boden und schien ganz kurz uber der dunnen Sandschicht zu schweben, als wolle es die Beruhrung mit den reinen Kornern vermeiden. Dann landete es auf dem Boden, und eine kleine Staubwolke stieg auf.
»Ist Euch das Beweis genug?«, fragte Barbara mit einem triumphierenden Lacheln. »Es tut mir Leid, das Bild zerstoren zu mussen, das Ihr von Ludwig hattet. Auch mich hat er getauscht. Unter seiner freundlichen Oberflache gluhte ein boser Geist.«
Andreas schuttelte den Kopf. Nein, das konnte er einfach nicht glauben. Er hatte Ludwig so gut gekannt – den lebenslustigen, frohlichen, hilfsbereiten, verlasslichen Ludwig. Konnte ein Mensch wirklich zwei einander vollig entgegengesetzte Seiten haben und sie uberdies vor seinen Mitmenschen so erfolgreich verbergen? Andreas starrte auf das auf dem Boden liegende Buch, als konne es ihn jederzeit anspringen. Es war in der Tat unumsto?liche Wirklichkeit. Was hatte Ludwig darin gesucht?
Die Messe rief ihn, doch er wollte noch einen letzten Versuch machen. »Konntet Ihr mir den Ort seines Selbstmordes zeigen?«, fragte er die Witwe Leyendecker.
Sie lachelte ihn an, wirkte nun ganz sanft und stand auf. »Wenn Ihr es wunscht…«
Oben unter dem Dach, durch dessen Ziegelritzen der Wind pfiff, zeigte sie Andreas den Balken, an dem sich Ludwig erhangt hatte. »Ich habe hier nichts verandert; ich bin seitdem nicht mehr in diesem Raum gewesen«, sagte sie und deutete auf das abgeschnittene Seil und den Hocker, der darunter lag. Er war offenbar umgefallen, als Ludwig in der Schlinge gezappelt hatte.
Andreas betrachtete nachdenklich das im Luftzug baumelnde Seil, die am Boden liegende Schlinge und den kurzbeinigen Hocker. Dann schaute er hoch zum Dachbalken, um den das Seil geschlungen war.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Regen setzte ein und prasselte auf das Schieferdach; es war ein trommelndes, forderndes Gerausch.
Noch fordernder waren die Glockenschlage von Sankt Kolumba. Er kam zu spat zur Messe.
Beim funften und letzten Schlag wusste er, was ihm das Gefuhl gro?en Unbehagens verursachte.
Ludwig war klein gewesen; er hatte immer Muhe gehabt, bei den aufeinander gestapelten Fassern an das dritte zu reichen, doch der Abstand zwischen dem stehenden Hocker und der Schlinge des Seils musste sogar mehr als drei Fasser betragen haben.
Ludwig hatte, wenn er auf dem Hocker stand, gar nicht an die Schlinge herangereicht.
Also konnte sich Ludwig keinesfalls selbst umgebracht haben.
FUNF
Gott hatte ihm in Gestalt des Pastors Hulshout eine Strafpredigt gehalten, als er zu spat zur Feier der Seelenmesse am Marienaltar kam, die eine ewige Stiftung der Witwe Hennecke war. Andreas war nicht bei der Sache gewesen, auch nicht, als er die Wandlung vollzog und Gott sich in Gestalt von Brot und Wein in seiner unmittelbaren Nahe befand. Er schaute hoch zu der neuen Empore und den beiden schon eingewolbten ostlichen Jochen, dann warf er einen kurzen Blick hinter sich auf die Geruste im Dammerlicht einiger Kerzen und wurde sich angesichts dieser gewaltigen Baustelle seiner eigenen Unzulanglichkeit nur allzu deutlich bewusst. Die Kirche und er hatten so vieles gemeinsam: Beide waren sie im Werden begriffen, beide standen sie fest auf Gott gegrundet,