Elisabeth reichte es. Sie sprang auf und rief: »Es ist ja wichtig und richtig, dass das hohe und ehrenwerte Gericht den Uberfall auf den armen Andreas Bergheim verhandelt, doch dieser Mann ist der mutma?liche Morder meines Bruders! Das sollte als Erstes verhandelt werden.« Sie setzte sich wieder.
»Wollt Ihr mir vorschreiben, wie ich meine Verhandlung zu fuhren habe?«, fragte der Richter in vaterlichem Tonfall, dem seine blitzenden, grauen Augen Hohn sprachen. An den Angeklagten gewandt meinte er: »Kommen wir zuruck zum Uberfall auf Andreas Bergheim. Habt Ihr allein gehandelt, oder hattet Ihr einen Mittater?«
Elisabeth ware vor Wut beinahe wieder aufgesprungen. Sie spurte plotzlich Andreas’ Hand an ihrem Arm und drehte ihm den Kopf zu. Er lachelte beschwichtigend. Die Uhr im Rathausturm schlug gerade die zehnte Stunde. Elisabeth dachte daran, wie bei jedem Schlag der Platzjabbeck dort oben die Zunge herausstreckte, und stellte sich vor, der Richter stehe vor der Spottgestalt. Ihr Arger wich, und sie erwiderte das Lacheln des Priesters.
Als die Uhr Mittag schlug, schien sich der Richter sein Bild von dem Uberfall auf Andreas gemacht zu haben. Er ordnete an, dass auch Johannes Dulcken gefangen genommen werden musse, und fragte dann endlich Elisabeth: »Was wolltet Ihr mit Eurem Einwurf vorhin sagen? Wen soll dieser Englander umgebracht haben?«
»Meinen Bruder!« Elisabeth war erneut aufgesprungen. »Er hatte herausgefunden, dass dieser ein Verhaltnis mit seiner Frau hatte, und von der Jahzornigkeit und Unberechenbarkeit dieses Mannes konntet Ihr Euch ja soeben ein Bild machen.«
»So, konnte ich das?«, meinte der Richter und verlangte vom Schreiber die Akten. Er las sie langsam, wobei sich seine Lippen bewegten, uber die aber kein Laut drang. »Ich habe ein anderes Bild von diesem Angeklagten. War er zur Zeit der Tat uberhaupt in Koln?«
»Der Wirt des Hauses Schonefrau sagte, Edwyn Palmer habe sich zwei Tage vor dem Tod Ludwig Leyendeckers bei ihm einquartiert«, mischte sich Andreas ein.
»Sehr gut, nun ubernimmt die Geistlichkeit schon die Aufgaben des Gerichts«, sagte der Richter und warf Andreas einen kalten Blick zu. »Wollt Ihr nicht der Einfachheit halber auch gleich das Urteil sprechen? Ewige Verdammnis und zuvor eine schone kleine Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen? Damit hat Euresgleichen doch Erfahrung!«
Andreas schluckte. »Es liegt mir fern, die Wurde des Gerichts in Zweifel zu ziehen, doch es ware moglich, dass dieser englische Kaufmann des Mordes an einem ehrbaren Kolner Burger schuldig ist.«
»Habt Ihr diesen… diesen…, ich habe seinen Namen schon wieder vergessen. Habt Ihr ihn umgebracht?«, wollte der Richter von Palmer wissen.
Der Angeklagte senkte den Kopf und sagte laut: »Nein.«
»Na also. Damit ware das erledigt.«
»Das nennt Ihr Recht sprechen?«, erboste sich Elisabeth. »Ihr habt ihn ja nicht einmal richtig befragt!«
»Richtig befragt?« Der Richter erhob sich langsam und wandte sich ihr zu. »Ihr wollt, dass ich ihn richtig befrage? Das kann ich tun. Ich kann ihn foltern lassen, bis die Sonne durch ihn scheint, wenn Euch das Genuss bereiten sollte. Wie ware es, wenn Ihr seine Schreie hort und wisst, dass Ihr dafur verantwortlich seid? Nun gut, es geschehe. Das peinliche Verhor wird morgen Abend unter dem Turm beginnen. Die Sitzung ist beendet.«
Edwyn Palmer hob den Kopf und schaute seine Frau an. Seine Augen waren schreckgeweitet. »Das durft Ihr nicht!«, schrie er. »Ich nicht stehe unter Eurem Gesetz!«
Der Richter kummerte sich nicht um Palmers Rechtsauffassung und setzte den genauen Zeitpunkt fur die Folter fest.
In einem Gesprach mit dem Richter kurz vor dem peinlichen Verhor hatte Andreas erreicht, dass er bei der Folter Edwyn Palmers zugegen sein durfte, denn er kannte schlie?lich die Einzelheiten im Fall Ludwig Leyendecker. Auch Elisabeth hatte dabei sein wollen, aber der Richter hatte es ihr verwehrt.
