Richter wollte ihn wegen seines Uberfalls auf den jungen Geistlichen weiterhin in Haft behalten. Edwyn Palmer schien von Johannes Dulcken, den er von fruheren Geschaften her kannte, zur Burgschaft fur die Ubernahme des Leyendecker’schen Handelshauses gebeten worden zu sein, hatte aber keine Ahnung, ob Dulcken moglicherweise etwas mit dem Mord an Ludwig zu tun hatte oder gar der Schatten war, den er die Treppe hatte herunterkommen sehen. Somit hatte sich Palmer als falsche Spur erwiesen, denn Andreas hielt seine Aussage fur wahr. Er teilte sie den beiden Frauen mit, die bereits neugierig und angstlich im Pastorat auf ihn gewartet hatten. Zuerst bezweifelte Anne die Worte ihres Mannes, doch es gab keinen Grund, ihnen zu misstrauen.
»Dann sind wir jetzt so klug wie zuvor«, meinte Elisabeth, wahrend sie in der Wohnstube im ersten Stock sa?en. Pfarrer Hulshout kam herein, blieb in der geoffneten Tur stehen und sagte scharf: »Andreas, es ist Zeit fur die Vesper. Ich bitte dich, Gott nicht zu vernachlassigen.« Mit einem Blick auf die beiden Frauen fugte er hinzu: »Und es tate jeder christlichen Seele gut, zur heiligen Kommunion zu gehen.« Er sah Elisabeth eingehend an. In seinem Blick lagen Abscheu und Angst. Dann verlie? er das Zimmer wieder.
Andreas seufzte, erhob sich und sagte: »Er hat Recht. Und es ware gut, wenn ihr beide mitkommt und unserem Herrn die Ehre erweist, damit Pfarrer Hulshout euch weiterhin unter seinem Dach duldet.« Die beiden Frauen sahen sich an und nickten.
Andreas Bergheim zelebrierte die Messe in der Marienkapelle, die wahrend der Umbauarbeiten notdurftig von der Baustelle abgetrennt war. Der machtige Handelsherr Johann Rinck hatte den Bau dieser Kapelle aus eigener Tasche bezahlt und gemeinsam mit der Kaufmannsfamilie Dass eine Messstiftung eingerichtet. So gedachte Andreas auch in dieser Messe der Stifter und betete fur ihr Seelenheil. Doch er war nicht ganz bei der Sache. Er leierte die lateinischen Gebete herunter, die in dem hohen Gewolbe einen hohlen Hall erzeugten, und dachte dabei uber den Tod seines Freundes nach. Hinter seinem Rucken horte er, wie sich die Gemeinde regte. Bei der kurzen Predigt, die er unvorbereitet halten musste, da er keine Zeit zu ihrer Ausarbeitung gehabt hatte, beschrankte er sich auf die kurze Darstellung einiger Hollenstrafen fur die verschiedenen Sunden, die den Menschen so lieb waren. Aber anstatt diese Strafen in den gluhendsten Farben auszumalen, fuhrte er sie auf, als seien sie nichts anderes als Posten in einer kaufmannischen Rechnung. Als er zum Selbstmord kam, stockte ihm die Stimme. Falls Ludwig tatsachlich Hand an sich gelegt hatte, war er verdammt; daran fuhrte kein Weg vorbei. Es war kein guter Stoff fur eine Predigt, doch das Evangelium nach Matthaus vom Endgericht gebot dieses Thema: »Weichet von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das dem Teufel bereitet ist und seinen Engeln.« Andreas sah, wie Elisabeth betreten zu Boden schaute und Anne ihr schwesterlich den Arm um die Schulter legte. Elisabeth ruckte ein wenig von ihr ab, als furchte sie die korperliche Beruhrung. Schon oft hatte Andreas diese Verhaltensweise bei ihr bemerkt. Er verhaspelte sich in der Aufzahlung der Hollenstrafen, setzte erneut an, versprach sich abermals und beendete die Predigt unvermittelt. Dann trat er vor den Altar, hob die Hande und sprach die einleitenden Worte des Hochgebetes. Dabei war ihm, als beobachte ihn jemand.
Jemand, der sich nicht unter den Gemeindemitgliedern befand.
Langsam drehte er sich um. Gemurmel setzte ein. Er blickte in die erstaunten Gesichter seiner Pfarrkinder, die es nicht gewohnt waren, dass sich der Priester wahrend der Wandlung zu ihnen umdrehte. Er war zu langsam gewesen. Er sah nur noch einen Schatten.
Einen Schatten…
Der Umriss erinnerte ihn an Johannes Dulcken, doch im ungewissen Licht der Marienkapelle war die Gestalt nicht deutlich auszumachen. Sie verschwand nach drau?en. Andreas ware ihr am liebsten nachgegangen, doch er traute sich nicht, die Messe einfach zu unterbrechen. Pfarrer Hulshouts Geduld mit ihm ware dann bestimmt am Ende. Er versuchte, Elisabeth und Anne durch Nicken ein Zeichen zu geben. Dann drehte er sich wieder um. Er horte, wie sich hinter ihm jemand bewegte, und widerstand dem Drang, sich noch einmal umzuschauen.
Als er nach der Messe durch die Kapelle hinuber in die im Bau befindliche Kirche und die Sakristei ging, konnte er Elisabeth und Anne nirgendwo sehen. Offenbar hatten die beiden Frauen seinen Wink verstanden. Rasch zog er sich um, streifte den schwarzen Talar uber und hastete in das Pastoratsgebaude.
