»Ich wei? es nicht«, gab Hulshout mit einem Schulterzucken zuruck.
»Wo konnte er sich befinden?«
»Warum interessiert dich das?«
»Ludwig war mein bester Freund.«
»Und Elisabeth ist deine beste Freundin?«
»Das ist eine unzutreffende Unterstellung!«, wehrte sich Andreas und sprang vom Stuhl auf. Das hupfende Licht der Kerze warf tiefe Schatten auf das Gesicht des alten Pastors. Manchmal wirkte er wie ein sanfter, aus unendlicher Ferne herbeigewehter Engel, ein anderes Mal wie ein Teufel aus der Unterwelt. Andreas stellte sich vor Hulshout, stutzte sich mit den Handen auf der Tischplatte ab und wollte seinen Worten gerade noch etwas hinzufugen.
»Ma?ige dich, mein Sohn«, unterbrach ihn der alte Geistliche. »Dein Wohl liegt mir am Herzen. Du bist fur mich wie ein Sohn, und ich sehe dich nicht gern in der Nahe dieser Weibsperson.«
»Warum nicht? Sie ist die Schwester meines besten Freundes.«
»Es ist etwas an ihr, das mir nicht gefallt. Vielleicht gibt es Dinge, die du nicht wei?t.«
»Konntet Ihr Euch etwas deutlicher ausdrucken?«
»Es gibt Personen, deren Umgang sich fur Manner unseres Standes nicht geziemt«, gab Hulshout so bedachtig zuruck, als prufe er zuerst jedes Wort auf der Zunge, bevor er es aussprach.
»Wollt Ihr damit andeuten, dass Elisabeth eine liederliche Person ist? Sie ist verheiratet und eine ehrbare Frau!« Andreas stellte sich aufrecht und ballte die Hande zu Fausten. Diese Beleidigung traf ihn tiefer, als er erwartet hatte.
Hulshout hob den Kopf und lachelte matt. »Es ist schon, dass du sie so heftig verteidigst. Aber du solltest keine voreiligen Schlusse ziehen. Gott verbirgt uns in seiner gro?en Weisheit vieles, was uns nur verwirren wurde, wenn wir es wussten.«
»Wer hat die Untersuchung uber Ludwigs angebliche Teufelsbundnerschaft gefuhrt?«, beharrte Andreas und ging zum Fenster. Drau?en war es bereits stockfinster geworden. Man hatte glauben konnen, die Welt hinter den dunnen Glasscheiben sei verschwunden. Die Stadt sorgte nicht fur die Beleuchtung der Stra?en, denn sie wollte die gottgewollte Ordnung von Licht und Dunkelheit nicht durchbrechen. Nur druben, am Geburhaus, stand in einer Nische eine Madonna, vor der eine windgeschutzte Kerze brannte – ein winziger Fleck, der die Dunkelheit eher verstarkte als durchbrach.
Es dauerte eine Weile, bis Hulshout auf Andreas’ Frage antwortete. Er schien sich in tiefen Gedanken verloren zu haben. »Die Untersuchung? Der Erzbischof naturlich, wie immer in Fallen von Ketzerei, Hexerei und Teufelsbundnerei.«
»Wenn Ludwig exkommuniziert wurde, hat der Erzbischof also den Tatbestand des Paktes mit dem Teufel bejaht. Das bedeutet, dass das Schriftstuck, mit dem sich Ludwig dem Bosen verschrieben hat, als Beweismittel gedient hat. Man wird es daher aufbewahrt und archiviert haben. Ich muss es sehen. Und auch den Abschiedsbrief.« Andreas ging in der Studierstube auf und ab. Er warf einen Blick auf das kleine Bucherregal an der Wand und das eichene Kreuz daruber. Es war, als bewache Christus das armselige Wissen unter ihm.
»Das wird nicht leicht sein«, meinte Hulshout und drehte sich nach seinem unruhigen Kaplan um. »Was erwartest du von einer Untersuchung dieser Schriftstucke? Glaubst du nicht, dass die gelehrten Doctores des Erzbischofs ihre ganze Weisheit darauf angewandt haben? Was willst du herausfinden, das sie nicht schon herausgefunden haben?«
»Sie haben nach Beweisen fur Ludwigs Schuld gesucht. Ich hingegen suche nach Beweisen fur seine Unschuld. Fakten muss man deuten; das habt Ihr mir schon so oft gesagt. Und manchmal kann man sie auf ganz verschiedene Weise deuten. Ihr seid doch Professor an der Universitat. Konnt Ihr mir kein Schreiben ausstellen, das mich berechtigt, Forschungen uber Teufelspakte in den Archiven des Kolner Erzbischofs zu betreiben?«
Hulshout lachelte zuerst schwach, dann immer breiter. »Du bist ein zaher Kerl, Andreas. Wenn du dich einmal verbissen hast, gibst du deine Beute nicht mehr frei.« Er drehte sich um, zog ein leeres Pergamentblatt aus einem Stapel auf dem Tisch, tauchte den langen Gansefederkiel in das kleine Fasschen vor sich und begann zu schreiben. Andreas horte mit Vergnugen, wie der Kiel uber das Pergament kratzte.