Palmer war an einen Stuhl gefesselt, und der Nachrichter erklarte ihm gerade die Wirkungsweise der Beinschrauben, die ihm langsam die Waden zerquetschen wurden, und der Daumenschrauben, die ein Gleiches mit seinen Handen machen wurden.
»Leugnet Ihr, Ludwig Leyendecker getotet zu haben?«, fragte der Richter mit seiner falschen, vaterlichen Stimme.
»Jawohl«, antwortete Palmer fest. Schwei? stand auf seiner Stirn. »Ihr durft mich nicht foltern.«
»Wenn es um Mord geht, darf ich alles. Ich bin jetzt fur dich der liebe Gott, mein Sohn. Gleich wirst du reden. Nachrichter, ein paar Umdrehungen durften in diesem Fall reichen«, meinte der Richter zu seinem Untergebenen. Dieser zog die kleinen Schrauben der Handfessel an, die innen mit spitzen Nageln versehen war. Palmer schrie auf wie ein geschundener Hund. Blut quoll zwischen dem Metall hervor. Andreas wandte den Blick ab.
»Bleibst du bei deiner Aussage?«, fragte der Richter gutig und liebevoll.
»Ja!«
Weitere Umdrehungen entlockten dem Englander Schreie, die Andreas nie fur moglich gehalten hatte.
»Und jetzt?«, sauselte der Richter und rieb sich die fetten Hande.
»Ja! Nein! Ich… ich…«
»Was wolltest du sagen? Ich bin ganz Ohr.« Mit freundlicher Miene beugte sich der Richter dem englischen Kaufmann entgegen.
»Er war… schon tot.«
Andreas schoss herum. Sah Palmer an. Begriff nicht. »Schon tot?«, fragte er heiser. »Ihr wart bei Leyendecker?«
»Ja«, keuchte Palmer.
»Wie schade«, meinte der Richter. »Ihr Englander seid einfach verweichlicht. Wir haben doch gerade erst angefangen. Ich hatte deiner Freundin, die heute nicht hier sein kann, gern berichtet, dass du dich in unaussprechlichen Qualen gewunden hast. Wie ihr das wohl gefallen hatte?«
Andreas ware diesem Richter am liebsten an die Gurgel gesprungen. Wie gern hatte er ihn an der Stelle des Englanders gesehen – und wie gern hatte er selbst die Schrauben angezogen! »Was habt Ihr mit Leyendecker gemacht?«, fragte Andreas, um sich von seinen sundigen Gedanken abzulenken.
»Nichts«, keuchte Palmer und schaute entsetzt auf das Blut, das von seinen Fingern herabtropfte. »Ich wussten, dass er hat besprungen meine Anne. Ich wollte den Mann toten, ich gebe zu. Ich musste reisen nach Koln, war gute Gelegenheit. Bin nachts eingedrungen in das Haus, weil schwierig ist, an den Mann allein heranzukommen.« Er verstummte und schien wegen des Blutverlustes ohnmachtig zu werden. Sofort war der Nachrichter bei ihm und schlug ihm heftig ins Gesicht. Palmer kam wieder zu sich.
»Was ist geschehen, nachdem Ihr das Haus betreten hattet?«, fragte Andreas hastig.
»Ich habe mich verborgen in dem Keller, aber kam jemand, und war kein guter Ort dort. Ich hatte keinen Plan, nur immer den Mann gesehen, der mit mir so viele gute Geschafte gemacht, wie er liegt auf meiner Anne. Ja, ich wollte ihn umbringen. Aber nicht wusste, wie. Bin geschlichen durch die Haus, und dann habe gehort seltsame Gerausche von weit, weit oben. Laute Stimme, Poltern. Licht, wie von eine Kerze. Kam jemand herab die Treppe. Habe mich versteckt, als er gegangen ist an mir vorbei.«
»Wer?«, unterbrach ihn Andreas.
»Nicht habe gesehen. Vielleicht eine Mann, aber bin mir nicht sicher. Wollte schon ihn anfallen, weil ich geglaubt, es ist Ludwig. War seine Stimme, die laute, die ich gehort. Aber etwas an die Mann, die herunterging, war unheimlich. War so leise, wie wenn er schwebt. Nicht ganz auf der Erde ist. Wie eine Geist.« Palmer zitterte. Der Richter schaute ihn neugierig an; das Lacheln schien auf seinem Gesicht festgefroren zu sein.
»Und dann?«, wollte Andreas wissen. Er spurte, wie seine Handflachen vor Aufregung feucht wurden.
»Dann bin ich gegangen nach oben«, fuhr Palmer fort. »Ganz nach oben. Bis unter die Dach. Da habe ich ihn gesehen. Ludwig hatte sich erhangt an die Dachbalken.«
Andreas hatte den Atem angehalten. Er wischte sich die schwei?nassen Hande am Gewand ab. Sagte der Englander die Wahrheit? Wenn seine Aussage richtig war, wer war dann der geheimnisvolle Schatten auf der Treppe gewesen?
FUNFUNDZWANZIG
Andreas hatte erreicht, dass der Englander nach seiner Aussage nicht mehr gefoltert wurde. Doch der