»Sind sie schon zuruck?«, fragte er Grete, die ihm offnete. Sie schuttelte den Kopf und sah ihn missmutig, ja beinahe feindselig an. Er trat von der Tur zuruck und warf einen Blick nach rechts und links die Bursgasse hinunter. Allmahlich sammelten sich Schatten zwischen den Giebelhausern; das Licht vor der Madonna am Geburhaus wurde starker, als wolle es die nahende Nacht ganz allein bekampfen. Wo waren die beiden Frauen? War es wirklich Dulcken, den er in der Kirche gesehen hatte? Waren sie ihm gefolgt? Wohin? Hatten sie ihn erreicht? Schwebten sie vielleicht gar in Gefahr? Andreas lief die Bursgasse bis zur Minoritenstra?e hinunter und folgte dieser einige Schritte in Richtung Rhein. Er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Er blieb stehen und biss sich vor Sorgen auf die Fingerknochel. Es waren nicht mehr viele Leute auf der Stra?e; ein abgerissener Junge trieb eine kleine Herde magerer Schweine die Minoritenstra?e hoch, einige Magde huschten auf hohen holzernen Trippen umher, weil sie sich die kostbaren Schuhe nicht durch den Schmutz der Stra?e ruinieren wollten. Sie trugen gro?e Eimer und waren sicherlich auf dem Weg zu den Brunnen der Stadt. Alles wirkte so normal, doch irgendwo im Labyrinth der Stra?en und Gassen ging etwas vor sich. Irgendwo befanden sich Elisabeth und Anne auf der Suche nach dem schattenhaften Morder.
Was war, wenn der Morder wirklich nur ein Schatten war? Ein Schatten aus der Unterwelt? Wenn es stimmte, dass Ludwig Verkehr mit den bosen Geistern gepflegt hatte?
Andreas blieb stehen. Die schwarzen, lichtlosen Hauser schwiegen ihn an. Finsternis schwebte auf leisen Flugeln herbei, nistete zwischen Kaminen, Giebeln, Hauswanden, der Abendstern gluhte uber der Kirche der Franziskaner auf. Manchmal stellte sich Andreas vor, die Sterne seien die Augen Gottes oder die Fenster zum Himmelreich. Er schaute nach oben. Immer mehr Lichtpunkte erschienen. Und hier unten wurde es immer dusterer.
»Andreas!«
Er drehte sich um. Und atmete auf. Es waren Elisabeth und Anne, die mit flatternden Rocken auf ihn zuliefen. Ihre hellen Kleider waren wie Sterne in der Nacht der Stadt. Au?er Atem stellte sich Elisabeth vor ihn. Ihre Wangen waren gerotet, ihre grunen Augen weit, mit gro?en Pupillen, die schwarz wie der Himmel waren.
»Es war Dulcken«, sagte sie. »Er hat mich erkannt und ist uns entwischt. Es tut mir so Leid.« Sie sah schuldbewusst drein.
»In welche Richtung ist er gelaufen?«, fragte Andreas. Ihm war wieder so leicht ums Herz. Elisabeth war nichts geschehen, Gott sei Dank! Am liebsten hatte er sie umarmt.
»In Richtung Norden, die Breite Stra?e hinunter, und dann war er plotzlich verschwunden, nachdem er bemerkt hatte, dass wir ihn verfolgen«, sagte Elisabeth. Anne nickte und fugte hinzu: »Es war, als habe er sich in Luft aufgelost.«
Andreas ging mit den beiden Frauen durch die zunehmende Dunkelheit zuruck in die Bursgasse. An der Tur des Pastorats verabschiedete er sich von ihnen. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte er und sah Elisabeth und Anne nach, wie sie hinter Grete im Innern des dunklen Hauses verschwanden.
Noch war die Breite Stra?e nicht mit der Kette versperrt. Andreas hastete uber die vielen Pfutzen, in denen sich der Mond spiegelte, der nun wie ein Wachter der nachtlichen Geheimnisse uber den Dachern stand.
Die erste Stra?e links, die erste rechts: die Glockengasse. Vielleicht hatte er Gluck. Es war eine von vielen Moglichkeiten, wohin Dulcken gefluchtet sein konnte.
Das prachtige Giebelhaus der Leyendecker’schen Familie fing in seinen Glasfenstern die Sterne ein, zeigte aber dem Mond den Rucken. Wie wei?e Augen schauten die Himmelslichter aus den Fenstern. Hinter einem von ihnen, im ersten Stock, brannte ein Licht; ansonsten war alles still in diesem hohen Steinhaus mit seinen Rundbogen, Blendsaulen und Giebeln.
Das Tor zum Hof war noch nicht geschlossen. Andreas schlupfte in die Schatten der Durchfahrt. Vor ihm erhob sich das Lagerhaus. Der schlichte, aber ausladende Backsteinbau war wie ein schwarzer Tierkorper. Das Gebaude wirkte auf Andreas wie etwas Totes. Die vielen Weinfasser darin waren eine flussige Erinnerung an den Herbst des vergangenen Jahres, das Blut der verflossenen Tage.
Er machte einige Schritte in den Hof. Ein matter Schimmer drang von der Stra?e her, Schritte hallten an den Hauswanden entlang. Ein Schatten folgte einem Leuchtmann, ein gro?erer Schatten glitt hinter den beiden an den Hausern entlang, als wache er uber die kleinen, zerbrechlichen Menschlein. Sie gingen am Durchgang voruber; die Nacht floss hinter ihnen her. Bald waren auch ihre Schritte verhallt.
Andreas zog den Kragen des Priesterrocks enger um den Hals. Es war kalt geworden in dieser Fruhlingsnacht. Er sah sich um. Was wollte er hier uberhaupt? Hatte er wirklich erwartet, Dulcken auf diesem Grund und Boden zu