Nachdem Hulshout das Geschriebene geloscht hatte, faltete er den Bogen, versah ihn mit seinem Siegel und ubergab ihn Andreas. »Das musste dir einige Turen offnen«, murmelte er. »Und nun lass mich allein. Ich habe noch zu arbeiten.«
Andreas verlie? die Studierstube des Geistlichen. Wie anders hatte er sich seine Heimkehr vorgestellt. Er betrat sein Schlafzimmer, tastete in der Dunkelheit nach dem Ollicht auf dem kleinen Tisch, zundete es an und setzte sich auf das hohe Bett mit der harten Strohmatratze. Drau?en war Sankt Kolumba nicht mehr vom schwarzen Himmel zu unterscheiden. Er drehte den versiegelten Brief in der Hand. Gleich morgen wurde er den Palast des Erzbischofs aufsuchen, in dem sich auch die Archive befanden.
Schon fruh am nachsten Morgen machte sich Andreas mit seinem Empfehlungsschreiben auf den Weg. Er ging die Minoritenstra?e hinunter, vorbei an der langen Klostermauer der Minderbruder, dann weiter durch die Gro?e Budengasse, die ihren Namen von dem in dieser Stra?e liegenden Brauhaus hatte. Der malzige Geruch hing schwer in der Luft. Andreas bog links in die Stra?e »Unter Goldschmied« ab und warf fluchtige Blicke auf die Laden und Werkstatten der Goldschmiede, aus denen leises Gehammer und Geklingele drang. Frauen in edlen Kleidern und mit perlenbestickten Hauben standen auf ihren holzernen Trippen vor den Buden und begutachteten in der Sonne blinkenden Schmuck.
Bald stand Andreas im Domhof. Der gewaltige Umriss des Domes war wie ein steinerner Traum von Schwere, die zum Himmel strebt, doch es war ein nicht ausgetraumter Traum. Schon lange war eines der Wahrzeichen Kolns der gro?e Baukran auf der unvollendeten Kathedrale. An der Sudseite des Domhofs, hinter den Buden, Standen und Banken, wo Messer, Handschuhe, Topferwaren und Devotionalien feilgeboten wurden, erhob sich der erzbischofliche Palast, dem man noch die Brandkatastrophe ansah, auch wenn sie schon beinahe siebzig Jahre zurucklag. Notdurftig waren die Spuren ubertuncht und ausgebessert worden, doch uber dem Gebaude schwebte ein Hauch von Verfall. Ruprecht von der Pfalz, der seit 1463 Kolner Erzbischof war, hatte im vergangenen Jahr Neuss unter seine Herrschaft zu bringen versucht, weswegen die Stande erst vor kurzem den Dechanten von Sankt Gereon, den Landgrafen Hermann von Hessen, zum Stiftsverweser eingesetzt hatten. Bei dieser Unruhe war naturlich an die Erneuerung des Palastes nicht zu denken.
Andreas trat vor die Wachen am Eingang des Palastes und zeigte das Siegel auf dem Pergament vor. Tatsachlich wurde er ohne weitere Nachfragen durchgelassen. Im kuhlen Innern des weitlaufigen Bauwerks erkundigte er sich bei einem Schreiber nach dem Verwalter der Archive und wurde in den Keller geschickt. Nach einigem Suchen fand er schlie?lich in einem breiten, uberwolbten Gang einen kleinen Tisch mit einem au?erst durren, gro?en Mann dahinter. Dieser sah ihn mit stechenden Augen an. Andreas hielt ihm das Pergament unter die spitze Nase. Mit schrecklich umstandlichen Bewegungen kramte der Durre eine Brille unter seinem langen, verstaubten Wams hervor und setzte sie sich auf die Nase. Mit einer Hand hielt er die Glaser fest, mit der anderen erbrach er geschickt das Siegel und las den Text. Nachdem er die Worte so lange studiert hatte, dass Andreas schon befurchtete, er konne gar nicht lesen, schaute er endlich auf und sagte mit dunner Stimme: »Ihr wollt die Teufelspakte sehen? Unmoglich.«
»Warum?«, fragte Andreas entmutigt. »Ich bin im Auftrag der hohen und ehrwurdigen Universitat hier. Meine Forschungen sind au?erst wichtig.«
»Das glaube ich Euch gern, aber ich sagte schon, dass es nicht geht.« Der Durre reichte ihm das Sendschreiben zuruck. »Ihr habt mir noch keinen Grund dafur genannt«, beharrte Andreas. »Benotigt Ihr etwa ein Schreiben des Kanzlers personlich?«
»Darum geht es nicht. Es ist einfach nicht moglich, weil wir in unseren Akten zwar einige Teufelspakte haben, es daruber aber kein Verzeichnis gibt. Ihr wurdet Jahre brauchen, um sie zu finden.« Seine hohe Stimme hallte in dem alten Gewolbe schrill wider. Auf Andreas wirkte er wie eine Spinne, die in ihrem Netz sa? und jeden aussaugte, der ihr zu nahe kam.
»Ich werde schon etwas finden; verlasst Euch darauf. Ich habe gehort, dass erst vor wenigen Wochen ein solcher Fall zur Verhandlung vor den erzbischoflichen Stuhl gekommen ist. Mit diesem mochte ich gern beginnen.«
»Was nutzt Euch ein einziger Fall, wenn Ihr vergleichende Forschungen anstellen wollt?«, fragte der Durre mit einem schmierigen Lacheln. Er rieb sich die Hande; Staub schien von ihnen aufzusteigen.